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Demonstration und Gedenken an die 1937/38 in Dersim getöteten Ale­vi­t:in­nen im Mai 2016 in Istanbul Foto: Ozan Kose/afp

Massaker an AlevitenErinnern und mahnen

Das Gedenken an das Massaker an Ale­vi­t:in­nen ist in Dersim allgegenwärtig. Ein Versuch der Aufarbeitung.

E s ist drei Uhr nachts, als ein bewaffneter türkischer Militär seinen Kopf durch die Tür des kleinen Reisebusses steckt. Er will die Pässe sehen. Im Bus sitzen Mitglieder eines Forschungsteams der Ruhr-Universität Bochum. Begleitet werden sie von Yasar Kaya und Hüseyin-Kenan Aydın. Der Bus ist auf dem Weg nach Dersim im Südosten der Türkei.

Aydın kommt aus Dersim, lebt aber seit er 13 Jahre alt ist mit seiner Familie in Deutschland. Von 2005 bis 2009 war er Bundestagsabgeordneter für die Linkspartei. Auch Kaya ist in Dersim aufgewachsen. 1996 floh er nach Deutschland, verfolgt von der türkischen Regierung. Doch die Heimat ließ ihn nicht los. Bis heute reist er regelmäßig zurück und besucht seine Familie.

Im Jahr 2008 gründeten Kaya und Aydin gemeinsam das „1937–38 Zeitzeugenprojekt“, ein Jahr später folgte die Bildung des „Dersim 1937–38 Oral History Projekt Komitees“. Seither hat ein Team aus Deutschland und der Türkei in enger Zusammenarbeit mit der Ruhr-Universität Bochum rund 400 Zeit­zeu­g:­in­nen interviewt.

Denn was in den Jahren in Dersim geschah, ist bis heute kaum aufgearbeitet. In der abgelegenen, alevitisch geprägten Bergregion im Osten Anatoliens führte das türkische Militär 1937 und 1938 eine sogenannte Befriedungsaktion durch – in Wahrheit ein Feldzug voller Gewalt: Bombardierung, Zwangsumsiedlung, Massaker an der Zivilbevölkerung. Tausende Menschen wurden getötet oder vertrieben.

Dersim, Ale­vi­t:in­nen und das Massaker

Die Region Offiziell heißt die Provinz seit 1935 „Tunceli“ – „Eiserne Faust“. Die meisten nennen sie weiterhin Dersim, nach ihrem historischen Namen. Abgeschiedene Täler und Berge machten die Region lange zu einem Rückzugsraum und prägten ihre Eigenständigkeit.

Die Ale­vi­t:in­nenDersim ist die einzige Provinz der Türkei mit alevitischer Mehrheit. Viele hier sprechen Kirmanckî – auch „Zaza“ ge­nannt. Offizielle Zahlen zur Anzahl von Ale­vit:in­nen in der Türkei gibt es nicht; Schätzungen gehen davon aus, dass 10 bis 20 Prozent der türkischen Bevölkerung alevitisch ist.

Das Massaker 1937/38 Bei einem brutalen Militäreinsatz wurden in den Jahren 1937/1938 Dörfer bombardiert, Menschen deportiert und massakriert. 13.000 (laut Regierung) bis zu 70.000 Menschen (laut alevitisch-kurdischen Quellen) starben. Verantwortlich war die CHP, die damalige Staatspartei unter Mustafa Kemal Atatürk und İsmet İnönü, die eine Politik der Homogenisierung verfolgte. Sie begründete den Militäreinsatz mit einem angeblichen Aufstand, der ist jedoch nicht belegt.

HeuteNoch immer tut sich die CHP schwer, ihre Verantwortung für das Massaker anzuerkennen. 2009 sprach zwar erstmals ein türkischer Regierungschef, Recep Tayyip Erdoğan, von einem „Massaker“ – doch eher als politisches Wahlkampfmanöver. Für viele Ale­vit:in­nen bleibt Dersim damit ein doppeltes Trauma: Gewalt in der Vergangenheit und fehlende Anerkennung in der Gegenwart.

