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Sängerin Christina Daletska Anfang September 2025 in Lwiw Foto: Jule Wild

Bürgergesellschaft in der UkraineDie zivile Front

Seit beinahe 1.300 Tagen verteidigt die Ukraine ihr Land und ihre Demokratie – auch dank tausender Akteure der Bürgergesellschaft. Wie schaffen sie das?

O ft war in den vergangenen Monaten von der Kriegsmüdigkeit der ukrainischen Gesellschaft zu lesen. Und ja, natürlich sind die Menschen in der Ukraine kriegsmüde. Aber natürlich machen sie auch weiter, unermüdlich.

Wie Christina Daletska, Dariia Kuzmych und Kseniia Kalmus. Drei Frauen mit sehr unterschiedlichen Lebenswegen – eins aber haben sie gemein: Der 24. Februar 2022 hat ihr (Arbeits-)Leben umgekrempelt, seit nunmehr 1.290 Tagen setzen sie sich dafür ein, dass die Ukraine in diesem Krieg überlebt.

Christina Daletska ist Opernsängerin und hat mehrere hunderttausend Euro Spenden gesammelt und organisiert unter anderem humanitäre Hilfe. Die Künstlerin Dariia Kuzmych hilft den versehrten und traumatisierten Sol­da­t:in­nen bei der Rückkehr ins zivile Leben. Und Kseniia Kalmus, eigentlich Floristin und Blumenkünstlerin, baut in einem Souterrain in Kyjiw mit einem Freiwilligenteam Drohnen.

Es ist ein Kraftakt, den die Frauen, die wir hier vorstellen, tagtäglich leisten. Denn dies ist ein Krieg, den die ukrainische Bür­ge­r:in­nen­ge­sell­schaft mindestens genauso führt wie der Staat: ein Krieg der Volunteers, der Fundraiser:innen, der Heimwerker:innen.

Zivilgesellschaftliche Ak­teu­r:in­nen unterstützen die ukrainischen Streitkräfte, helfen Kriegsopfern und Binnenvertriebenen, leisten humanitäre Hilfe, beteiligen sich an der Rehabilitation der Kriegsversehrten, unterstützen deren Familien. Das Geld dafür wird oft über Crowdfunding eingeworben. Als „Fundraising-Krieg“ wurde die Kriegsführung von ukrainischer Seite auch schon bezeichnet. Die Trump-Regierung hat die USAID-Hilfen vielerorts zurückgezogen, dadurch werden Spendengelder nun noch wichtiger als zuvor.

Dass der Krieg viele Ukrai­ne­r:in­nen aktiviert und mobilisiert hat, zeigen auch die Zahlen. In den Jahren 2022 und 2023 registrierten sich 6.367 beziehungsweise 4.988 Wohltätigkeitsorganisationen neu; vorher waren 750 pro Jahr das Mittel. Insgesamt zählt man in der Ukraine mittlerweile rund 20.000 zivilgesellschaftliche Organisationen. Freiwilligenorganisationen zählen zu den angesehensten Institutionen des Landes, mehr als 80 Prozent der ukrainischen Bür­ge­r:in­nen vertrauen ihnen. Nur die Polizei und die ukrainischen Streitkräfte erreichen höhere Werte.

Die Zivilgesellschaft unterstützt auch das Militär. Überall im Land sind kleine Drohnenwerkstätten entstanden, die einen Beitrag dazu geleistet haben, dass die monatliche Produktion von Drohnen von 20.000 im Sommer 2024 auf über 200.000 im Juli dieses Jahres gestiegen ist.

In einer Untersuchung zur Rolle der Zivilgesellschaft bei der ukrainischen Verteidigung kommt der Thinktank Sahaidachnyi Security Center zu dem Ergebnis, dass „in vielen Brigaden zwischen 30 und 100 Prozent der kritischen Versorgungsgüter – wie Drohnen, taktische medizinische Ausrüstung und Schutzausrüstung – von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Freiwilligen“ stammen. Über die Hälfte der Militärfahrzeuge würden von Freiwilligen beschafft und auch repariert, heißt es zudem.

