Kapitalismus: Überfluss – vom Versprechen zum Schreckenswort
Das Wort Überfluss hat eine wechselhafte Geschichte. Der Blick sollte auf den verheerenden Klima-Folgen liegen, nicht auf kleinkarierter Konsumkritik.
W enn heute über Überfluss gesprochen wird, dann ist dieses Sprechen sofort mit Beiklängen verbunden, mit Obertönen, mit Schwaden von Bedeutungen. In aller Regel wehen uns Ansichten und Vorannahmen an, die wir zum Thema des „Überflusses“ haben. Meistens sind das heute keine rein positiven Affekte.
Eher: Wir haben zu viel. Wir haben einen Güterreichtum erreicht, der uns nicht glücklich macht. Wir laufen dem Wohlstand nach und verlieren uns dabei selbst. Wir ziehen eine Spur der Verheerung hinter uns her. Nicht selten hat dieses Lamento etwas leicht Betuliches. Hart gesagt: Verlogenes. Man erfreut sich der Dinge, die man hat, schämt sich aber zugleich ein wenig für sie, oder man kauft sich andere Dinge, wie etwa das total nachhaltige Federbett.
Besonders abgeschmackt wird es, wenn die unteren Klassen dafür beschämt werden, dass sie, obwohl mit leeren Konten ausgestattet, dennoch dauernd in Konsumrausch ausbrechen würden. Handy, Auto, vielleicht sogar getunt und tiefer gelegt, der Kühlschrank voll, aber nichts davon ist Bio. Und wozu muss der Hausmeister nach Bali? Die Konsumkritik ist also manchmal nur einen Wimpernschlag von der Klassenverachtung entfernt.
Da ist der große George Orwell sympathischer, der viel Verständnis für die Hungerleider aus den englischen Bergbauregionen hatte, wenn sich etwa die jungen Tagelöhner ihre Pence vom Mund absparten, um sich einen schönen Anzug zu kaufen. Sie „senken ihre Ansprüche nicht unbedingt in dem Sinn, dass sie auf Luxusartikel verzichten“, schreibt Orwell.

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„Man hat vielleicht nur drei Halfpence in der Tasche, überhaupt keine Zukunftsaussichten und als Zuhause nur eine Ecke in einem undichten Schlafzimmer; aber man kann in seinen neuen Kleidern an der Straßenecke stehen und sich in einem privaten Tagtraum als Clark Gable oder Greta Garbo vorkommen, was einen für eine ganze Menge entschädigt.“ Wenn man über Überfluss und Überflussgesellschaft sprechen will, dann muss man die Falle der Abgeschmacktheit tunlichst vermeiden.
Überfluss war früher ein Versprechen
Der Konsumstil ist nicht zu trennen vom Bedürfnis, sich von anderen abzugrenzen oder auf irgendeine Weise über sie zu erheben, nicht nur nach unten. Das abgegriffene Stück, dem man seine Geschichte ansieht, die Kneipe, die auf unergründliche Weise „echt“ ist, sie alle sind deshalb auch nur „Positionsgüter“; nichts grundsätzlich anderes als ein Mercedes der S-Klasse oder ein seltener Ford Mustang aus den 60er Jahren. Man spricht heute auch vom „Kulturkapitalismus“, weil jede Ware mit Kultur, also Bedeutung, aufgeladen ist und das der Grund ist, dass man sie haben will. Ich kaufe, also bin ich. Ich bin, was ich kaufe. Ich bin sogar, was ich nicht kaufe.
Spätestens mit dem Bewusstsein der ökologischen Krise und der Klimakatastrophe ist der Begriff des Überflusses mit negativen Attributen verbunden. Wenn wir über die großen Worte und Parolen nachdenken, die unser Denken ausstatten, dann ist der Begriff Überfluss ein zentraler. Nur: In früheren Epochen war der Überfluss nichts, was man beklagte, sondern ein Versprechen. In den Utopien waren Vorstellungen vom grenzenlosen Reichtum seit jeher ein Leitmotiv, schon Mose versprach seinem murrenden Fußvolk, er werde es in ein Land führen, in dem „Milch und Honig“ fließe.
