Frankreich vor der Regierungskrise: Mit wehenden Trikoloren in den Abgrund
Die Regierung von Premier Bayrou wird nächste Woche über eine Vertrauensabstimmung stürzen. Zugleich drohen neue Proteste im Stil der Gelbwesten.
Parallel dazu wächst der Volkszorn, der sich Mitte des Monats in Streiks und Straßenblockaden entladen kann. Auf den Netzwerken findet sich eine Bewegung zusammen, die bereits an die Proteste der Gelbwesten vor vier Jahren erinnert.
Niemand weiß, was am 10. September in Frankreich wirklich geschehen wird. „Die Mainstreammedien verstehen eh nichts. Aber ich hoffe, dass etwas abgeht“, sagt Maxime Nicolle alias „Fly Rider“ in den Netzwerken. Er war einer der Wortführer der Gelbwesten-Bewegung von 2018/19.
Heute will er jedoch lieber keine persönliche Verantwortung dafür übernehmen, wenn es jetzt zu einer Wutbewegung aus der Provinz kommt. Wer Mitte Juli hinter dem Aufruf „Bloquons tout le 10 septembre!“ („Blockieren wir alles am 10. September!“), steht, ist weiterhin unklar. Die Spuren führen zu einer nationalistischen Gruppe in Nordfrankreich.
Angestauter Unmut
Der Ursprung hat letztlich wenig Bedeutung. Denn der Aufruf zur Revolte hat in den Sommerwochen in ganz unterschiedlichen Kreisen rasch ein wachsendes Echo gefunden. Deren einziger gemeinsamer Nenner ist die Unzufriedenheit oder Wut von Menschen.
Sie fühlen sich „von denen da oben“, den Amtsträgern und anderen Repräsentanten, verachtet und durch den öffentlichen Dienst vernachlässigt. In Frankreich, wo der soziale Dialog noch nie richtig funktioniert hat, braucht es oft nur wenig, um wegen des angestauten Unmuts einen großen Konflikt heraufzubeschwören.
Auslöser der Mobilisierung von unten ist dies Mal der Regierungsentwurf für einen Sparhaushalt für 2026. Premierminister François Bayrou sagte seinen Landsleuten unverblümt, da helfe eben nichts. Sie müssten den Gürtel enger schnallen, um eine gravierende Schuldenkrise, wie in Griechenland, zu vermeiden. Wer ohnehin schon finanzielle Engpässe hat und den sozialen Abstieg fürchten muss, empfindet solche Äußerungen als provokative Zumutung.
Für die Franzosen ist es schlicht grotesk, wenn Bayrou in den Medien seinen voraussehbaren Abgang wie ein persönliches Opfer inszenieren will. In Paris wird nicht diskutiert, ob der Premier verliert oder noch gewinnen kann, sondern nur noch über die Kandidaten für seine Nachfolge.
Keine parlamentarische Mehrheit
Die meisten Franzosen erwarten indes nichts von einem neuen Regierungschef. Denn dieser wird, wie Bayrou seit Ende 2024 und vor ihm Michel Barnier, keine parlamentarische Mehrheit haben und dem Druck der Oppositionsfraktionen ausgesetzt sein. Rund zwei Drittel der Leute befürworten laut Umfrage des Instituts Toluna-Harris den Aufruf zur Blockade am 10. September, obwohl deren Ziele noch konfus bleiben.
Die „Gilets jaunes“ hatten einen ganzen Forderungskatalog, als sie Ende 2018 überall im Land mit ihren gelben Warnwesten gegen eine sinkende Kaufkraft, höhere Steuern, die Reduzierung öffentlicher Dienstleistungen sowie für unzählige oft lokale Anliegen demonstrierten und Blockaden errichteten.
Gebracht hatten die zum Teil gewaltsamen Proteste, die bis 2020 weitergingen, außer einer von Emmanuel Macron angeregten landesweiten Alibidebatte und leeren Versprechen jedoch nichts. Zudem hatte die in ihrer Selbstsicherheit erschütterte Zentralmacht in Paris zuvor nicht gezögert, mit repressiver Polizeigewalt gegen die Demonstrierenden vorzugehen.