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Humanitäre Hilfe wird auf sehr unterschiedliche Art und Weise geleistet. Eine wichtige Aufgabe dürfte in den kommenden Jahren die Wiedereingliederung der Ve­te­ra­n:in­nen sein; manche in der Ukraine sagen, sie stelle die größte Herausforderung dar. Aktuell werden 1,4 Millionen Ve­te­ra­n:in­nen gezählt, man geht davon aus, dass diese Zahl noch auf mindestens 4 bis 5 Millionen ansteigen wird.

Mehr als die Hälfte der zivilgesellschaftlichen Organisationen und Freiwilligeninitiativen kümmern sich in irgendeiner Form um den Wiederaufbau der Ukraine, zeigt eine Untersuchung. All diese engagierten Menschen machen vor, wie man ein demokratisches Gemeinwesen bildet, fördert und verteidigt.

Sag mir, wo die Blumen sind

Kseniia Kalmus war Meisterfloristin, hat an Wettbewerben für Blumenkunst teilgenommen. Nun betreibt sie eine Drohnenwerkstatt. Ihre Geschichte erzählt viel über den russisch-ukrainischen Krieg.

Eine ihrer Drohnen hat einen russischen Panzer im Wert von 4 Millionen Euro zerstört Foto: Marcus Heep

Kseniia Kalmus betritt das Büro ihrer Werkstatt im Souterrain an einem geheimen Ort in Kyjiw. In dem Raum stapeln sich Pakete, die Wände sind kahl, abgesehen vom Banner einer ukrainischen Kampfbrigade. Nebenan befindet sich eine etwa 30 Quadratmeter große Werkstatt. Kalmus steht vor ihrem Schreibtisch, sie nimmt zur Hand, was hier produziert wird: eine FPV-Drohne.

FPV steht für „First Person View“, es sind die ferngesteuerten Drohnen mit Kamera, die im russisch-ukrai­nischen Krieg tausendfach eingesetzt werden. „Hier sitzen die Motoren“, erklärt die 36-Jährige und zeigt auf die vier Enden eines Kreuzes, das von zwei Metallstreben gebildet wird. „Und hier in der Mitte wird die Kamera befestigt, sehen Sie, über die Elektronik und Sensoren wird sie mit der Fernbedienung verbunden.“

Für Kalmus sind Drohnen inzwischen ihr tägliches Geschäft. Vor etwa einem Jahr hat sie die Werkstatt mit Freiwilligen aufgebaut. Rund 20 Menschen helfen hier beim Drohnenbau, Student:innen, Rentner:innen, sogar Schüler:innen, zwischen 15 und 78 Jahren. Für viele verschiedene Militärbrigaden stellen sie Drohnen her, durchschnittlich etwa 50 pro Woche, alle Größen: 8 Zoll, 10 Zoll, 13 Zoll.

In der Werkstatt werden ferngesteuerte Drohnen mit Kamera produziert, sogenannte FPV-Drohnen Foto: Marcus Heep

Die meisten werden als Kamikaze-Drohnen eingesetzt, das heißt, sie tragen einen Sprengkopf und werden gezielt gesteuert, um feindliche Sol­da­t:in­nen anzugreifen und militärisches Gerät, zum Beispiel Panzer, zu zerstören. Auf ukrainischem, aber auch auf russischem Gebiet.

Russland übersät die Ukraine mit solchen Drohnen, stellt diese in Massenfabrikation her, wirbt gar Gast­­­arbei­te­r:in­nen dafür an. In der Ukraine gibt es deutlich weniger Drohnen­fabriken, dafür mehr kleinere Hersteller wie die Werkstatt von Kseniia Kalmus.

