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Der indische Guru und Sektenführer Bhagwan Shree Rajneesh 1984 neben einem seiner 75 Rolls-Royce im US-Bundesstaat Orego Foto: Dieter Klar/dpa/picture alliance

Missbrauch in der Bhagwan-SekteDie Opfer der befreiten Menschen

Sarito Carroll lebte in Bhagwans Kommune in Oregon, die vor 40 Jahren in Chaos endete. Wie viele Jugendliche wurde sie dort missbraucht.

Anke Richter
Von Anke Richter aus San Anselmo

Z wei Paar Schuhe hält Sarito Carroll in den Händen – welches soll sie anziehen? Für den Bummel durchs kalifornische San Anselmo entscheidet sie sich für die eleganteren: „Ich will auf keinen Fall wie ein Hippie aussehen!“ Die Autorin und Akupunkteurin ist aus Boulder für eine Diskussionsveranstaltung am nächsten Tag in San Francisco eingeflogen. Darin wird es um Osho gehen. Bekannt als Sektenführer Bhagwan – und für eine Ideologie, die Menschen befreit hat und andere zerstört. Vor allem ehemalige Kinder aus der noch immer aktiven Bewegung.

Sarito Carrolls Vater war ein Junkie aus New York; die alleinerziehende Mutter Hippie. 1978 verschlug es die Suchende mit ihrer kleinen Tochter ins indische Pune, in die Kommune von Bhagwan Shree Rajneesh. Tausende aus aller Welt strömten zu dem Guru, in orange und später rot gekleidet. Die meisten waren gutbürgerlich und gebildet, mehr als die Hälfte weiblich, ein Drittel Deutsche. Die Sannyasins tanzten, meditierten, musizierten und schufteten im Dauerrausch für ihren Meister. Der Mystiker und Philosoph, der sich als kapitalistischer Rebell mit Rolls-Royce-Flotte inszenierte, versprach ihnen göttliche Ekstase durch sexuelle Freiheit.

In Encounter-Workshops brüllten und prügelten seine Anhänger alles Belastende aus sich heraus. Es gab Psychokoller, Knochenbrüche, sogar Vergewaltigungen. Ziel war das Überwinden elterlicher Prägungen und Moralvorstellungen. Sich ergeben, „surrender“, loslassen, ein neuer Mensch ohne Scham, Ängste, Bindungen oder Eifersucht werden. Offene Beziehungen waren die Norm. Junge Frauen ließen sich sterilisieren, denn Kinder wollte Bhagwan keine. Sie würden die spirituelle Entwicklung behindern. Trotzdem brachten einige seiner Anhänger ihren Nachwuchs mit.

„Bhagwan sagte immer, dass wir nicht unseren Eltern gehören, sondern der Kommune,“ erzählt Carroll auf dem Weg ins Café. Ihre rostroten Locken wippen, sie spricht schnell und präzise, wirkt gefasst. Bitterkeit oder Wut sind dank jahrzehntelanger Therapie kaum noch spürbar. Carroll klingt abgeklärt, als sie sagt: „Sie sollten uns aufgeben, um glücklicher zu sein.“ Ihre Mutter sah sie im Aschram kaum noch. Die beiden wohnten getrennt. Die Beziehung wurde damals dauerhaft zerrüttet. Im Meer der neuen Menschen fühlte die Neunjährige sich einsam und verloren. Zunächst.

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Sexuelle Befreiung ohne Grenzen

Alle Jün­ge­r:in­nen erhielten bald nach der Ankunft in Pune neue indische Namen. Aus der amerikanischen Jennifer Carroll wurde Ma Prem Sarito, was „Fluß der Liebe“ bedeutet. Für sie hieß das, dass sie endlich dazugehörte. Das Foto der Sannyas-Initiation, bei der ihr der bärtige Guru die Hand auflegt, ist das Titelbild ihrer Memoiren „In the Shadow of Enlightenment“, im Schatten der Erleuchtung. Der Schatten, von dem hier die Rede ist, beschreibt die Kehrseite einer Parallelwelt, in der „love and light“ gepredigt wurde. In ihr galt es, immer strahlend positiv zu sein – und vor allem kein Opfer.

