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Sehnsucht nach einer besseren WeltEinfach mal machen

Die Zeit ist reif für ein mutiges grün-rotes Comeback. Utopisch? Nein, man kann etwas verändern, wenn man erst einmal anfängt, zumindest im Kleinen.

In den zwei bis vier Zugmonaten legen Störche im Durchschnitt 150 bis 300 Kilometer pro Tag zurück Foto: imageBROKER/Christian Decout/imago

D ie Schwalben sind in diesem Jahr eher abgeflogen, und zum ersten Mal seit Menschengedenken haben Störche auf dem Weg nach Süden hier übernachtet. Sechs große Vögel umkreisten den Kirchturm, saßen auf den Schornsteinen, den Strommasten, und das halbe Dorf war auf den Beinen, um das Spektakel zu sehen. Die 200-Seelen-Gemeinde liegt an einem Nebenfluss der Saône, die wiederum ein Nebenfluss der Rhône ist. Neuerdings stellen wir von Jahr zu Jahr kleine Veränderungen fest: Das Waschhaus aus dem 18. Jahrhundert strahlt weiß und ist überdacht, abends sitzen dort manchmal ein paar Halbwüchsige und zeigen sich Instagram-Clips.

Die Jüngeren machen das auf der neuen Schaukel an der Dorfwiese. Es gibt keine Bar, nur einen Bioladen. „Das ist samstags ein Treffpunkt, aber vor allem für finanziell Bessergestellte“, sagt der Bürgermeister: „Die meisten fahren 20 Kilometer zum Hypermarché, zu Aldi, zu Lidl.“ In diesem Sommer hat er zwei Konzerte in der Kirche veranstaltet. Vivaldi auf dem Xylophon – warum nicht. „Da kommen manchmal sogar Leute, die man jahrelang nicht gesehen hat“, sagt er.

Bild: privat
Mathias Greffrath

lebt als freier Autor für Print und Radio in Berlin. Er ist Herausgeber von „RE: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert“ (Kunstmann, 2017).

Der Wandel ist nicht spektakulär, aber spürbarer als in den beiden Nachbardörfern. Und das hat mit den Zugezogenen zu tun. In den siebziger Jahren sind einige Studenten, vor allem aus Straßburg, in die Gegend gezogen. Der Bürgermeister war einer von ihnen, nach 1968 gab es diesen Zug aufs Land. Keine gute Arbeit in der Stadt, Zivilisa­tions­müdigkeit und politische Resignation. „Vor allem waren es auch die billigen Wohnungen“, sagt der Bürgermeister – und tritt ein paar Hornissen tot, die sich über die Pflaumen am Boden hermachen. Im Nebenberuf ist er Imker.

Bis zu seiner Pensionierung war er 35 Kilometer zur Berufsschule im Nachbarkanton gependelt. Seit sieben Jahren sitzt er die halbe Woche in der Mairie, einem stattlichen klassizistischen Bau – wie viele der Rathäuser in der französischen Provinz, stolzes Erbgut der Revolution. In diesem angeblich so zentralisierten Land gibt es dreimal so viele Gemeinden wie in Deutschland, für nur zwei Drittel der Bürger: Orte der Beharrung, des bornierten Lokalgeistes, Schlafdörfer. Oder eben: Räume für etwas Neues.

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Autorität hilft, immer noch, sagt der Bürgermeister. In vielem habe er freie Hand. Aber viele interessieren sich nicht für das, was um sie herum passiert. Nicht einmal, wenn das Dorf ihnen entgegenkommt. Neben dem Wertstoffhof hat der Gemeinderat eine kleine Plantage angelegt. Jedes Mal, wenn ein neues Kind geboren wird, pflanzen sie dort einen Obstbaum, der mit dem Kind wächst. Auf kleinen Messingschildern stehen die Namen der neuen Gemeindemitglieder: ein Pflaumenbaum für Ayden, ein Apfelbaum für Louise. So entsteht ein Wäldchen der nächsten Generation. „Aber es gibt eben auch diejenigen, die nicht einmal kommen, wenn wir einen Kirschbaum für ihre Tochter pflanzen, auch nicht mit einer persönlichen Einladung.“

