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97-Jährige über Arbeit mit Obdachlosen„Mir ist der Respekt wichtig“

Annemarie Streit kümmert sich in Hannover seit über 40 Jahren ehrenamtlich um Obdachlose. Die 97-Jährige denkt gar nicht daran, damit aufzuhören.

Annemarie Streit strickt gern und viel und verschenkt die Stulpen an obdachlose Menschen in Hannover Foto: Christian Wyrwa
Friederike Gräff
Interview von Friederike Gräff

taz: Frau Streit, wann hatten Sie zum ersten Mal Kontakt zu obdachlosen Menschen?

Annemarie Streit: Ich bin eigentlich jeden Tag in der Innenstadt gewesen, und in Hannover sitzt oder steht ja überall jemand. Da kommt man schnell in Berührung.

taz: Ich wäre unsicher, ob das für alle gilt, die Obdachlosen begegnen.

Streit: Ich spreche sie ja an. Aber ich würde niemanden ausfragen, was er vorher im Leben gemacht hat. Mir ist der Respekt wichtig. Ich habe die Leute immer gesiezt und nur geduzt, wenn sie das von sich aus wollten. Es gibt natürlich auch welche, die nicht angesprochen werden wollen, und das muss man respektieren.

Im Interview: Annemarie Streit

97, wurde als Tochter eines Betonfabrikanten in Hannover geboren. Nach einer Ausbildung als Krankenpflegerin hat sie bei einem Versicherungskonzern gearbeitet. Seit über 40 Jahren unterstützt Annemarie Streit Obdachlose, lange gemeinsam mit ihrem Bruder, versorgt sie mit sogenannten Survival-Taschen mit Waschsachen und Essen und bringt Kleider- und Essensspenden zum Kontaktladen Mecki in Hannover, einer Anlaufstelle für Obdachlose. Für ihr Engagement soll sie mit dem Verdienstkreuz am Bande ausgezeichnet werden.

taz: Ist dieses Interesse etwas, was Ihnen Ihre Eltern mitgegeben haben?

Streit: Mein Vater war ein sehr bekannter Mann, wir hatten einen riesengroßen Bekanntenkreis. Er war in der Zementindustrie tätig und der Betonpapst in Deutschland. Da gab es dann auch viele, mit denen man nicht gern zu tun hatte, die arrogant waren und Obdachlose als Kriminelle einstuften. Damit kann ich überhaupt nichts anfangen.

taz: Ich hänge noch an dem, was Sie gesagt haben, dass man natürlich in ein Gespräch mit den Obdachlosen käme. Wie war das bei Ihnen, in was für ein Gespräch sind Sie da gekommen?

Streit: Es hat damit angefangen, dass ich von Weihnachten noch einen Stollen hatte. Und da ich zur Kriegsgeneration gehöre, werfe ich absolut nichts weg. Also habe ich den Stollen mit in die Stadt genommen, und da saß jemand vor dem Kaufhaus und strickte, um sich ein bisschen Geld zu verdienen. Ich habe ihn gefragt, ob er Stollen mag, und dann sind wir ins Gespräch gekommen.

taz: Wie ging es von da aus weiter?

Streit: Ich habe ihn gefragt, was er gebrauchen kann. Er bekam von meinem Bruder eine Lederjacke, und so ging es weiter. Mein Bruder soll nicht unerwähnt dabei bleiben, er hat sich bis zu seinem Tod um Obdachlose gekümmert. Er war Frühaufsteher und schon immer vor mir in der Stadt. Da war es oft so, dass mir Obdachlose sagten: Dein Bruder ist schon da gewesen, du sollst um 11 Uhr da und da sein. Das war die Nachrichtenübertragung. Jedenfalls habe ich immer, wenn ich in der Stadt war, T-Shirts, Strümpfe, Tempotaschentücher, Sicherheitsnadeln, Verbandszeug und Essensmarken verteilt.

„Was soll ich da groß Theater machen?“, gibt sich Annemarie Streit bescheiden, dabei hat sie das Verdienstkreuz am Bande verdient Foto: Christian Wyrwa

taz: Warum berührt Sie gerade das Leben der Obdachlosen?

Streit: Ich gehöre zur Kriegsgeneration. Meine Mutter ist mit uns Kindern vier Mal aus Hannover raus geflüchtet. Und fragen Sie nicht, wie wir untergebracht waren. Wir waren neun Jahre ohne Vater, der war dann noch viereinhalb Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft, und der Hauptsitz der Zementindustrie war in Berlin, daher kam aber kein Geld. Da habe ich für ein Handarbeitsgeschäft gestrickt.

taz: Waren Sie beruflich auch im sozialen Bereich tätig?