Bhagwan predigte, dass man seiner eigenen „Energie“ folgen solle. Dem Drang nach Sex stets nachzugeben und ihn auch vor Kindern auszuleben, damit sie nicht verklemmt würden. „Unsere kulturelle Norm verschob sich“, sagt Carroll und sucht sich in einem lebhaften Straßencafé einen Tisch im Freien aus. „Wir waren desensibilisiert. Es gab keine Grenzen, niemand passte auf uns auf.“ Die Aschramkinder lachten über die ungehemmten Erwachsenen oder imitierten sie. Nichts konnte sie schocken. „Ich habe viele Erektionen gesehen“, schreibt Carroll in ihrem Buch. Das schüchterne Mädchen ist zehn, als es einen Mann mit der Hand sexuell befriedigt und dabei versucht, die Übelkeit zu unterdrücken: „Ich wollte nicht, dass jemand merkt, dass ich nicht so frei und locker war, wie es von uns erwartet wurde.“

1981 zog der Sex- und Psychokult in die USA um, um Steuerproblemen mit der indischen Regierung zu entkommen. Im Hinterland Oregons kauften die geschäftstüchtigen Rajneesh-Jünger die verlassene Big Muddy Ranch, von der aus die Weltherrschaft übernommen werden sollte. Um 260 Quadratkilometer Wüste – im Winter von Schnee bedeckt, im Frühling mit Schlamm – in eine blühende Oase zu verwandeln, brauchten die Utopisten Freiwillige. Eine neue Pilgerwelle in weinrot begann: Arbeit als „worship“, als Anbetung und Meditation, um die heilige Stadt Rajneeshpuram zu errichten. Sarito kam als eine der ersten aus Pune an, ohne Eltern oder Vormund – für das, was sie heute als Kinderarbeit bezeichnet. Der Landeswechsel war von oben entschieden worden. Wieder war die Zwölfjährige einsam und fremd. Der Schlafsaal, wo sie allein mit 14 Männern einquartiert wurde, hatte Matratzen statt Betten und nur ein einziges Bad, sagt Carroll. Niemand schloss ab, jeder war nackt. Dusche und Klo wurden von allen benutzt.

Das jüngste Mädchen mit „Boyfriend“

Das Mädchen versuchte, heimlich nachts zu duschen. Sie schämte sich dafür, dass sie so prüde war und ihren Körper versteckte. Das war nicht „juicy“, wie all die sinnlichen Frauen der Kommune. Vor dem Einschlafen hörte die Pubertierende, wie die Männer um sie herum die Eroberungen des Tages verglichen und auch ihre sprießenden Brüste und Schamhaare kommentierten. „Das war alles normal für mich“, sagt Carroll. „Nur ich fühlte mich nicht normal, denn ich hatte diese altmodische Vorstellung von reiner, romantischer Liebe.“

Sarito Carroll in San Anselmo im Juni 2025 Foto: Rachel Bujalski

Im ersten Monat in den USA traf Sarito Carroll Milarepa, den Star der Rajneesh Country Band, einer kommunen­eigenen Musikgruppe. Jeden Abend verließ der Amerikaner den Esssaal der Kommune mit einer anderen „Ma“. Er spielte Eagles-Songs und lud die junge Sarito Carroll zur Pokerrunde ein. Während er die Karten mit der einen Hand hielt, schob er wie selbstverständlich die andere unter ihr T-Shirt auf ihre Brust. Sie erstarrte und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, denn keiner der Anwesenden störte sich daran. Da sich das Szenario bald wiederholte, glaubte Carroll: „Ich bin etwas Besonderes für ihn.“ Danach sehnte sie sich. Nicht nach der Fummelei.