Nach der Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 wurden ethnische und religiöse Minderheiten systematisch unterdrückt, vor allem von der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei CHP. Dersim steht exemplarisch für dieses Kapitel der Geschichte – ein Kapitel, das bis heute nicht abgeschlossen ist. 1935 tauft die Regierung die Provinz in „Tunceli“ um – Eiserne Faust. Ein Name wie eine Drohung. Doch Tunceli ist nur ein Teil des kulturellen Dersim, wo der Fluss Munzur silbrig durch die Täler fließt.

Wer von der Universität ins Zentrum fährt, landet in dem, was Kaya und Aydın „Dersim-City“ nennen. Dort ist die Erinnerung an das Massaker allgegenwärtig: eine Mauer mit den eingravierten Zahlen 37 und 38, eine Statue von Seyid Riza mitten in der Stadt, dem alevitischen Anführer, den die Regierung 1937 hinrichten ließ. Wer genau hinsieht, hat auch schon im Bus, der sich durch die Serpentinen windet, Fußmatten entdeckt, auf denen steht: „Dersim-Patrol“. Alles Mahnungen, dass nichts vergessen ist.

Nach der Gründung der Republik Türkei 1923 wurden ethnische und religiöse Minderheiten systematisch unterdrückt

Die Gewalt begann im Frühjahr 1937. Offiziell sprach Ankara von einem Aufstand, weil eine Telefonleitung gekappt und eine Brücke zerstört worden war. Die Antwort: Bomben auf ganze Dörfer, niedergebrannte Häuser, Menschen, die aus der Ferne erschossen wurden.

In „Dersim-City“ erinnert eine Statue an Seyid Riza, den alevitischen Anführer, den die Regierung 1937 hinrichten ließ Foto: Alamy Stock/Thankful/mauritius images /

Im Sommer 1938 folgte die zweite Welle. Wieder brannten Soldaten Dörfer nieder, erschossen Viehherden, ermordeten Kinder. Wer überlebte, wurde in den Westen der Türkei deportiert, wer sich wehrte, sofort hingerichtet. Im September erklärte die Armee ihre Vernichtungsaktion für beendet.

Ein großer Teil der Dersimer Diaspora lebt in Deutschland

Noch heute heißt es oft, das Massaker sei eine Reaktion auf einen „kurdischen Aufstand“ gewesen. Doch in Wahrheit richtete sich die Gewalt nicht nur gegen kurdische Bestrebungen, sondern gegen die Kultur der Menschen in Dersim – um sie für immer zu zerstören. Die Überlebenden sind heute eine weit verstreute Gemeinschaft. Ein großer Teil der Dersimer Diaspora lebt in Deutschland. Auch Aydın und Kaya gehören dazu. Für sie ist das Erinnern mehr als eine persönliche Aufgabe, es ist ein politisches Anliegen: Sie engagieren sich in Kulturvereinen, organisieren Gedenkveranstaltungen, sprechen in Schulen, teils in Deutschland, teils in Dersim.

Lange war die Geschichte des Massakers verschüttet. Erst in den 1970er- und 80er-Jahren begannen viele, im Privaten über die Ereignisse von 1937/38 zu sprechen. Öffentliche Räume für dieses Erinnern gab es nicht – zu groß war das Schweigen, zu stark das Stigma. Doch das Schweigen bedeutete nie Vergessen. In der alevitischen Gemeinschaft blieb die Geschichte lebendig, auch weil neue Wunden hinzukamen: Maraş 1978, Çorum 1980, Sivas 1993 – Orte und Jahreszahlen, die sich ins Gedächtnis der Ale­vi­t:in­nen eingebrannt haben: noch mehr Massaker. Für viele wurde die Erinnerung an Dersim so Teil einer kollektiven Wachsamkeit – ein Warnzeichen, das von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Im Jahr 2009, mehr als 70 Jahre nach den Massakern, sprach erstmals ein türkischer Ministerpräsident von einem „Massaker in Dersim“. Recep Tayyip Erdoğan wählte diesen Begriff, ein symbolstarker Moment.