KLYN Drones nennt sie ihr Produkt, die ­Werkstatt kommt daher wie ein Start-up in einem Hobbykeller, Kalmus hat Badges und T-Shirts mit dem Logo und Namen ihrer Firma gedruckt. Das Projekt ist komplett spendenfinanziert. Die meisten Teile für ihre Drohnen kommen aus ukrainischer Herstellung. Die Mit­ar­bei­te­r:in­nen arbeiten hier überwiegend freiwillig und unbezahlt.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Wie Kseniia Kalmus in diese zur Werkstatt umgebauten Souterrainräume gekommen ist, erzählt viel über den russisch-ukrainischen Krieg. Kalmus stammt aus Dnipro, sie hat einen Abschluss in Management und Wirtschaft gemacht und einen Meistertitel in Floristik. Bis zum 24. Februar 2022 hat sie als Blumenbinderin und -künstlerin gearbeitet.

In der Ukraine hat sie einen Wettbewerb für Blumenkunst gewonnen, noch nach Beginn des russischen Angriffskriegs hat sie ihr Land im Mai 2022 bei einem internationalen Wettbewerb in Italien vertreten und den dritten Platz belegt – „Licht am Ende des Tunnels“ sei das Thema gewesen, sagt sie. In ihre Arbeit hat sie verbrannte und verkohlte Äste aus einem der kurzzeitig besetzten Dörfer der Region Kyjiw integriert. Schäden des Kriegs.

Doch eigentlich beginnt Kalmus direkt nach Beginn der vollumfänglichen Invasion als Freiwillige zu arbeiten. „Es war nicht mehr die richtige Zeit für Blumen“, sagt sie und klingt dabei sarkastisch. Sie schließt sich mit anderen Volunteers zusammen, liefert humanitäre Hilfsgüter in die Ostukraine. Als sie die Zerstörung dort sieht, will sie mehr tun – und den Wiederaufbau mit­organisieren.

Anfang Mai 2022 gründet sie zusammen mit zwei Freunden eine Wohltätigkeitsorganisation, die etwa 400 Häuser neu deckt, drei Schulen teilweise wiederaufbaut. Immer wieder seien sie in das Dorf Slatyne bei Charkiw gefahren, um dort beim Wiederaufbau anzupacken. „Eines Tages im Mai 2024 rief ich den Dorfvorsteher an und teilte ihm mit, dass ich nun das Metall für 30 weitere Häuser bezahlen wolle, das kurz danach geliefert werden könne. Daraufhin antwortete er: ‚Bitte hören Sie auf.

Es hat keinen Sinn mehr, wieder aufzubauen. Das ist zu riskant.‘“ Die Russen hatten das Dorf wieder angegriffen und zerbombt. Später fährt Kalmus selbst nach Slatyne, schaut sich die neuerliche Zerstörung an. „Ich habe geweint, als ich das gesehen habe.“ Sie zeigt auf dem Handy ein Video mit völlig zerstörten Häusern.

Kalmus redet schnell, sie sitzt in rotem Kleid und schwarzem Oberteil hinter dem Schreibtisch, die exemplarische Drohne die ganze Zeit vor sich. Eine Freiwillige kommt ins Büro, sie tritt ihren Dienst an, überreicht Kalmus ein Paket, das gerade angekommen ist. Absender: eine ukrainische Brigade. „Ah, wahrscheinlich ein Dankes­chön-Paket“, sagt sie und stellt es zur Seite. „Manchmal schicken sie uns T-Shirts oder Flaggen ihrer Brigaden, um sich für die Lieferungen zu bedanken.“

Nach dem schrecklichen Erlebnis in dem Dorf habe sie gedacht: „Die Russen waren der Grund, warum ich aufgehört habe, Blumen zu binden. Dann haben sie die Häuser zerstört, die wir gedeckt hatten.“ Sie habe überlegt, was sie nun tun könne. Und sei zu dem Schluss gekommen: „Ich will wirklichen Widerstand leisten. Etwas tun, damit die Russen gestoppt werden.“

Im Sommer 2024 lässt sie sich professionell ausbilden, lernt an einer Schule für Ingenieurwesen und Piloten Drohnen zu steuern und zu bauen. Zusammensetzen, schrauben, löten. Nachdem sie die Ausbildung beendet hat, baut sie ein neues Team auf, mietet den Werkstattraum an.