Milarepa war damals 29 Jahre alt und gehörte zu einer Gruppe von Männern, die Entjungferungen als kompetitiven Sport sahen. Das erste Mal mit ihm in seinem Trailer war schmerzhaft, sagt Carroll. Keine Spur der Ekstase, von der alle ständig sprachen. Milarepa benutzte kein Kondom und verabschiedete sich am nächsten Morgen knapp zu seiner 12-Stunden-Schicht. Die Jugendliche war verstört und enttäuscht. Aber sie redete sich ein, dass sie doch eigentlich stolz sein müsse: „Ich war das jüngste Mädchen auf der Ranch mit einem Boyfriend. Das war eine Ehre.“

Drei Tage später wurde sie zur Klinik der Kommune bestellt. Ihr und drei anderen Minderjährigen sollten Diaphragma eingesetzt werden. Bis heute weiß Carroll nicht, wer das veranlasst hatte. Keine der „Moms“, wie die verantwortlichen mütterlichen Frauen hießen, hatte sie auf Milarepa angesprochen. Geschweige denn jemals richtig aufgeklärt. „Aber jemand in hoher Position wusste Bescheid.“

Die Nächte mit Milarepa setzten sich fort. Sarito Carroll hielt es für eine Beziehung, ihre heimliche große Liebe. Alle Gedanken drehten sich um den ersten Lover. Auch wenn sie die Jüngste war, war sie nicht die einzige: Carroll schätzt, dass 80 Prozent der rund 40 Jugendlichen auf der Ranch mit Erwachsenen schliefen. Sie weiß von einem Mädchen, das vor dem 16. Lebensjahr mit etwa 70 Männern Sex hatte. Eine andere mit 150. „Es war Vergewaltigung von Minderjährigen“, stellt die 56-Jährige jetzt klar. „Sexueller Kindesmissbrauch und Vergewaltigung.“ Erst ignoriert, später vertuscht und geleugnet.

In die Schule ging Sarito Carroll kaum noch. Sie arbeitete erst in der Großküche der Kommune und dann im Büro, im innersten Zirkel, unter Bhagwans berüchtigter Sekretärin Ma Anand Sheela. Die toughe Inderin verwandelte die provisorische Wüstenenklave in eine Stadt mit eigener Fluglinie, Hotel und paramilitärischer Einheit. 4.000 Menschen lebten im Schnitt in Rajneeshpuram, zum jährlichen „World Festival“ waren es um die 20.000.

Für die größenwahnsinnige Mission brauchte es große PR. Ein deutsches Model in Bhagwans Schlepptau schlug Sarito Carroll vor, Fotos von sich machen zu lassen. Damit kam das Vorzeigegirl aufs Cover der Rajneesh Times, der Zeitung des Bhagwan-Kults. In roter Uniform flog sie als 14-jährige Stewardess für Air Rajneesh. Mehr Männer sprachen sie an. Wer nachgab, wuchs im Ansehen: „Je ‚befreiter‘ du warst, desto besser.“ Aber Sarito Carroll war hoffnungslos in Milarepa verliebt, der auch mit anderen ins Bett ging. „Über drei Jahre sicher mit mehreren hundert“, sagt Carroll beim Lunch und versucht, die Blicke der älteren Frauen am Nachbartisch zu ignorieren. Seine Kumpel verpassten ihm als Scherz den Spitznamen „rapist“ (Vergewaltiger). Manche Jungen hätten ihn daher „Milaraper“ genannt.

Auf Klubtour für den Meister

Im Eiscafé von Rajneeshpuram gab es jede Woche eine Teenie-Disco. Stets dabei: die Männer und Frauen, die sexuell an Jugendlichen interessiert waren. Eine der Partys endete als Orgie mit verbundenen Augen, so erinnert sich Carroll, auch Milarepa sei involviert gewesen. Es folgte ein Anpfiff von Bhagwans rechter Hand Sheela. Die strenge Oberbefehlshaberin war wütend wegen des Lärms und Alkohols. Nicht wegen der sexuellen Übergriffe.

Um ihren Liebeskummer loszuwerden, wurde auch Sarito Carroll promiskuitiv. Nicht aus Spaß am Sex, sondern weil sie jede Selbstachtung verloren hatte. Ein Mann bekam sie rum, indem er jammerte, Sex mit ihr würde seinen Rückenschmerzen helfen. Ein Absolvent der britischen Elite-Schule Eton, in seinen Dreißigern, wurde ihr nächster Boyfriend – es war das selbe Spiel. Jedes Mal fühlte sie sich benutzt, wenn das erotische Interesse an ihr nur flüchtig war, alle lebten ja „im Moment“. Sarito Carrolls unterschwellige Wut wuchs und damit auch die kognitive Dissonanz. Denn was sie stets hörte, war: dass sie sich glücklich schätzen könne, nicht in der Welt draußen zu leben, unter Unerleuchteten, sondern in Bhagwans Nähe.