Doch es blieb eine Geste ohne Konsequenzen – ein politisches Manöver im Vorfeld der Wahlen. Denn 2010 hatte die CHP, Erdoğans stärkste Konkurrenz, mit Kemal Kılıçdaroğlu zum ersten Mal einen Aleviten zum Parteivorsitzenden gewählt. Viele empfanden Erdoğans Worte nicht als Anerkennung des Unrechts, sondern als gezielte Provokation: ein Versuch, das Leid der Ale­vi­t:in­nen für den Machtkampf auszuschlachten.

Kaya selbst ist in Pınar geboren, zusammen mit neun Geschwistern. Das Dorf liegt eine halbe Stunde westlich vom Zentrum Dersims, heute leben dort noch etwa zwanzig Familien. Zehn Jahre nach den Massakern und erneut von 1994 bis 2009 wurde Pınar vom Militär geräumt und zur verbotenen Zone erklärt. Ohne Erlaubnis durften Kaya und seine Familie nicht zurück – ein Betreten hätte ihre Festnahme bedeutet. Erst seit 2011 ist die Rückkehr wieder möglich, unter strengen Kontrollen.

Der Wunsch seines Onkels wurde zu Kayas Lebensauftrag

Kaya steht auf der Veranda seines Elternhauses und blickt auf eine Blumenwiese, die ein Stück den Hang hinunter geht. Auch auf dieser Wiese gab es 1938 ein Massaker, bei dem auch Mitglieder von Kayas Familie getötet wurden. Hier erzählt Kaya, wie es dazu kam, dass er sich so intensiv mit dem Thema befasst: Vor einigen Jahren sprach er mit seinem Onkel Sey Xıdır. Der war über 90 Jahre alt, ein „weiser Mann“. Er bat ihn, von den Massakern zu erzählen, etwas ängstlich, weil er nicht wusste, wie sein Onkel reagieren würde. Doch der erzählte und forderte seinerseits Kaya auf, die Geschichte Dersims so zu erzählen, wie sie wirklich geschehen ist. Der Wunsch seines Onkels wurde zu Kayas Lebensauftrag.

Laut Kayas Onkel hatte die Familie am Tag vor dem Massaker in Pınar von der Gewalt in anderen Dörfern gehört. Aus Sorge, dass etwas Schlimmes passieren könnte, schickten die Eltern Kayas Onkel zusammen mit zwei Brüdern über Nacht in den Wald, wo sie sich verstecken sollten. So überlebte der Onkel tatsächlich das Massaker in Pınar. Seine Schwester, so erzählt es der Onkel, starb bei dem Massaker, weil er damals nicht wollte, dass sie mit in den Wald kommt. Das türkische Militär tötete sie zusammen mit den anderen Familienmitgliedern auf der Wiese vor dem Haus.

In den 1990er-Jahren ließ die Regierung in den Bergen Militärwachtürme errichten, um die Kämp­fe­r:in­nen der PKK im Blick zu behalten. Auch in Dersim kam es damals zu Gefechten, die Berge und Wälder galten der Guerilla lange als Rückzugsraum. Viele davon wurden niedergebrannt, ganze Regionen entzogen sich zeitweise der Kontrolle Ankaras.

Heute sind die Türme noch immer da. Kaya zeigt in die Ferne: Auf jedem Gipfel einer Bergkette steht einer dieser grauen Blöcke, wie Stempel in die Landschaft gesetzt. Von dort oben überblicken sie ganz Dersim. Wärmebildkameras scannen die Täler, Tag und Nacht registrieren sie jede Bewegung.

„Die türkische Regierung sieht in Dersim noch immer eine Gefahr“

„Die türkische Regierung sieht in Dersim mit seiner mehrheitlich alevitischen Bevölkerung und dem unzugänglichen Gebirge noch immer eine Gefahr“, sagt Kaya. „Deshalb bleibt das Militär präsent – um jede Form von politischem Widerstand im Keim zu ersticken.“ Für die Menschen in der Region sei das anstrengend. Einerseits habe man sich an die ständige Polizeipräsenz gewöhnt, ändern könne man ohnehin nichts. Andererseits wisse jeder, dass das Militär alles überwacht. Dieses Gefühl, ständig gesehen zu werden, liege wie ein Schatten über der Region.