„Ich bin eine Macherin“, sagt Kseniia Kalmus. „Sagen kann man immer viel; was zählt, ist das Handeln.“ Und sie erzählt, wie eine ihrer Drohnen einen russischen Panzer im Wert von 4 Millionen Euro zerstört habe.

„Uns kostet das Material nur 360 Euro“, sagt sie und hebt die Drohne vor ihr in die Luft. Es gibt einige solcher Fälle, ukrainische Drohnen haben auch schon russische Artillerieaufklärungsradare zerstört, deren geschätzter Wert 21 Millionen Euro war. „Jede Drohne zählt“, sagt Kalmus. Sie grinst herausfordernd und reißt die Augen dabei weit auf. Als wolle sie sagen: Diesmal werden die Russen nicht kaputt machen, was ich mir aufgebaut habe.

Mezzosopran für Menschenrechte

Sie arbeitet weiter mit russischen Künst­le­r:in­nen zusammen – aber nur, wenn sie sich gegen Putin aus­sprechen

Wenn Christina Daletska nicht auf der Bühne steht, sammelt sie Spenden für die Ukraine. Das gefällt nicht jedem.

Kölner Philharmonie, ein Abend im Mai 2025. Nach dem Ende des Konzerts stellt sich die Sängerin Christina Daletska an eine der Saaltüren. Eine gelb-blaue Fahne liegt über ihren Schultern, in der Hand hält sie eine Sammelbox. „#peaceforukraine“ steht darauf. Sie bittet um Spenden für lebensrettende Medikamente.

Nach dreieinhalb Jahren Krieg sei die Spendenbereitschaft deutlich gesunken, sagt sie: „Zu Beginn des Kriegs haben wir an einem Abend oft 5.000 Euro oder mehr gesammelt, heute sind wir froh, wenn es noch ein Drittel ist.“

Von den Szenen des Konzertabends in Köln berichtet Christina Daletska im Videogespräch aus der Schweiz. Die 40-jährige Sängerin stammt aus Lwiw, lebt aber schon seit über zwanzig Jahren im deutschen Nachbarland, derzeit im Kanton St. Gallen. Daletska ist eine gefeierte Mezzosopranistin mit einer wandlungsfähigen, drei Oktaven umfassenden Stimme.

Sie tritt in den großen Häusern Europas auf: in den Philharmonien von Paris und Berlin, am Teatro Real in Madrid, im Wiener Konzerthaus. Und fast immer, wenn sie nicht auf der Bühne steht, kämpft sie für ihr Heimatland – als Organisatorin, Netzwerkerin, Fundraiserin. Seit Beginn des russischen Großangriffs sei sie „eher im zweiten Beruf Musikerin“, sagt sie. Für ihren Sängerinnenberuf wende sie jedenfalls weniger Zeit auf als für die Ukraine-Hilfe.

Musik und Menschenrechte sind seit Kindheits- und Jugendjahren ihre Themen. Als sie vier ist, lernt Christina Daletska Geige. Ihre Mutter ist Musikerin, sie fördert ihre Tochter. Als Jugendliche entdeckt sie ihre Leidenschaft fürs Singen. „Dass ich einmal Sängerin werden will, ist mir seit meinem 15. Lebensjahr klar“, sagt sie, „in dem Alter habe ich bei Aufführungen im Elternhaus schon Verdis ‚Aida‘ und Puccinis ‚Tosca‘ gesungen.“

Konzert mit Christina Daletska

Sergej Newski „Göttin der Geschichte“: Samstag, 13. September 2025, 20 Uhr, Köln, Funkhaus Wallrafplatz

Weitere Konzerte: https://daletska.net/de

Im Jahr 2003 – da ist sie 18 – geht sie in die Schweiz, um Geige zu studieren. Das Studium bricht sie nach zwei Semestern ab und konzentriert sich auf den Gesang. Ihren Durchbruch hat sie mit 24 Jahren, als sie Beethovens „Missa solemnis“ in der Tonhalle Zürich singt. „Für mich ist Beethoven der Menschenrechtskomponist schlechthin“, sagt sie, „denken wir nur an ‚Ode an die Freude‘ und Schillers Verse ‚Seid umschlungen, Millionen‘!“