Die Rajneesh-Bewegung breitete sich Anfang der 1980er Jahre in mehr als 30 Ländern aus. Der europäische Hauptsitz war in Köln. In Deutschland entstanden 43 Zentren mit 15 „Zorba the Buddha“-Restaurants und 13 Discotheken, die eine halbe Million Besucher im ersten Jahr hatten.

Sarito Carroll sollte plötzlich wieder die USA verlassen. Fünf Monate lang wurde sie durch Kommunen in Köln, München, Zürich und Freiburg geschleust, wo sie hinter Disco-Tresen kellnerte. In Amsterdam musste sie bei der Renovierung der Kommune in einem ehemaligen Gefängnis helfen und verletzte sich dabei mit dem Presslufthammer den Rücken.

Heute vermutet sie, dass ein Grund für ihren unfreiwilligen „Auslandsaustausch“ die Vertuschung des Missbrauchs an ihr war. Denn während ihrer Abwesenheit ließen zwei „Moms“ eine geheime Liste derer erstellen, die mit Minderjährigen intim waren. Es waren mehr als hundert Männer und Frauen. Ihnen wurde lediglich nahegelegt, sich in Zukunft diskreter zu verhalten, damit nichts an die Presse gelange. „Wenn Journalisten auftauchten,“ erinnert sich Carroll, „dann spielten wir ihnen immer vor, dass wir total happy sind und alle brav zur Schule gehen.“

Es ist zum Wahnsinnigwerden. Als Kinder wurden wir marginalisiert – und jetzt wieder

Sarito Carroll, Betroffene sexualisierter Gewalt in der Bhagwan-Kommune

Auf der Ranch verschärfte sich die Lage derweil intern und extern. Als die Aggression zwischen dem benachbarten Städtchen Antelope und den paranoiden Ranch-Bewohnern eskalierte, griffen letztere zu immer radikaleren Methoden: Um die Lokalwahlen zu ihren Gunsten zu beeinflussen, karrten die Bhagwan-Jünger rund 3.000 Obdachlose aus umliegenden Städten heran und verabreichten ihnen ohne ihr Wissen Psychopharmaka, um sie ruhig zu stellen – getarnt als humanitäre Aktion. Nach der Stimmabgabe wurden diese Menschen wieder ausgesetzt. Die Kampagne der Kommune gipfelte im größten Bioterroranschlag der USA, bei dem über 700 Menschen in The Dalles mit Salmonellen vergiftet wurden.

Das rote Sektenimperium kollabierte, als das FBI anrückte. Am 14. September 1985 floh Strippenzieherin Sheela nach Deutschland, wo sie festgenommen und in die USA ausgeliefert wurde. Ende Oktober wurde auch der Pop-Guru verhaftet. Die Kommune kam zum Stillstand. Die Außenwelt reagierte entsetzt auf die Verbrechen im Namen einer neuen Religion. Doch für die jüngsten Opfer interessierten sich die wenigsten.

Auch als das Drama von Oregon 2018 in der Netflix-Doku „Wild Wild Country“ rekonstruiert wurde, sparten die Filmemacher das Schicksal der Osho-Kids aus, obwohl die Fakten vorlagen: Eine 121 Seiten lange Untersuchung des US-Justizministeriums stellte bereits 1983 fest, dass „Sex zwischen Erwachsenen und Kindern an der Tagesordnung war“. Dennoch sagt Carroll: „Die Serie war ein Wendepunkt für uns.“ Sie habe die sechs Folgen in zwei Tagen verschlungen. „Wir wollten nicht länger unsichtbar bleiben.“

Als sich die Kommune in Panik auflöste, wusste Sarito Carroll nicht, wohin. Mit ihrer Mutter hatte sie vier Jahre lang kaum Kontakt gehabt. Ohne Geld und Familie begann eine neue Odyssee für die nun 16-Jährige – mit brutalem Erwachen, was ihre Ex-Lover anging: „Ich erkannte endlich die Wahrheit über sie.“ Die Wahrheit über Bhagwan, seine Helfershelfer und deren Vertuschen tat sich erst viel später auf. Der Sektenführer kehrte nach seiner Abschiebung aus dem US-Gefängnis nach Indien zurück, wo er 1990 mit 58 Jahren unter mysteriösen Umständen starb. Erst kurz vor seinem Tod nannte er sich in Osho um.

