Forscherin zum Streit über Armutszahlen: „Das sind rund eine Million Menschen weniger“
Wissenschaftler*innen werfen dem Statistischen Bundesamt vor, die Armutsstatistik zu schönen. Die Mit-Initiatorin eines Protestbriefs vermutet politische Motive.
taz: Frau Stilling, in einem Protestbrief werfen Sie mit knapp 30 Armutsforscher*innen dem Statistischen Bundesamt „behördliche Willkür“ bei der Veröffentlichung von Armutszahlen vor. Warum?
Gwendolyn Stilling: Daten zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Bevölkerung werden auf zwei Wegen erhoben: Einmal mit einer ganz großen Stichprobe von fast 400.000 Haushalten, dem sogenannten Mikrozensus Kern, und dann noch mal mit einer deutlich kleineren Unterstichprobe, dem Mikrozensus SILC. Bisher wurde die Armutsquote für beide Erhebungen ausgewiesen. Jetzt hat das Statistische Bundesamt entschieden, sie für eine davon nicht mehr auszuweisen – ausgerechnet für diejenige, die eine deutlich höhere Armut ausweist. Das wirft Fragen auf.
taz: Worin unterscheiden sich die beiden Befragungen?
Stilling: Der Mikrozensus Kern, für den die bundesweite Armutsquote jetzt fehlt, erfasst beinahe ein Prozent der Bevölkerung. Er erlaubt eine viel tiefere Auswertung bis in einzelne Regionen hinein oder auch nach soziodemografischen Merkmalen. Die andere Stichprobe ist für den europaweiten Vergleich optimiert. Weil sie kleiner ist, bietet sie aber nur einen groben Überblick. Zur Armutsentwicklung im Ruhrgebiet oder zur Armutsquote von Kindern in Berlin bekommt man dort zum Beispiel keine Ergebnisse.
taz: Wie unterscheiden sich die Fragen? Das Bundesamt argumentiert, die Zahlen des Mikrozensus SILC seien zuverlässiger, weil das Einkommen darin „differenziert und spitz“ abgefragt werde.
Stilling: Das sind tatsächlich zwei unterschiedliche Methoden, die beide Stärken und Schwächen haben. Beim MZ-SILC wird differenziert nach Einkommensbestandteilen gefragt: Wie viel Erwerbseinkommen hatten Sie im letzten Jahr? Gab es auch noch Einkommen aus Kindergeld? Und andere Zuschüsse? Der Nachteil bei dieser Methode ist, dass immer rückwirkend für das Vorjahr gefragt wird und die Zahlen dadurch immer veraltet sind.
Das ist beim Mikrozensus Kern anders. Hier wird einfach nach dem Gesamteinkommen des Vormonats gefragt. Auch dort geht es darum, wie viel dem Haushalt insgesamt netto zur Verfügung stand, aber es wird nicht einzeln nachgehakt, ob man an alle Bestandteile gedacht hat. Dafür sind die Zahlen aktueller und gerade für die Armutsforschung ist das ein wichtiger Faktor. Das monatliche Durchschnittseinkommen des letzten Jahres sagt nichts darüber aus, ob jemand aktuell arm ist oder nicht.
taz: Dass die erste Methode die korrekteren Ergebnisse liefern soll, weil die Befragten keinen Teil ihres Einkommens vergessen, ist aber nachvollziehbar – und das müsste der Wissenschaft doch auch wichtig sein?
Stilling: Es ist in der Forschung schlicht umstritten, welche Methode wirklich zuverlässiger ist. Man kann das so sehen. Ich persönlich könnte mich in einer Befragung aber eher daran erinnern, was ich im letzten Monat insgesamt zur Verfügung hatte, als über verschiedene Kategorien verteilt im Vorjahr.
Gwendolyn K. Stilling verantwortete lange die Öffentlichkeitsarbeit des Paritätische Wohlfahrtsverband und ist heute selbstständige Kommunikationsberaterin. Den Protestbrief an das Statistische Bundesamt hat sie mit Armutsforscher*innen wie Christoph Butterwegge initiiert.
taz: Abgesehen von Aktualität und regionalen Details: Welche Probleme verursacht die neue Veröffentlichungspraxis noch?
Stilling: Dafür müssen wir etwas tiefer in die Methodik gehen. Die Befragungsdaten gibt es wie gesagt immer noch für beide Erhebungen. Für den Mikrozensus Kern wird aber das mittlere Einkommen nicht mehr auf Bundesebene angegeben. Weil die Armutsquote von diesem Medianeinkommen abhängt, kann also auch sie nicht mehr bundesweit berechnet werden. Es fehlt sozusagen der Zollstock, mit dem man Vergleiche zwischen den Bundesländern anstellen kann.
Stattdessen hat jedes Bundesland seinen eigenen Zollstock und das ist ein gravierender Unterschied. Bremen zum Beispiel hatte 2023 gemessen am mittleren Einkommen des Bundes eine Armutsquote von 28,8 Prozent, aber gemessen am mittleren Einkommen der Bremer nur 19,7 Prozent. Natürlich haben beide Varianten eine Berechtigung. Es kommt immer auf das Erkenntnisinteresse an und wir sagen ja nicht, wir wollen nur das eine. Aber speziell, wenn es darum geht, Sozialpolitik evidenzbasiert zu gestalten, braucht es bundesweite Vergleichbarkeit.
taz: Ein Gegenargument des Bundesamts ist, dass man nicht unterschiedliche Zahlen zu ein und demselben Sachverhalt in die Welt setzen möchte.
Stilling: Das ist nicht nachvollziehbar. Es ist in der Wissenschaft gang und gäbe, dass unterschiedliche Quellen und dann eben auch unterschiedliche Ergebnisse existieren. In der Gesamtschau nähert man sich der Realität.
taz: In Ihrem Brief werfen Sie die Frage auf, ob mit der Entscheidung des Bundesamtes die öffentliche Debatte „in eine bestimmte Richtung gelenkt werden“ solle. Wie kommen Sie darauf?
Stilling: Uns besorgt besonders, dass die unterschiedlichen Methoden eben Unterschiede für die bundesweite Armutsquote machen. Beim Mikrozensus Kern lag sie 2023 bei 16,6 Prozent, bei SILC nur bei 15,5 Prozent. Das sind rund eine Million Menschen weniger. Das eine Ergebnis nicht mehr zu veröffentlichen, birgt also die Gefahr einer geschönten Wahrnehmung.
taz: Sie schreiben, das Bundesamt habe die Daten auf seiner Internetseite sogar rückwirkend für die letzten Jahre gelöscht. Wann wurden sie entfernt?
Stilling: Wir können mit Sicherheit sagen, dass die Daten für die Jahre bis 2023 im ersten Halbjahr noch online verfügbar waren. Vor zwei Wochen haben wir dann festgestellt, dass dem nicht mehr so ist.
taz: Haben Sie auf Ihren Brief schon eine Antwort bekommen?
Stilling: Nein. Wir hatten den Brief mit Vorlauf am Sonntag an das Statistische Bundesamt geschickt und ihn erst Donnerstag öffentlich gemacht. Wir haben mitbekommen, dass das Bundesamt offensichtlich Presseanfragen dazu bedient. Uns wurde aber noch nicht geantwortet. Natürlich werden wir das Thema auch politisch weiterverfolgen. Aufsichtsbehörde des Statistischen Bundesamtes ist das Bundesinnenministerium. Je nachdem, ob wir eine Auskunft bekommen und wie diese ausfällt, werden wir auch das Gespräch mit Fachpolitikern suchen. Klar ist: Diese Zahlen müssen wieder ins Netz.
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