Die Sozialisten und Kommunisten waren überzeugt, mit Produktivitätssteigerungen und der Befreiung der Kreativität würde der Mangel endgültig besiegt, ein Leben im Überfluss möglich, da waren sie sich lustigerweise sogar mit den Kapitalisten einig. John Maynard Keynes, der große Ökonom des 20. Jahrhunderts, schrieb 1930 einen Aufsatz mit dem Titel „Wirtschaftliche Aussichten unserer Enkelkinder“, in dem er voraussagt, wenn das ökonomische Wachstum so weiterginge, dann wäre in spätestens hundert Jahren das ökonomische Problem erledigt, die Geißel des Elends wäre besiegt und damit wäre auch Geschichte, was das ökonomische Problem in unseren Seelen anrichtet: der Stress, die Angst im Leben der Armen, die ordinäre Geldgier im Leben der Vermögenden, die Banalität des Habenwollens.
Wenn der Zustand des Überflusses erreicht ist, wird die „Liebe zum Geld“ als eine „einigermaßen abstoßende Krankheit“ betrachtet werden, „die man mit Schaudern Spezialisten für Geisteskrankheiten überlässt“, prophezeite Keynes. Er lag nicht richtig. Wir haben heute so krasse Ungleichheiten in der Vermögensverteilung, dass man darauf wirklich „Spezialisten für Geisteskrankheiten“ ansetzen möchte.
Das gute alte Karlchen
Mit der Befriedigung aller vor hundert Jahren denkbaren Bedürfnisse war überdies das „ökonomische Problem“ nicht gelöst. Sondern die Entwicklung neuer Bedürfnisse wurde überhaupt erst angestoßen. Nicht zuletzt, weil durch Fortschritt und Innovation eine Fülle neuer Waren und Güter entsteht, die man dann haben will, und zwar nicht nur – wie die abgeschmackte Kritik sagen würde – weil man gar nicht mehr weiß, was man wirklich braucht, sondern weil man es verdammt noch mal einfach haben will. Wer sind wir, dass wir in paternalistischer Weise die Wünsche von anderen benoten?
Wahr ist aber dennoch: Mit der Entwicklung des Wohlstandes und des relativen Überflusses entstanden Branchen und Berufszweige, deren alleiniger Sinn es ist, in den Menschen das Gefühl anzustacheln, dass sie ein Gut dringend benötigen, von dem sie gerade eben noch nicht einmal wussten, dass es überhaupt existiert. Produktzyklen verkürzen sich überdies, alle zwei Jahre muss ein neues Handy her.
Die Produktion von Bedürfnissen sah schon Karl Marx. Das gute alte Karlchen hat vor mehr als 150 Jahren geschrieben, dass jeder Kapitalist zwar möchte, dass seine eigenen Arbeiter sparen, aber eben nur seine, weil die für ihn Kostenfaktoren sind. Alle anderen Arbeiter sollen sehr gut verdienen und keineswegs sparsam sein, denn die stehen ihm als Konsumenten gegenüber. „(Darum) sucht er alle Mittel auf, um sie zum Konsum anzuspornen, neue Reize seinen Waren zu geben, neue Bedürfnisse ihnen anzuschwatzen etc.“
Prominente Denker warnten bald, vor allem im angelsächsischen Raum, vor der Konsumwelt. Der Ökonom John Kenneth Galbraith schrieb 1958 „The Affluent Society“, deutsch: die „Überflussgesellschaft“. Es ist dieser Moment, an dem die Karriere des Begriffs Überfluss vom Versprechen zur Schreckensvokabel Fahrt aufnahm.
Die Verwandlung des Begriffs Überfluss zum Komplex von Nörgelei ist auch geprägt von der Entfremdungsdiagnose, der Kritik künstlich produzierter Bedürfnisse, dass sich die Menschen selbst verlieren, in einem Hamsterrad eingespannt sind. Der Überfluss, der doch eigentlich die Entwicklung unserer Potenziale fördern sollte, erweist sich als Fessel derselben, meinte Susan Sontag. Er raubt uns die „sinnliche Erfahrung“, bewirke „eine Abstumpfung unserer sensorischen Fähigkeiten“.