Streit: Nein. Eigentlich hatte ich Medizin studieren wollen. Aber als wir dann nach dem Krieg wieder in unser Haus in Hannover wollten, mussten wir nachweisen, dass jemand von uns berufstätig war. Mein Vater war in Kriegsgefangenschaft, ich war 17, mein Bruder 16 und meine kleine Schwester gerade in die Schule gekommen. Also wurde ich Schwesternschülerin. Da habe ich ein bisschen Geld verdient, und meine Mutter war glücklich, dass ich dort was zu essen kriegte.

taz: Aber Sie sind nicht dabei geblieben.

Streit: Ich war auf einer Männerstation dritter Klasse. Das gab es damals noch. Also ein Dutzend Männer, und wie frivol die waren, konnte ich nicht lange aushalten. Dann habe ich eine Ausbildung als zahnärztliche Helferin gemacht und schließlich bin ich zum Gerling-Konzern gekommen. Das war damals die größte private Versicherung, und wir waren eine sehr große Geschäftsstelle. Da war ich dann 36 Jahre, und es herrschte ein sehr guter Ton. Aber das Leben ist ganz anders verlaufen, als das mal geplant war.

taz: War es mit Familie geplant?

Streit: Das muss man sachlich sehen. Im Krieg sind sehr viele Männer gerade der jungen Generation gestorben. Wir haben den Sachen nicht nachgetrauert, wir haben es so hingenommen, wie es eben ist. Und jedes Ding hat zwei Seiten. Ich glaube, dass mein Leben interessanter ist als das von vielen Ehepaaren. Ich habe einen riesigen Bekanntenkreis, ich war im Turnverein, ich habe Tennis gespielt, ich gehe in die Oper, ich habe Sinatra im Konzert gehört. Wenn er im Radio kommt, kann ich es auf Konzertlautstärke drehen, weil ich alleine lebe. Und ich bin überall hin gereist: nach Brasilien, Peru, Ecuador, Südafrika, Japan, China, auf die Krim, ganz viel nach Paris und ganz viel nach Italien. Ich habe Italienisch gelernt, weil ich mehr sagen können wollte als nur „Bitte Spaghetti“.

taz: Waren Sie ein Familienmensch?

Streit: Wir hatten eine sehr glückliche Kindheit, ich kann mich an keinen Streit meiner Eltern erinnern. Und wir haben immer zusammengehalten. Als mein Bruder krank wurde und wenig Geld hatte, habe ich dafür gesorgt, dass er genauso an die Riviera reisen konnte wie ich. Dafür haben wir natürlich auch ganz furchtbare Zeiten erlebt. Meine kleine Schwester hat mit 21 die Krebsdiagnose bekommen, es war Lymphdrüsentumor. Da wusste man von Anfang an, dass er tödlich ist. Nachdem auch meine Eltern verstorben waren, bekam mein Bruder Krebs.

taz: Sind Sie jetzt Einzelkämpferin?

Streit: Ich komme mit Menschen wunderbar zurecht. Aber in der Familie ist man eingebunden, da hat man sich an andere Zeiten und an Ordnung zu halten. Dann kommt die Schulzeit, die Ausbildung, da ist es genauso. Ich habe es richtig genossen, dass ich, seitdem ich in Rente bin, morgens aufwache und ganz spontan entscheiden kann, was ich mache. Ich will völlig unabhängig sein.

taz: Sind Sie manchen der obdachlosen Menschen besonders nahe gekommen?

Streit: Ich war dreimal Trauzeugin bei Verkäufern der Straßenzeitung gewesen. Und dann ist noch ein Jüngerer, der kam aus Westfalen und wurde immer von den anderen ein bisschen veräppelt. Wir telefonieren von Zeit zu Zeit, und wir gratulieren uns zum Geburtstag. Er hat keine Angehörigen in Hannover, aber er hat inzwischen eine Wohnung. Vor drei Jahren rief er mich an und war im Krankenhaus. Er sagte: „Du bist die einzige Person, mit der ich reden kann.“

taz: Das heißt, Ihr Leben wird reicher durch diese Kontakte.

Streit: Man erfährt wirklich ganz andere Sachen vom Leben. Ich kannte einen Mann, der sich unterm Stadtwald eine Höhle gebaut hat. Die hat er mit Teppich ausgelegt und wohnte darin. Ein Straßenzeitungsverkäufer wollte gern mal in die Oper und Puccini hören. Ich habe ihn eingekleidet, Karten gekauft, bin vorher mit ihm zum Essen gegangen. Und dann waren wir in der Oper.

taz: Sind Sie noch in Kontakt?

Streit: Er ist drogenabhängig geworden. Inzwischen lebt er nicht mehr. Das ist bei einigen so. In Hamburg war ich manchmal im Musical auf der Reeperbahn. Dort sitzen immer eine Menge junger Leute rum, und da habe ich nach einem jungen Mann gefragt, den ich gut kannte und der nach Hamburg gegangen war. Der war bereits drogenabhängig, aber ein ganz reizender Junge. Als ich fragte, ob sie ihn kennen, sagten sie: ja und nein. Er hatte sich gerade das Leben genommen … Bei den Drogen wusste mein Bruder viel besser Bescheid. Ich bin da nicht vertraut, ich hatte eher Kontakt mit denen, die etwas trinken. Ich persönlich habe absolut Verständnis dafür, es muss ja nicht im Übermaß sein. Wenn das die einzige Freude und Erwärmung am Tag ist, dann soll man ihnen das doch gönnen.

taz: Haben Sie das anders erlebt?