Auch der Besuch der Reisegruppe in seinem Elternhaus stehe vermutlich unter Beobachtung, meint Kaya. Mit Sicherheit würden Kennzeichen notiert und Aufnahmen gemacht.

Etwa einhundert Meter weiter befindet sich ein mit grauen Steinen eingefasstes Familiengrab. Darauf stehen weiße Steine, nicht alle Namen sind eingraviert, aber: „Hier liegen alle“, sagt Kaya und zündet eine Kerze an. Sein Vater habe nach dem Massaker Haare, Schmuck und andere Überreste der Toten gesammelt. All das ruhe nun hier, zusammen mit seinem Großvater – und mit seinem Vater, der hier neben den Ermordeten bestattet werden wollte.

Nach dem Besuch des Friedhofs fährt die Reisegruppe weiter. Nach einigen Kurven hält der Bus am Straßenrand an. Von hier aus geht es nur noch zu Fuß weiter, über schmale Trampelpfade. Der Ort Halvori liegt etwa zwanzig Kilometer nordwestlich von Dersim-City. Umgeben von braunen trockenen Hügeln fließt unten im Tal der Fluss Munzur.

„Hierher trieb das Militär vor fast 90 Jahren die Menschen aus den umliegenden Dörfern“, sagt Kaya und bleibt am Hang stehen. Das türkische Militär versprach ihnen ein neues Leben im Westen der Türkei. Doch als sie die aufgestellten Maschinengewehre sahen, wussten sie: Dies war kein Aufbruch, sondern ein Ende. Erwachsene wurden erschossen, Kinder den Abhang hinab in den Munzur geworfen.

Yasar Kaya (links) und Hüseyin-Kenan Aydın auf dem Munzur-Berg Foto: Dersim Kultur- und Geschichtszentrum

Als die Soldaten abzogen, kamen Menschen aus dem Wald und aus nahegelegenen Dörfern hervor, die sich dort versteckt gehalten hatten. Sie suchten nach weiteren Überlebenden. Doch mehr als 200 Kinder, Frauen und Männer waren tot – unter ihnen auch sieben armenische Familien. Diese Zahl zumindest findet sich auf der Rückseite eines Fotos im unabhängigen Kalan-Musik-Archiv mit Sitz in Istanbul, notiert von einem Offizier: „217 Menschen“.

Die türkische Regierung blockiert die Aufarbeitung

Um eine offizielle Zahl handelt es sich dabei aber nicht. Die türkische Regierung blockiert die Aufarbeitung der Massaker und verbietet den Zugang zu staatlichen Archiven. Eine systematische Aufarbeitung gibt es also bis heute nicht – alternatives Archivmaterial und lokale Erinnerung werden vollständig ignoriert. Die türkische Regierung spricht deshalb von etwa 13.000 den Massakern in Dersim zum Opfer gefallenen Toten, während kurdisch-alevitische Quellen von 50.000 bis 70.000 Toten ausgehen.

Im Bus geht es weiter Richtung Ovacık. Ungefähr zwanzig Minuten vor der Kleinstadt hält das Fahrzeug an. Am Rand der Straße führt ein schma­ler Pfad hinab zur Steinschlucht Derê Laçi. Wer den Sommer 1938 überlebt hatte, suchte hier Zuflucht – in Höhlen auf der anderen Seite des Flusses. Doch das Militär fand sie auch hier: Viele wurden ermordet, manche sogar in den Höhlen vergast. Noch in den letzten Jahren gruben Privatpersonen säckeweise Knochen aus der Erde und in den Höhlen aus.

Nur jemand wie Kaya, der die Region kennt und ihre Geschichte versteht, sieht in Derê Laçi keinen harmlosen Flussort, sondern ein Massengrab. Die idyllische Natur verschleiert die Geschichte der Orte und bildet einen sonderbaren Kontrast.

Es erschwert die Aufarbeitung zusätzlich, dass in der Forschung kaum jemand die lokalen Sprachen Kirmanckî oder Kurmancî beherrscht und deshalb nur wenige Wis­sen­schaft­le­r:in­nen selbst mit Zeit­zeu­g:­in­nen reden können. Hinzu kommt die jahrzehntelange politische Verdrängung dieses Kapitels durch den türkischen Staat.