Die Umstellung auf die kulturellen Normen der Außenwelt war hart. „Ich fühlte mich wie ein Alien, der als Teil eines sozialen Experiments in die Gesellschaft eingeführt wird,“ beschreibt Carroll diese Zeit in ihrem Buch. Sie trug übergroße Pullis, um ihren Körper zu verstecken. Freundinnen von der Ranch hielten sich mit Prostitution über Wasser – „manche bis heute“. Die größte Hürde war ihr Bildungsmangel.

Sarito Carroll holte den Schulabschluss nach, um Literatur zu studieren. Als sie im ersten College-Jahr „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood las, fühlte sich die Not der sexuell ausgelieferten Handmaid verstörend vertraut an. Seitdem wusste die Studentin, dass sie ihre Geschichte erzählen musste. Aber bis sie sich vollends aus dem Schatten der Vergangenheit wagte, dauerte es noch über dreißig Jahre. Rajneeshpuram war inzwischen zur Geisterstadt geworden und verkauft.

In diesem Zeitraum verlor Carroll engste Freundinnen, die Ähnliches erlebt hatten. Eine landete in der Psychiatrie und versuchte, sich das Leben zu nehmen. Eine andere starb an einer Eileiterschwangerschaft, nachdem sie die Sterilisation aus jungen Jahren in Indien hatte rückgängig machen lassen. In der sogenannten zweiten Generation, wie bei anderen Sekten auch, gibt es überdurchschnittlich viele Fälle von Suiziden, Depressionen, Krankheiten, Drogensucht und Armut. Als einen „Pfad der Verwüstung“ bezeichnet Carroll dieses Erbe der Bhagwan-Utopie. Sie spricht von Glück, dass sie überlebt hat.

Mit ihrer Mutter war keine Vergangenheitsbewältigung möglich. An Milarepa schickte sie einen Brief, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Trotz Einschreiben kam keine Antwort. Er tourte weiterhin als „Oshos Musiker“ um die Welt, ein Star der Szene. Schließlich appellierten Carroll und andere Betroffene 2021 an die verbliebene Community, die weltweit auf über Hunderttausend geschätzt wird. Sie nannten Namen, verlangten Aufklärung und Entschädigung. Plötzlich meldete sich Milarepa per Video zu Wort und postete eine „Entschuldigung an Sarito und die Osho-Sangha“, also die Osho-Gemeinschaft. Für sein Opfer klangen seine Worte hohl und kamen zu spät. „Es war vor allem PR, um seinen Ruf zu retten.“

Manche aus der Elterngeneration reagierten betroffen auf die Berichte der Missbrauchten. Doch die wenigsten sahen eine eigene Mitschuld, geschweige denn die ihres längst verstorbenen Gurus. Ihr Denken folgte der alten Ideologie: Wenn es dir schlecht geht, bist nur du selbst dafür verantwortlich und musst stärker an dir arbeiten. „Dieses Gaslighting ist zum Wahnsinnigwerden“, sagt Carroll. „Als Kinder wurden wir marginalisiert – und jetzt wieder.“ Als sie das letzte Mal in Colorado auf Osho-Fans traf, wurde sie wie eine Aussätzige geschnitten. Dennoch hält Carroll die meisten für „warmherzige, idealistische Menschen“. Gerade deshalb tue die Missachtung so weh.

