Geschäft mit Gewaltvideos: Tod im Stream
Während eines Livestreams, in dem ein Franzose misshandelt und erniedrigt wurde, starb dieser. Das Geschäft mit Gewaltvideos ist jetzt im Fokus.
Mehrfach beklagt sich der sichtlich ausgezehrte und geschwächte 46-Jährige über Schmerzen und Erschöpfung, er sagt, er habe genug und wolle die Polizei oder Feuerwehr anrufen oder weggehen – was ihm aber von einem als Befehlsgeber auftretenden Mann mit dem Pseudonym Naruto nicht erlaubt wird.
Stattdessen wird JP gezwungen, vor der Kamera die benutzte Toilette zu putzen. Ein anderer Mann, Safine, reißt ihn aus dem Schlaf, indem er neben seinem Ohr Flöte spielt oder ein Motorrad anwirft. Und wieder und wieder erhält er – zur Belustigung und auf Wunsch der Zuschauenden – Ohrfeigen, wenn er beim Video-Game einen Fehler macht.
Alles soll laut den Beteiligten bloß ein „Spiel“ gewesen sein. Aber zuletzt wundert sich einer der neben ihm Anwesenden, dass sich der auf einer Matratze liegende JP nicht mehr bewegt. Er wirft eine Plastikwasserflasche auf ihn und konstatiert, dass er tot ist. Hier bricht der Livestream ab. Die Diskussion über dieses der Öffentlichkeit bisher weitgehend unbekannte Geschäft mit den im Internet zu kommerziellen Zwecken übertragenen Videos mit Gewalt und Erniedrigungsszenen beginnt erst jetzt.
Noch am Anfang steht mit ihren Ermittlungen die Justiz, obschon ihr das französische Onlinemagazin Mediapart bereits Ende 2024 Hinweise auf dieses Business mit unerträglichen Sadomaso-Streams auf der Plattform Kick geliefert hatte. Die Ursache des Tods des Streamers war noch unklar. Nach einer ersten Autopsie erklärten zwei Gerichtsmediziner, sie hätten nichts wie namentlich eine innere Blutung, Hirnerschütterung oder äußere Verletzungen gefunden, was auf eine für den Tod verantwortliche „Intervention von Dritten“ schließen lasse. Weitere Analysen seien aber notwendig.
„In einem Todesspiel gefangen“
Unabhängig davon, ob die Brutalitäten im Prinzip inszeniert und vom Opfer „freiwillig“ akzeptiert waren, stellt sich die Frage, ob die wiederholten Kränkungen, Quälereien und der Schlafentzug für den Tod des angeblich herzkranken JP verantwortlich waren. Die Staatsanwaltschaft erwägt die Einleitung einer Untersuchung wegen Tötung ohne Vorsatz gegen die neben JP am Streaming beteiligten Personen, die wie JP selber von den Einnahmen auf Kick lebten.
Dass er sein Einvernehmen zu den demütigenden Streams gegeben hat, bedeutet keineswegs, dass nicht dennoch ein Verstoß gegen das Gesetz vorliegen kann. Kurz vor seinem Tod soll JP seiner Mutter mitgeteilt haben, er sei „in einem Todesspiel gefangen“ und halte das nicht mehr aus.
Im Vergleich mit dem Konkurrenten Twitch teilt Kick einen größeren Teil der Einnahmen (laut Firmenangaben 95 Prozent statt 50 Prozent bei der Konkurrenz) mit den Produzenten der Livestreams und überwacht viel weniger, was da gestreamt wird. Kick wurde 2022 in Australien von den Internet-Unternehmern Ed Craven und Bijan Tehrani nach ihrem Ausschluss von Twitch gegründet. Seither zieht ihre Plattform skrupellose Streamer an, die von einer mangelnden Moderation profitieren wollen. Wie das Online-Casino und die Wetten, die Craven und Tehrani bereits zu Milliardären gemacht haben, findet die Verbreitung von Misshandlung und Gewalt ein Millionenpublikum zahlender Voyeure.
Tod und Folter als Faszination und Spektakel, das sei nichts Neues, das gab es schon im antiken Rom mit der Arena im Zirkus, bei den mittelalterlichen Hinrichtungen sowie vor 25 Jahren mit den „Jackass“-Videos und ohnehin habe die Gewalt in Film und Videospielen immer mehr Raum, meint auf FranceInfo Laurent Bègue-Shankland, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Grenoble. Erschreckend sei auf Kick die „Banalisierung der Gewalt, welche die Schwellen des Schockierenden modifiziert“. Zudem werde dies dank den Netzwerken zu einem „Massenphänomen“ mit einem erleichterten Zugang für daran Interessierte, die sich von jeglicher Verantwortung frei fühlten.
Business mit Sadomaso
Den zuständigen Behörden in Frankreich, die durchaus über gesetzliche Aufsichts- und Aktionsmittel verfügen, scheint dieses Geschäft mit Sadomaso-Szenen bisher entgangen zu sein. Die Vizeministerin für Digitalwirtschaft, Clara Chappaz, spricht von einem „absoluten Horror“ in einem „Far West“, gesteht aber, dass ihr Kick und diese Streamer vorher nicht bekannt gewesen seien. Bei der französischen Regulierungsbehörde Arcom, die trotz der Informationen des Onlinemagazins Mediapart vor acht Monaten nichts unternommen hatte, meldete sich schließlich im Kontext des Skandals aus Malta ein Rechtsvertreter von Kick.
Er versichert, Kick wolle mit den französischen Behörden „kooperieren“ und habe bis auf Weiteres alle Beteiligten am Livestream, der mit dem Tod von JP endete, gesperrt.
Die Regierung will sich nicht fahrlässige Unachtsamkeit vorwerfen lassen. Vizeministerin Chappaz kündigt mögliche „Sanktionen“ gegen Kick und andere Plattformen und eventuell sogar die „Schließung“ an, wenn diese ihre Pflicht zur Kontrolle der Inhalte nicht beachten sollten.
Die Behörde Arcom meinte allerdings in einem Kommentar, sie habe gar nicht die „Kompetenz“, eine Plattform mit Sitz in Australien zu „schließen“.
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