Wieder im Bus, fällt der Blick auf einen Berghang. Wie eine Statue steht dort eine Bergziege reglos im Sonnenlicht auf einem Felsvorsprung, den Blick hinunter zum Munzur gerichtet. Hinter ihr zeichnen sich die Bergspitzen ab, weiß vom Schnee. Die Szenerie wirkt friedlich, fast zeitlos – und doch erinnert sie daran, dass das Leben hier in den Bergen stets unter Beobachtung steht.

Auch Mustafa Sarıgül kennt dieses Gefühl. Der abgesetzte Bürgermeister von der CHP lebt mit seiner Familie in Ovacık, zwei Stunden nordwestlich von Dersim-City. 2016 beschuldigte ihn die AKP-Regierung des Terrors und enthob ihn seines Amtes. „Wenn der Regierung das Wahlergebnis nicht passt, setzt sie einfach einen Zwangsverwalter ein“, sagt Sarıgül. In der Türkei bestimmt der Präsident die Gouverneure, die in den Provinzen seine Politik durchsetzen sollen. Gerade in Dersim, wo die Opposition stark ist und die CHP viele Rathäuser stellt, gilt das als direkte Drohung.

Zwangsverwalter gab es auch schon vor der AKP-Regierung. Doch seit dem Putschversuch 2016 agiert die Regierung repressiver. Seitdem sehen sich CHP-Politiker:innen auch außerhalb der kurdischen Regionen mit dem immer gleichen Vorwurf angeblicher Verbindungen zur PKK konfrontiert. Erst im März 2025 sorgte auch die Absetzung von Ekrem İmamoğlu, dem gewählten CHP-Bürgermeister Istanbuls, für internationales Aufsehen.

In der Stadt Pülümür, drei Stunden nordöstlich des Zentrums von Dersim, empfängt Bürgermeister Müslüm Tosun Aydın (CHP) Kaya und die anderen in seinem Büro. Ein breiter brauner Schreibtisch dominiert den Raum, flankiert von zwei großen Flaggen – links die der Türkei, rechts die Stadtflagge. Über allem wacht der goldene Kopf Atatürks an der Wand. Mitarbeiter bringen Tee und Wasser.

Pülümür war einst eine belebte Kleinstadt: 1980 lebten hier noch 28.000 Menschen. Auch Aydın hat, bis er neun Jahre alt war, in Pülümür gelebt. Doch in den 1990er-Jahren vertrieb das Militär große Teile der Bevölkerung, erklärte das Gebiet zur Sperrzone. Tosun selbst erlebte diese Zeit. Noch heute, sagt er, kämpfe er als Bürgermeister mit den Folgen nationaler Politik.

Industrie gibt es keine, die Arbeitslosigkeit ist hoch

„Ich kenne die Region und die Menschen“, erzählt er. „Ich will eine Brücke sein zwischen ihnen und der Bürokratie.“ Seit gut 15 Jahren kehren Familien zurück, Straßen, Stromleitungen und Bewässerungssysteme werden erneuert. Trotzdem bleibe die Lage schwierig: Industrie gibt es keine, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Früher lebten viele von der Landwirtschaft – doch die Kämpfe zwischen PKK und Staat haben sie fast vollständig zerstört. Tosun will neue Arbeit schaffen, den jungen Menschen Gründe geben zu bleiben.

Nach dem Gespräch mit dem Bürgermeister biegt Aydın in eine schmale Seitengasse ein. An der Wand: ein großes Bild. Zwei Augen blicken ihn an, ernst und wachsam. Daneben sind Zugfenster gemalt, dahinter ein Blick in die Natur – als wolle die Mauer selbst eine Fluchtgeschichte erzählen. Bald soll die Gasse offiziell „Straße der Vertriebenen“ heißen.

Auch Kaya und Aydın gehören zu ihnen. „Interviews, Archive, Straßennamen – das sind kleine Schritte“, sagt Kaya. Schritte, um das Massaker sichtbar zu halten, gegen das Vergessen. Solange die Regierung die Aufarbeitung blockiert, bleibt es ihre Aufgabe weiterzukämpfen – für Anerkennung, für Erinnerung, für ihre Heimat Dersim.

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