Alle sind erschöpft
Der Überfluss erschöpft die Strapazierfähigkeit des Planeten, heizt uns buchstäblich ein, auch die Ressourcen sind erschöpft. Die Gefräßigkeit des Wirtschaftssystems überfordert nicht nur die Natur, sondern auch uns Menschen. Womöglich ist der Begriff der „Erschöpfung“ heute eine zentrale Vokabel für unsere Problem- und Zeitgefühle. Alle sind erschöpft. Eine ständige innere Unruhe macht sich breit, man beißt die Zähne zusammen, um zu funktionieren.
Der Soziologe Sighard Neckel sprach schon vor Jahren vom „gesellschaftlichen Leid der Erschöpfung“ in der Wettbewerbsgesellschaft. „Angst erschöpft“, bemerkte auch sein Kollege Heinz Bude. In einem schönen Text in der Zeit machte unlängst ein Sozialpsychologe darauf aufmerksam, dass es neben den realen Erscheinungen der Erschöpfung eben auch die Erschöpfungsdiskurse gibt. Wenn alle von Erschöpfung reden, fühlen wir uns prompt noch müder.
Was eine ordentliche Überflussgesellschaft sein will, bringt sogar einen Überfluss an Erschöpfungsdiagnosen hervor. Der Begriff des Überflusses wird nie gänzlich frei sein von seiner sprachlichen Verwandtschaft mit dem Begriff des „Überflüssigen“. Was heißt: entbehrlich, verzichtbar, unnötig, unnütz. Und so, wie sofort Assoziationen wie „überflüssig“ anklingen, so auch die Beiklänge und Obertöne des „Flüssigen“. Denken wir daran, dass nicht nur unser Wirtschaftssystem, sondern auch die Wirtschaftswissenschaften englische Begriffe kennen wie „Stock“, das sind Bestandsgrößen, und „Flow“ – Fluss –, das sind Strömungsgrößen. Der Vermögensstock, das ist eine Bestandsgröße, das Einkommen wiederum ist eine Strömungsgröße, eine Fließgröße. Einkommen fließt zu, aber nicht nur in metaphorischer Hinsicht, sondern auch in stofflicher Hinsicht, weil sich ein „Fluss“ vollzieht, nämlich jener Stoffwechsel mit der Natur, der jede Produktion kennzeichnet.
Karl Marx hatte recht
Jede Produktion ist Stoffwechsel mit der Natur, und längst wissen wir, dass diese keine Überausbeutung verträgt, so wie letztlich immer die Natur diktiert. Sie sitzt am längeren Ast. Das gute alte Karlchen selbst schrieb schon von einem „unheilbaren Riss“ im Stoffwechsel zwischen Natur und Gesellschaft. Der Eingriff in die Natur hat Folgen; ganze Landstriche werden unbewohnbar. Nicht nur mit Hitze und Dürre sind wir konfrontiert, sondern auch mit Flutkatastrophen. Was also die Produktivität und den Output steigern sollte und gesteigert hat, reduziert ihn dann wieder, etwa weil Bauarbeiter in der Hitze nicht mehr bauen können.
Wenn wir das systemisch betrachten, vollzieht sich der dynamische Stoffwechsel zwischen der Natur und der (Überfluss-)Gesellschaft so, dass man ein Ziel verfolgt, dass aber der Prozess der Zielerreichung nicht beabsichtigte Nebenfolgen hat, die dann die Zielerreichung wieder durchkreuzen. Der Überfluss verwandelt sich, er verwandelt seine Form, aus der Fülle der Dinge wird Hitze und Wasser, es ist eine regelrechte Metamorphose und der Überfluss an Dingen rauscht irgendwann, verwandelt in einen reißenden Sturzbach, durch unseren Vorgarten und den unserer Mitmenschen und durch die Leben unserer Kinder und Enkel.
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