Krieg in Gaza: Wahrheit zwischen Trümmern
Israel lässt keine ausländischen Journalist:innen in den Gazastreifen. Umso wichtiger sind palästinensische Reporter:innen, auch für die taz.

Großflächige Zerstörung, massenhaftes Aushungern, täglich getötete Kinder und noch immer 20 Geiseln, all das in Echtzeit auf Social Media: Der Gaza-Krieg ist so gut dokumentiert wie wohl kein anderer in der Geschichte. Dennoch ist das Misstrauen gegenüber jeder Information, jedem Foto, jedem Bild gewaltig. Obwohl sich der Schrecken vor aller Augen abspielt, sieht, wer nach Gaza blickt, doch nur, was er oder sie sehen will. Licht in dieses Dunkel bringen palästinensische Journalisten vor Ort. Seit fast zwei Jahren riskieren viele von ihnen alles, berichten trotz Hunger, Luftangriffen und Flucht. Ohne sie könnte auch die taz nicht aus Gaza berichten.
Woher wissen wir als Reporter, dass etwas wahr ist? Etwa, wenn wir es mit eigenen Augen sehen. Israel lässt aber seit fast zwei Jahren keine internationalen Journalisten nach Gaza. Offensichtlich hat die Regierung von Benjamin Netanjahu kein Interesse an Zeugen für das Vorgehen der israelischen Armee.
Teilnehmer: Über 150 Medienunternehmen aus mehr als 50 Ländern nehmen am 1. September an einem groß angelegten Aktionstag teil, der von Reporter ohne Grenzen (RSF) und der globalen Online-Kampagnenbewegung Avaaz koordiniert wird.
Kritik: Die teilnehmenden Redaktionen kritisieren die Verbrechen der israelischen Armee an palästinensischen Journalist:innen und Reporter:innen in Gaza.
Forderung: Die Beteiligten fordern besseren Schutz für alle Medienschaffenden dort und verlangen, dass Israel anderen Journalisten endlich unabhängigen Zugang in den Gazastreifen gewährt.
Aufwendige Recherchen
Was der Berichterstattung bleibt, ist eine Annäherung: Wir betrachten Fotos, Videos, Karten und Satellitenbilder. Wir sprechen mit möglichst vielen Quellen in Gaza und in Israel. Wir lesen Berichte von Menschenrechtsorganisationen und internationalen Hilfsorganisationen. Wir beziehen aufwendige Recherchen internationaler Medien ein. Kommen sie alle zu ähnlichen Schlüssen, können wir relativ sicher davon ausgehen, dass es stimmt.
Damit lässt sich mehr beantworten, als es mitunter scheint. Auch wenn viele mittlerweile mit Blick auf Gaza erschöpft abwinken: Wer soll angesichts des von Israel und der Hamas aufwendig geführten Propagandakrieges noch wissen, was wirklich passiert?
Einiges lässt sich klar und mit Verweis auf die Verantwortlichen beantworten: Ja, es gibt in Gaza vor allem aufgrund der israelischen Blockade eine Hungersnot. Ja, israelische Soldaten erschießen regelmäßig unbewaffnete Hilfesuchende vor Verteilzentren für humanitäre Hilfsleistungen. Ja, Israel zerstört systematisch die Lebensgrundlagen der zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens. Ja, in den wenigen noch funktionierenden Krankenhäusern von Gaza liegen unterernährte Kinder, die, selbst wenn sie überleben, ihr Leben lang an Folgen leiden werden. Ja, Israel greift regelmäßig völkerrechtlich geschützte Krankenhäuser ohne ausreichende Rechtfertigung an.
Und ja, die Hamas nutzt die zivile Infrastruktur im Gazastreifen für ihre Zwecke. Ja, die Hamas schüchtert Menschen ein, die sich öffentlich gegen sie äußern, sie tötet sie sogar. Ja, es gibt Journalisten, die ihr ideologisch nahestehen.
Doch es gehört nicht zufällig zum Handbuch autoritärer Rechtspopulisten wie Netanjahu und US-Präsident Donald Trump, Misstrauen gegen diese Quellen zu verbreiten. Gesellschaftliche Institutionen werden so sturmreif geschossen, bis sie entweder ausgeschaltet, neu besetzt oder ersetzt werden können. Nähe zur oder Unterwanderung durch die Hamas sind die meistgenutzten Vorwürfe, die israelische Regierungsmitglieder vorbringen: gegen Krankenhäuser im Gazastreifen, Rettungsdienste, UN-Organisationen, NGOs. In der Regel ohne Beweise.
Dass das trotzdem funktioniert, zeigt sich auch darin, dass Organisationen wie die Vereinten Nationen oder internationale Hilfsorganisationen in der Berichterstattung über Gaza wenig Gewicht haben, obwohl sie mit hunderten internationalen und tausenden lokalen Mitarbeitern vor Ort sind. Die Vorwürfe genügen, und obwohl bis heute keine Beweise vorliegen, dass das UN-Palästinahilfswerk UNRWA, wie von Israel behauptet, systematisch von der Hamas unterwandert ist, hat die Organisation international viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren.
Auch deshalb kann kein Bericht und keine Hilfsorganisation palästinensische Journalisten vor Ort ersetzen. „Kannst du hingehen und mit den Betroffenen sprechen?“, ist unsere häufigste Frage an unsere Kolleginnen in Gaza. „Berichtete ein Reporter der Nachrichtenagentur Reuters/AP/AFP vor Ort“, lautet die Zeile, die bei Breaking News für Sicherheit sorgt: Ein palästinensischer Kollege war dort, darauf können wir uns verlassen.
Auch die vielen Geschichten, die im Kleinen konkret das Große erzählen, wären ohne palästinensische Reporterinnen und Reporter nicht möglich. Sie brechen Schlagzeilen auf einzelne Schicksale herunter. Etwa, wenn unser Reporter Sami Ziara das Al-Aqsa-Märtyrer-Krankenhaus in der Stadt Deir al-Balah besucht, während es vor einer drohenden Offensive evakuiert wird. Das Schicksal des Patienten Mohammad al-Akhras, der nirgendwohin flüchten kann, macht deutlich, was es bedeutet, wenn ein Krankenhaus in die Schusslinie gerät.
Auch das Gaza-Tagebuch trägt zur Berichterstattung bei. Unsere Autorinnen und Autoren beschreiben darin konkret ihren Kriegsalltag. Im Juli, als die Hungersnot in Gaza am größten wurde, schrieb unser Autor Esam Hajjaj: „Vor Kurzem gelang es mir, ein Kilogramm Mehl für 27 US-Dollar zu bekommen. Außerdem habe ich fünf Tomaten, sieben grüne Paprikaschoten und ein Kilo Molokhia (auf Deutsch: Mußkraut) für 44 US-Dollar bekommen. Beim Kochen schnurrt es wie Spinat zusammen. Aus dem Mehl backen wir zehn kleine arabische Brote. Das ist alles, was wir als fünfköpfige Familie an diesem Tag essen.“
So konkret, so eindrücklich können wir aus Berlin oder Jerusalem nicht berichten. Das hat auch Israels Regierung verstanden – und es dem Anschein nach gezielt auf die Kollegen abgesehen. Journalistinnen und Journalisten in Gaza brauchen dringend internationalen Schutz, sonst könnten ihre Stimmen bald zum Schweigen gebracht werden – so wie etwa am 25. August Maryam Abu Dagga.
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