Für Menschenrechte setzt sich Daletska in der Schweiz auch im Alltag ein: 2013 wird sie Botschafterin von Amnesty International. Ihren Aktivismus will sie nun in den Kosmos der klassischen Musik tragen, spricht in ihrem Berufsleben die gesellschaftliche Polarisierung, Krisen und Kriege an – auch, als Russland 2014 den Krieg in der Ostukrai­ne anzettelt. „Damals haben mich manche gefragt, ob ich nicht etwas übertriebe, wenn ich da von ‚Krieg‘ sprechen würde“, sagt sie.

Während des Gesprächs macht Daletska häufiger eine Geste, bei der sie die Finger ineinander verschränkt. Alles muss ineinandergreifen, will sie damit zeigen. Es soll wohl auch ein Symbol sein für ihr europaweites Netzwerk an Helfer:innen, das sie für die Ukraine-Hilfe aufgebaut hat.

Gemeinsam organisieren sie unter anderem Transporte für Generatoren, Medikamente, Drohnen, Tourniquets – lebenswichtige Materialien für Menschen im Kriegsgebiet –, oder sie kaufen Geländewagen für die Rettungskräfte an. Einer ihrer freiwilligen Kollegen ist der ehemalige Schweizer Grünen-Politiker Urban Frye. Er hatte seine Partei verlassen, weil sie die Militärhilfen an die Ukraine nicht unterstützt hatte.

In ihrer Branche sei ihr Engagement inzwischen oft nicht mehr erwünscht, sagt Christina Dalets­ka. Sie ist als Sängerin selbstständig, schließt Verträge mit Ensembles und Opernhäusern – und diese hätten in jüngster Zeit vermehrt verlangt, auf Friedensbotschaften und Aufrufe zu verzichten.

Möglicherweise, weil sie russische Firmen als Sponsoren nicht verschrecken wollten. Das Orchestra della Svizzera Italiana in Lugano schrieb ihr kürzlich in den Vertrag, politische Gesten und Aktivitäten „on or off stage“ seien untersagt. Ein andermal sei ihr die Begründung genannt worden, man wolle die russischen Kon­zert­be­su­che­r:in­nen nicht verärgern. Dalets­ka zählt weitere Fälle auf und sagt: „Ich mache mich in meinem Berufsleben gerade nicht beliebt.“

Sie arbeitet weiter mit russischen Künst­le­r:in­nen zusammen – wenn sie sich eindeutig gegen Putin aussprechen. Beispielsweise mit dem russisch-schweizerischen Schriftsteller Michail Schischkin oder dem aus Moskau stammenden Komponisten Sergej Newski, der das Stück „Göttin der Geschichte“ für sie geschrieben hat.

Es basiert auf dem Gedicht „Der Asow-Feldzug“ des litauischen Dichters Tomas Venclova – einem imposanten Stück Anti-Kriegs-Lyrik. Mit Künstlerinnen wie Anna Netrebko würde Daletska nie kollaborieren. „Jede Person, die sich als Russin oder Russe bezeichnet, muss sich klar positionieren“, sagt sie.

„Sich unpolitisch zu geben, während das eigene Land schlimmste Menschenrechtsverbrechen begeht, ist für mich keine legitime Haltung.“ Menschenrechte und Politik seien nicht dasselbe, sagt sie immer wieder. „Um das zu begreifen, muss man sich nur vorstellen, dass die Bomben auf das eigene Zuhause, die eigene Familie oder die eigenen Freunde fallen.“

Daletska will weiter Spenden sammeln, Hilfsgüter beschaffen, trotz aller Rückschläge. „Ich erlebe oft harte Momente“, sagt sie. „Für einen Bekannten, der gerade eingezogen worden war, haben wir eine Schutzweste und einen Helm organisiert. Als das Material unterwegs zu ihm war, erfuhr ich, dass er ein Bein verloren hat – in seinem zweiten Einsatz.“

In diesen Tagen hält sich Daletska in ihrer Heimatstadt Lwiw auf. Dort arbeitet sie als Freiwillige in einem Rehazentrum für kriegstraumatisierte Menschen mit Suchtproblemen.