Trotz des Leugnens und Verdrängens war die Flut der Enthüllungen nicht mehr zu stoppen. Es folgten Medienberichte, auch über Rajneesh-Schulen in England. Und dann als Antwort auf „Wild Wild Country“ im Jahr 2024 der BAFTA-nominierte Dokumentarfilm „Children of the Cult“, an dem Sarito Carroll mitwirkte. Regisseurin Maroesja Perizonius, auch ein ehemaliges Kommunenkind, interviewte die 76-jährige Sheela, die heute in der Schweiz lebt und noch immer ihre Unschuld beteuert. Täter werden vor laufender Kamera konfrontiert, auch Milarepa – wieder ohne weitere Konsequenzen. Denn seine Straftaten sind lange verjährt. Zuvor hatte er behauptet: „Es gab kein Grooming oder Belästigung.“

Rückkehr auf die Bhagwan-Ranch

Die geschätzte Zahl der missbrauchten Kinder in der Bhagwan-Sekte geht in die Hunderte, doch kein einziger Täter stand jemals vor Gericht. Eine Anwaltskanzlei, die eine Sammelklage anstrebte, gab nach sechs Monaten wieder auf. Die Osho International Foundation OIF in Zürich ist zuständig für den intellektuellen Nachlass des Sektengründers, seine millionenfach verkauften Bücher und den in ein Meditationsressort umgewandelten früheren Ashram in Pune. Die Stiftung weist jede Verantwortung von sich. „Es gibt niemanden bei Osho International, der eine organisatorische Funktion in den erwähnten Objekten hatte, und daher wissen die Mitarbeitenden nichts von diesen Schilderungen“, so ein OIF-Sprecher 2022 gegenüber der Sunday Times. „Jede von uns sollte eine angemessene Summe bekommen für all die Jahre an Therapie“, sagt Carroll und schiebt ihren halb gegessenen Salat von sich. „Ich hätte mir von den Kosten ein Haus kaufen können.“ Jetzt ist sie doch aufgewühlt. Sie schluckt, als sie über ihre gescheiterten Beziehungen spricht, und warum sie nie ein Kind bekommen wollte. „Ich hatte einfach zu viel Angst, selbst Alleinerziehende zu werden. Weil ich es als so schrecklich erlebt habe.“ An Weihnachten besuchte sie ihre Mutter, die jetzt in Portugal lebt – zum ersten Mal seit sechs Jahren. „Es lief ganz gut, aber sie will nicht darüber sprechen. Eine richtige Entschuldigung habe ich nie bekommen.“

Warum hat sie trotz der negativen Assoziation ihren Sannyas-Namen behalten? „Als ich mein Buch schrieb, war das ein Schutzmechanismus“, antwortet sie. „Die, die mich angreifen wollen, gehen nur auf Sarito los.“ Jennifer steht nach wie vor in ihrem Pass. Carroll kann sich dahinter verstecken und anonym sein. Es macht ihr auch nichts aus, wieder rot zu tragen. „Ich hole mir die Farbe zurück. Sie gehört nicht Osho. Und sie steht mir!“ Fast hätte sie für den anstehenden Event ein rotes Top in den Koffer gepackt.

Der zweite Eistee ist ausgetrunken. Carrolls Handy surrt: Die Nachricht einer Freundin von damals, die bei ihrer Lesung morgen im Publikum sein wird. Eine der wenigen, die sich nach dem Enthüllungsbuch nicht weggeduckt haben. Seit der gemeinsamen Flucht von der Ranch vor 40 Jahren haben sie sich nicht mehr gesehen, aber die Erinnerung ist noch frisch: „Ich saß hinten im Auto mit meinen wenigen Sachen, unter Schock.“

In diesem Frühjahr kehrte Carroll erstmals für ein Fernsehinterview an den Schicksalsort zurück, der jetzt ein christliches Sommercamp ist. Wieder war sie überwältigt, aber diesmal von der Schönheit der Landschaft, der Weite und Ruhe – „ohne die tausend Menschen von damals“. Der Rundgang durch die alten Gebäude war heilsam. Nichts triggerte sie mehr, sagt sie. „Es war ein Schlussstrich.“ Am Krishna­murtisee, den die Kommunarden einst als Wasserreservoir angelegt hatten, vollzog sie ein spontanes Ritual. Sie schmiss Steine ins Wasser. Dann kamen die Tränen.

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