Wer etwas aufbauen will, ist herzlich willkommen, für ein paar Jahre sogar kostenfrei

Sind das dieselben, die den Plastikfuhrpark der Kinder mit grauen Mauern aus Porenbetonstein umgeben? Der Bürger­meister zuckt mit den Achseln: Wenn er eins gelernt habe, als Lehrer und erst recht als Bürgermeister, dann dass es besser sei, diejenigen zu fördern, die etwas wollen, als ständig die Indifferenten anzutreiben und die Geschmack­losen zu kritisieren.

Arbeit und Wohnen, das ist das größte Problem. Hier wie überall, jetzt wie schon in den Siebzigern. Immerhin besitzt das Dorf sieben kleine Wohnungen. „Am liebsten vermiete ich an junge Frauen mit einem Kind, die keine Arbeit haben, oder sich in der Stadt keine Wohnung leisten können“, sagt er. Zwei Amtsperioden hat der Bürgermeister hinter sich. Jetzt will er sich gern um junge Familien kümmern, ihnen hier eine Heimat schaffen, ohne dass sie dreißig, vierzig Kilometer zur Arbeit fahren müssen. Das Pendeln kostet doch Diesel und Zeit, Zeit, in der man einen Gemüsegarten anlegen könnte oder das Dorfleben „vitalisieren“.

Die Routen der Störche und Friedrich Engels

„Ich möchte ein Grundstück im Dorf kaufen, dort eine Leichtbauhalle hinstellen und im Internet inserieren: Wer hier etwas aufbauen will, ist herzlich willkommen, für ein paar Jahre kostenfrei“, erzählt er. Also doch noch eine weitere Amtszeit? Da hüllt er sich in vielsagendes Schweigen – so viel Politiker ist er also geworden. Inzwischen ist Fab, der eher anarchistische Maler, Schrauber und Musiker, dazugekommen. „Warum eigentlich vitalisieren?“ fragt er etwas spitz: „Brauchen wir das?“

An diesem friedvollen Sommerabend vertiefen wir das nicht. Stattdessen reden wir über die neuen Routen der Störche. Der Klimawandel, der damit zu tun hat, stellt uns vor die Aufgabe, das Verhältnis von Stadt und Land neu zu organisieren. Friedrich Engels hat darüber ein paar gute Seiten geschrieben: über die „Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land“, die am Ende des Kapitalismus nicht nur möglich sei, sondern „eine direkte Notwendigkeit der industriellen Produktion selbst“.

Das war vor 150 Jahren, der Industria­lismus stand am Anfang, die Städte stanken, auf dem Lande herrschten die Besitzenden, und die CO2-Kurve war noch am Anfang. Heute könnten viele ihre Arbeit von hier aus erledigen – wegen der steigenden Produktivität in weniger Zeit, so dass mehr Stunden für Gärten, Musik, Kinder oder was auch immer bleibt.

Die Zeit ist reif für einen richtig großen Umbau, ein mutiges grünes und rotes Comeback, gar für eine Renaissance des anarchistischen „Small is beautiful“ des britischen Ökonomen Ernst F. Schumacher. Eigentlich. Im kleinen Alltag dieses Dorfes zeigt sich, wie sich die Dinge bewegen lassen, wenn es ein paar Leute gibt, die nicht nur wollen, sondern machen. Das kam uns plausibel vor – trotz allem, was wir wussten über Kapitalismus, Medienmogule, die Bullshitjobs. Es kam uns plausibel vor – an diesem letzten Abend der Sommerfrische, während die Schwalbengeschwader über der Kuhwiese den Aufbruch probten.

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