Geblieben davon ist in den meist außerhalb der städtischen Zentren lebenden Bevölkerungskreisen, die damals den Aufstand probten, Verbitterung und manchmal auch ein Wunsch nach Revanche. Der Aufruf für den 10. September hört sich für sie wie eine Einladung zu einem zweiten Anlauf an.
Ein Auge verloren
„Das ist nicht die Geburt einer Wutbewegung, sondern eine Wiedergeburt“, meint eine andere historische Figur der Gelbwesten, Jérôme Rodrigues. Er hat bei einer Kundgebung durch eine Polizeigranate ein Auge verloren und deswegen selber noch eine Rechnung mit der Staatsmacht offen.
Andere ehemalige Gelbwesten sagen, ein zweites Mal würden sie sich nicht auf einen Kampf mit persönlichen Opfern einlassen, der dann doch nichts bringe. Zudem kommt unter den Ex-Gelbwesten die Befürchtung auf, dass die Parteien und Gewerkschaften, die sie das letzte Mal im Stich gelassen hatten, gleich von Beginn an die Kontrolle über die Bewegung übernehmen und die Proteste für ihre eigenen Interessen instrumentalisieren könnten.
Kaum hatte der Blockadeappell in den Netzwerken ein Echo gefunden, sprangen zuerst Linksparteien und dann auch Gewerkschaftsverbände auf den Zug auf, um den Volkszorn zu organisieren und eventuell zu kanalisieren. Vom Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon bis zu den gemäßigteren Sozialisten wollen alle vorab verhindern, dass die Unzufriedenheit den Rechtspopulisten von Marine Le Pen nützt.
Möglich also, dass es am 10. September bei einem Strohfeuer bleibt. Oder bricht sich eine grenzenlose Wut Bahn, die erhitzten Gemütern als Ventil dient, um Druck abzulassen? Ersteres scheint die Hoffnung des Noch-Regierungschefs zu sein, dessen Popularitätswerte einen Tiefpunkt erreicht haben.
Bayrou dramatisiert die Lage, er setzt darauf, dass eine drohende Regierungskrise seinen Gegnern Angst macht. In den Medien zirkuliert das Gerücht, prorussische Influencer würden mit dem 10. September-Aufruf gezielt gegen die französische Staatsführung agitieren. Bayrou selber spielt die Karte „Ich oder das Chaos“ aus.
Paris mit schlechtem Image
Die Perspektive, dass Frankreich in diesen ohnehin schon bewegten und gefährlichen Zeiten möglicherweise während Wochen ohne Regierung und ohne Staatshaushalt dasteht, ist ungemütlich. Wirtschaftskreise werden nervös. Ohnehin verschlechtert sich das Image von Paris auf den Finanzmärkten.
Inzwischen bezahlt Frankreich für neue Anleihen mehr an Zinsen als Spanien und Italien. Der Schuldendienst wird zum wichtigsten Ausgabenposten im Staatshaushalt, vor Erziehung und Verteidigung. Die Schuldenspirale, von der Bayrou bei seiner letzten Moralpredigt an die Nation zur Verteidigung seines Sparhaushalts gesprochen hatte, dreht sich bereits.
Die Menschen, die in unterschiedlicher Weise am 10. September und vermutlich in den Tagen danach gegen Bayrou und Macron demonstrieren, wollen nicht akzeptieren, dass immer sie es sein sollen, die Opfer bringen müssen, während wirklich Privilegierte weiter geschont werden.
Das scheint die gemeinsame Botschaft zu sein. Und da Bayrou an seinen Sparpläne nichts Wesentliches ändern will, fordern die „Sansculotten“ des Jahres 2025 seinen Kopf, respektive seine Absetzung. Dem kommt die Vertrauensabstimmung am 8. September wie ein politisches Fallbeil nur zuvor. Geregelt ist damit jedoch noch überhaupt nichts.
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