Vom Krieg gezeichnet

Die Künstlerin Dariia Kuzmych gibt in Kyjiw und Lwiw Kurse für ehemalige Soldat:innen, um deren Lebenszufriedenheit zu steigern.

Sie wollte eine Form der Arbeit finden, die mit der Kriegsrealität in Verbindung steht Foto: Oksana Meister

Ein sonniger Morgen in Kyjiw. Nördlich der Altstadt hat die ukrainische Künstlerin Dariia Kuzmych ihren Arbeitsraum in einer Garage auf einem weitläufigen Gelände, auf dem einst eine Brauerei war. Kuzmych hat zwei Stühle vor ihr Atelier gestellt, bereitet Kaffee zu. Die 34-Jährige betreibt ein Kunstprojekt mit Kriegsversehrten.

In Krankenhäusern in Kyjiw und Lwiw hat sie vergangenes und dieses Jahr gemeinsam mit der Psychologin Nikoletta Yurets Kurse für jeweils rund zehn Veteranen gegeben. Sie sind im Kampfeinsatz verwundet worden, haben zum Beispiel ihre Gliedmaßen verloren oder leiden unter den psychischen Folgen des Kriegs.

„Nach so einer intensiven und brutalen Erfahrung ins zivile Leben zurückzufinden, ist sehr schwer“, sagt ­Dariia Kuzmych. „Viele können ihren früheren Job nicht mehr ausüben. Nicht nur, weil sie körperlich oder psychisch dazu nicht mehr in der Lage sind, sondern auch, weil es ein Teil ihres ‚alten‘ Lebens ist, in das sie nicht zurückkönnen, weil sie und die Umstände sich verändert haben.“

Dariia Kuzmych ist eine bildende Künstlerin aus Kyjiw, die bereits in vielen verschiedenen europäischen Städten ausgestellt hat. Kuzmych wird 1991 in Kyjiw geboren, sie studiert von Ende der Nullerjahre an zunächst Malerei in ihrer Heimatstadt, von 2015 an experimentelle Film- und Medienkunst an der Universität der Künste in Berlin. Dort macht sie 2021 ihren Master, zu dieser Zeit lebt sie in der deutschen Hauptstadt und in Wien.

Seit Herbst 2022 – einem halben Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine – lebt und arbeitet sie wieder überwiegend in Kyjiw. „Ich konnte es nicht mehr aushalten, in Wien oder Berlin zu sitzen. Ich musste eine Form der Arbeit finden, die mit der Kriegsrealität in Verbindung steht“, sagt sie.

Zurück in der ukrainischen Hauptstadt konzipiert sie ein Programm, bei dem Veteranen sich über künstlerische Arbeit mit dem Erlebten auseinandersetzen. Kuzmych weiß, wie es ist, mit einer Behinderung zu leben: Als junge Erwachsene hatte sie 2010 einen Verkehrsunfall, bei dem ihr Bein zunächst amputiert werden sollte. Nach vielen Operationen bekam sie vor einigen Jahren schließlich eine Knieendoprothese, ein künstliches Kniegelenk.

Bislang hat Kuzmych ihre Kurse in den Krankenhäusern Feofania in Kyjiw und Unbroken in Lwiw gegeben. Gemeinsam mit der Psychologin Nikoletta Yurets führte sie zunächst Vorgespräche mit den Patienten, beide Kurse bestanden dann aus zwei bis drei Einheiten, jeweils zwei Stunden lang. Die Arbeit in den Krankenhäusern hat Kuzmych als Freiwillige geleistet. Zu Beginn des Programms habe es eine Förderung von über 5.000 Euro seitens des österreichischen Programms Documenting Ukraine gegeben, die sei aber größtenteils für Materialien, Organisation und Fahrtkosten verwendet worden.