Streit: Ich war einmal bei einer Trauung von Obdachlosen, und die Braut wollte gerne einen Hut haben. Also habe ihr einen Hut gebracht und dann gemerkt, dass jemand hinter mir stand. Als ich mich umdrehte, stand da ein eleganter Herr um die fünfzig und sagt: „Mit diesen Leuten reden Sie?“ Da habe ich zu ihm gesagt: „Wie kommen Sie eigentlich zu der Annahme, dass ich jetzt mit Ihnen rede?“ – „Ja, die trinken doch Alkohol.“ – Ich sage: „Ich nehme an, dass Sie auch Alkohol trinken, aber wahrscheinlich von anderer Qualität.“

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taz: Gibt es Grenzen für Sie im Kontakt, die Sie nicht überschreiten wollen?

Streit: Es kam vor, dass Obdachlose bei uns zu Hause mal einen Kaffee getrunken haben, aber da war immer mein Bruder dabei. Es übernachtet hier niemand, ich bin ja allein im Haus, seitdem mein Bruder gestorben ist.

taz: Aber Ihre Arbeit für die Obdachlosen haben Sie fortgesetzt?

Streit: Ich bin dann erst einmal mit der Taxe zum Mecki-Laden gefahren. Das ist eine Anlaufstelle für Obdachlose, zu der ich schon seit 40 Jahren gehe. Mein Bruder und ich waren alle drei Wochen dort, um das Frühstück ein bisschen aufzustocken: 80 gekochte Eier, Obst, Tomaten und Süßigkeiten, damit es ein bisschen Abwechslung gibt. Später habe ich das mit einem jüngeren Paar gemacht, aber wir haben uns gestritten. Der Mann tat nämlich so, als ob ich jetzt nur noch die Oma bin, die auch mitkommen darf. Im Augenblick stricke ich vor allem.

taz: Was stricken Sie?

Streit: Früher habe ich Strümpfe gestrickt, aber dazu fehlt mir inzwischen die Fingerfertigkeit. Ich stricke jetzt Stulpen mit den Vereinsfarben von Hannover 96. Es gab schon mal Strümpfe damit, da war was los, es ist ja immerhin unser hannoverscher Verein. Ich will ja, dass die Leute sich auch ein bisschen freuen.

taz: Das eine ist ja die praktische Hilfe, das andere die zu einer strukturellen Veränderung, etwa was Arbeits- oder Wohnmöglichkeiten angeht. Ist das ein Feld, das Sie auch interessiert?

Streit: Da kann ich nicht weiterhelfen. Ich kann höchstens Ratschläge geben. Aber mein Bruder und ich sind immer bei ihnen im Krankenhaus gewesen, bei den Beerdigungen sowieso. Als eine Frau sich keinen Grabstein leisten konnte, hat mein Bruder ein Holzkreuz gemacht. Und dann haben wir sie auch bei Gericht vertreten.

taz: Obwohl Sie keine Juristen waren?

Streit: Dafür haben wir im Kopf vielleicht ein bisschen mehr. Im Sozialamt zum Beispiel bekamen sie einen monatlichen Scheck, und es war oft so, dass der Scheck nicht zeitgerecht zur Verfügung stand. Dann hat mein Bruder beim Amt angerufen, und die brauchten nur den Namen Streit zu hören, dann lag das Ding auf dem Schreibtisch. Ich denke dann: Dort sitzt ein Heini, der vielleicht zu Hause eine rabiate Frau hat und sich umso mehr in seinem Amt aufspielt. Solche Typen kann ich nun gar nicht ab.

taz: Wie gehen Sie mit den Grenzen Ihrer Hilfe um – dass es Menschen gibt, die Sie trotzdem verlieren?

Streit: Man kann leider vielen nicht helfen, manche wollen auch nicht. Viele, die ich lange kannte, sind gestorben. Einer von ihnen, Gertchen, der sehr nett war – er hat aber wohl auch mal einen um die Ecke gebracht –, hat mich ein paar Mal gefragt: „Warum kümmerst du dich eigentlich so viel um uns Straßenköter?“ Da habe ich gesagt: „Ich habe einfach das Bedürfnis.“

taz: Wird es Ihnen mühsam?

Streit: Ich habe reichlich Zeit. Und wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, sage ich immer: „Mir geht es gut.“ Erst mal interessiert das die anderen eigentlich gar nicht. Und dass ich so schlecht laufen kann und dass ich mit den Zähnen Probleme habe und dass ich schlechter sehen kann, ist ja alles altersbedingt. Wenn ich das bedenke, dann geht es mir gut. Was soll ich da groß Theater machen?

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