Ruhrtriennale in Duisburg: Tanz den Algorithmus
Mulitmediale Expedition in die Technikgeschichte: Der Regisseur Łukasz Twarkowski fusioniert in „Oracle“ Mensch und Technik zu opulenten Bildern.

Ihren Höhepunkt erreicht die vierstündige Inszenierung etwa zur Halbzeit. Gerade hat der Mathematiker Alan Turing den Enigma-Code geknackt, mit dem die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg ihre Nachrichten verschlüsselte. Da münden die Eingangsprophezeiung von einem „Spiel, das sich selbst spielt“, und der mehrfach gefallene Satz, dass nur eine Maschine eine Maschine verstehen kann, in ein eindrucksvolles Bild: Die mobilen Büro-Kuben, die die Geheimzentrale in Bletchley Park simulieren, verlieren ihre Wände.
Fabien Lédés Bühne wird zu einem abstrakt gerasterten Raum, in dem sich die Menschen wie Spielfiguren unablässig neu in exakt dieselben Positionen begeben, während die Drehbühne alles in permanenter Bewegung hält.
Lichtblitze flackern, Glitches und Bruchstücke vergangener Szenen geistern durch den Raum. Wird hier ein Algorithmus vertanzt oder die Logik des Traumes verkörpert? Für einige beglückende Momente fällt bei der Uraufführung von „Oracle“ bei der Ruhrtriennale alles in eins.
Die Maschine, genannt „Bombe“ oder nach dem verstorbenen Freund ihres Erfinders Alan Turing (1912–1954) auch „Chris“, ist in Łukasz Twarkowskis spektakulärer Inszenierung ein an die ersten elektromechanischen Rechenmaschinen erinnerndes Trumm mit sich drehenden Rädchen. Sie filtert Fehler aus dem System und braucht nur Zeit, um früher oder später auf die Lösung zu kommen. Diese Zeit haben die Alliierten 1941 nicht. Um die Nazis zu besiegen, brauchen sie eine Abkürzung. Und die finden dann doch die Menschen.
Eine beiläufige Bemerkung einer Wissenschaftlerin bringt den Durchbruch. Und plötzlich zoomen die allgegenwärtigen Live-Kameras auf Zettel voller Zahlenkolonnen und auf die Hände der Entschlüsselungsgenies. Deren Darsteller*innen haben bis dahin alles dafür getan, den Vorwurf des britischen Kommandeurs zu bestätigen, sich am sichersten Ort Europas auf Regierungskosten zu amüsieren.
Mix aus Fakten und Fiktion
An dem glänzenden Ensemble aus litauischen, lettischen, polnischen und chinesischen Schauspieler*innen liegt dieser Eindruck nicht. Anka Herbuts Stück und Łukasz Twarkowskis Inszenierung sparen schlicht das schwierig zu Zeigende aus: Wissenschaftler bei der Arbeit.
Ihr Mix aus Fakten und Fiktion will die Frauenfiguren stärker machen und eine Brücke von Turings Glauben an eine körperlose Intelligenz zur KI der Gegenwart schlagen. Und er menschelt vor allem anfangs sehr: Eine Seelenverwandtschaft zwischen Alan (großartig: Mārtiņš Meiers), der seine Homosexualität unter Verschluss halten muss, und der wissenschaftsaffinen Schauspielerin Hedy Lamarr hebt bewegend ins Fantastische ab.
Warum sich der Abend aber alle Zeit der Welt lässt, um zwei Paare zu porträtieren, erschließt sich nicht: Turing und seiner Verlobten Joan schaut er ausgiebig bei der Trennung zu, Ada und Tommy beim Vielleicht-Zusammenfinden. Eklatant ist die fehlende psychologische und dramatische Entwicklung nicht nur in diesen Szenen.
Dynamik und Spannung kreieren allein die Kameras und die auf Splitscreens vervielfältigte Bühnenmaschinerie in Kombination mit dröhnender Musik. Und auf dieser technischen Ebene, auf der es mal wie beim Dreh eines Historienschinkens zugeht und mal halluzinogene Schwarz-Weiß-Bilder übernehmen (Video: Jakub Lech), ist „Oracle“ ein echter Kracher. Zumal in den Weiten der Kraftzentrale im Duisburger Norden.
Inhalt schleifen lassen
Der Erlebnisfaktor bleibt bei „Oracle“ auf die Augen und Ohren begrenzt. In den besten Momenten des Abends entsteht dennoch eine Art Immersion Light, in den schlechteren fällt auf, wie der aus Polen stammende Regisseur unter der Form den Inhalt schleifen lässt. Am auffälligsten ist das am stark ausfransenden Ende, aber auch der Zusammenhang zwischen der analogen Rechenmaschine von 1941 mit der KI von heute wirkt kaum durchdrungen.
Dass der Software-Entwickler Blake Lemoine 2022 das Sprachmodell LaMDA als so gefährlich wie die Atombombe bezeichnete, weil es dabei sei, ein eigenes Bewusstsein zu entwickeln, befeuert nur die allgemeine Angst vor dem Neuen. Der zweite Teil einer theatralen Wissenschaftstrilogie sollte da etwas differenzierter orakeln.
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