Kuzmych will über die Kunstgeschichte mit den Teilnehmenden ins Gespräch über Beeinträchtigungen und die medizinische Behandlung kommen. Eingangs zeige sie den Teilnehmenden Bilder und Fotos, die Menschen mit Behinderung abbilden, „oft aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg“.

Heinrich Zilles Zeichnungen von Kriegsversehrten mit Holzbein verwende sie genauso wie das Bild „Sterbende Soldaten“ von Otto Dix. „Anschließend sprechen wir mit den Patienten zum Beispiel darüber, wie die Prothesentechnologien sich im Zusammenhang mit den Kriegen entwickelt haben und wie sich die Wahrnehmung des menschlichen Körpers in der Gesellschaft verändert hat“, sagt sie. Die Diskussionen begleitet die Psychologin Yurets. Sie dienen als Grundlage für den praktischen Teil, in dem die Teilnehmenden selbst Tuschebilder und Aquarelle sowie Collagen aus Papier, Zeitungen und Fotofragmenten anfertigen.

Kuzmych betritt nun ihr Atelier, das hell und etwa 30 Quadratmeter groß ist. Sie zeigt einige A3- bis A4-formatige Bilder und Collagen der Teilnehmenden, die auf einem großen Tisch liegen. „Oft sind Werke entstanden, in denen sich die Veteranen mit Kriegsszenen auseinandergesetzt haben“, erklärt sie.

Eine Skizze zeigt etwa einen vor einer Kunstleinwand sitzenden Mann mit vier Beinprothesen, die an ihren Enden spitz zulaufen wie Schwerter oder Messer. Darüber liegt ein abstraktes Bild in Tarnfarben mit zackigem Pinselstrich und zwei Gesichtern, die hinter geschwungenen Linien verschwinden. Gäste oder Journalisten hat Kuzmych bei den Kursen bislang nicht zugelassen, weil nicht alle Teilnehmenden damit einverstanden gewesen seien und unter sich bleiben wollten.

Kuzmych sieht die Kurse eher als Kunstseminare, weniger als kunsttherapeutische Projekte. Es gehe darum, neue Kenntnisse zu erwerben, andere Perspektiven einzunehmen, Reflexion zu ermöglichen – damit dann auch hoffentlich die Lebenszufriedenheit bei den Veteranen steige. „Die künstlerischen Arbeiten werden auch nicht interpretiert, wir ziehen daraus keine Schlüsse über das Befinden der Person, wie es zum Teil in der Kunsttherapie der Fall ist.“

Die Auswirkungen der Kriegserlebnisse auf die Psyche seien sehr individuell, sagt die Künstlerin. Einer der Teilnehmenden war in Bachmut und an anderen heftig umkämpften Frontabschnitten im Einsatz, habe viele Ka­me­ra­d:in­nen verloren.

„Er ist oft aggressiv geworden, das ist eine mögliche Folge der Traumaerfahrung. Er brauchte einfach eine Weile Ruhe.“ Viele Teilnehmende hätten Schädel-Hirn-Traumata während des Kriegs erlitten, seien davon gezeichnet.

Die ehemaligen Sol­da­t:in­nen litten auch unter einem Umfeld, das nicht immer angemessen auf sie reagiert, sagt Kuzmych. „Menschen mit sichtbaren Folgen der Kriegseinsätze, wie fehlenden Gliedmaßen oder vernarbten Gesichtern, hören oft unsensible Kommentare“, sagt sie.

In ihren alten Alltag können sie nicht zurück, ihnen fehlt eine Aufgabe. „Viele wollen zurück an die Front, sogar mit Prothesen. Die existenzielle Gefahr für das eigene Land wiegt für sie oft höher als das Kurieren der Verwundung“, sagt Kuzmych.

Für die ferne Zukunft denkt ­Dariia Kuzmych über eine Ausstellung mit den Bildern der Veteranen nach. Als nächstes reist sie im Oktober aber erst einmal nach Iwano-Frankiwsk, wo ein weiterer Kurs geplant ist.

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