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Die vier Angeklagten während des Prozesses in Polen. Der fünfte lebt im Ausland und hat ein Einreiseverbot Foto: Karol Grygoruk

Prozess gegen Flücht­lings­hel­fe­rHilfe als Straftat?

Fünf Menschen stehen in Polen vor Gericht, weil sie Geflüchteten Suppe, Wasser und Schutz gaben. Die Staatsanwaltschaft fordert lange Haftstrafen.

Von Nadine Wojcik aus Białystok

E s ist der letzte Wortbeitrag eines stundenlangen Prozesstages, als Ewa Moroz-Kaczyńska sich von der Anklagebank erhebt und ins Mikrofon spricht. „Wir Bewohner von Podłasie wissen, was Hunger, Angst und Kälte bedeuten. Wir wissen, wie viel ein Teller warme Suppe bedeuten kann.“ Die 56-Jährige liest von ihrem Handy ab, ihre Stimme ist hell, doch bestimmt und unaufgeregt. Ja, sie habe Essen, Wasser, Schlafsäcke und Medikamente verteilt, erklärt die Ethnologin. Sicherlich nicht gegen Geld, betont Moroz-Kaczyńska und schaut kurz von ihrem Handy auf, hinüber zur Staatsanwältin. Den einzigen „Vorteil“, den sie davon gehabt hätte, sei die innere Überzeugung gewesen, „das Richtige getan zu haben, als es um Leben und Tod ging“.

Die Staatsanwaltschaft sieht das anders: Moroz-Kaczyńska und vier weitere Angeklagte seien Schleuser:innen. Sie hätten Geflüchteten „rechtswidrig den Aufenthalt auf dem Territorium der Republik Polen“ erleichtert, indem sie sie „während ihres Aufenthalts im Wald mit Lebensmitteln und Kleidung versorgt, ihnen Unterkunft und Ruhe geboten und sie am 22. März 2022 ins Landesinnere transportiert“ hätten. Dieser Straftatbestand kann mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden. In aller Klarheit: Für die Staatsanwaltschaft gehört auch das Austeilen warmer Suppe und sauberer Kleidung zum Tatbestand dazu.

Ewa Moroz-Kaczyńskas Haare leuchten durch den Gerichtssaal, der trotz voller Zuschauerränge, Medienaufgebot und aufgestellten Kameras überdimensioniert wirkt und an eine Flughafenhalle erinnert. Als „Pomarańczka“, die „Orangene“, kennen die meisten hier die Leiterin der Bildungsabteilung im Białowieża-Nationalpark. Heute trägt sie statt ihrer Markenfarbe schwarz, in den Händen aber hält sie einen kleinen orangefarbenen Drachen, vor ihr steht eine knallorange Trinkflasche.

„Lassen Sie mich bitte weiterhin daran glauben, dass es sich lohnt, anständig zu sein“, schließt die 56-jährige Angeklagte ihr Schlussplädoyer. Die Zu­schaue­r:in­nen applaudieren, einige haben Tränen in den Augen. Der Richter hat bereits aufgegeben, den Saal mit seinem dunkelgrünen Holzhammer zur Ordnung zu rufen. Zu aufgeladen ist die Stimmung rund um die „Fünf aus Hajnówka“, wie die Angeklagten in Polen genannt werden. Bei den Verhandlungen sind vier der Angeklagten anwesend, der fünfte wohnt im Ausland und ihm wurde bereits ein mehrjähriges Einreiseverbot nach Polen erteilt.

Die Belarus-Route

Die Route als Waffe

Die sogenannte Belarusroute wurde 2021 gezielt von Machthaber Alexander Lukaschenko als politisches Druckmittel gegen die EU eröffnet – als Reaktion auf Sanktionen wegen der gewaltsamen Unterdrückung der belarussischen Opposi­tion.

Zahlen und Betroffene

2024 registrierte Polens Grenzschutz rund 30.000 Übertrittsversuche, darunter 4.600 Frauen und 2.200 Kinder.

Polens Grenzpolitik

Polen kontrolliert die Grenze vollständig national und lehnt eine Zusammenarbeit mit Frontex oder internationalen Hilfsorganisationen ab. Ein 190 Kilometer langer, 5,5 Meter hoher Stahlzaun steht teils in einer Sperrzone, die weder NGOs noch Medien betreten dürfen. Seit dem 27. März ist das Recht auf Asyl an der polnischen Außengrenze ausgesetzt.

Tote und Vermisste

Seit 2021 sind laut dem Hilfsnetzwerk Grupa Granica mindestens 98 Menschen im Grenzgebiet gestorben – durch Erschöpfung, Dehydrierung, Erfrierung oder Ertrinken. Etwa 350 Migrant:innen gelten als vermisst.

Das Städtchen Hajnówka im Osten Polens ist 20 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt und liegt damit seit 2021 auf der sogenannten Belarus-Route. Damit ist auch klar, dass es bei dem Prozess nicht nur um die „Fünf aus Hajnówka“ geht. Hier wird verhandelt, wie Polen mit Mi­gran­t:in­nen umgeht. Es geht um Pushbacks, um gewalttätige belarussische Soldaten, um Staatssicherheit und um jährlich 30.000 Geflüchtete, die ohne ausreichend Nahrung monatelang im Grenzwald zu überleben versuchen. Dahinter steht ein grundsätzlicher Konflikt innerhalb der EU – zwischen harter Abschottungspolitik und zivilgesellschaftlicher Hilfeleistung.

Polen schickt auch Militär an die Grenze

Viele der Zu­schaue­r:in­nen im Saal haben ebenfalls Geflüchteten geholfen. Als Anwohnende der Grenzregion wurden sie 2021 ebenso wie der polnische Staat von der plötzlichen Belarus-Route überrascht, die Diktator Lukaschenko quasi über Nacht im Sommer 2021 eröffnet hatte, um die EU mit illegaler Migration zu schwächen. Die Belarus-Route ist eine künstliche Migrationsroute, die Menschen aus Kriegsregionen mit dem Versprechen nach Belarus lockt, an der östlichen EU-Außengrenze um Asyl bitten zu können. Sie beginnt mit einem Flug nach Minsk und den seit 2021 großzügig ausgestellten Touristen- oder Studentenvisa für Geflüchtete aus dem Nahen Osten und Afrika.

Polnische Soldaten im Einsatz vor dem Grenzwald Foto: Karol Grygoruk

Auf diesen „hybriden Angriff“ reagiert Polen mit massiver Abwehr, schickt neben Grenzpolizei auch das Militär an die Grenze, die mit Hubschraubern und gepanzerten Fahrzeugen anrücken. Doch die Mi­gran­t:in­nen schaffen es trotzdem über die grüne Grenze. Und so stehen plötzlich in den Dörfern und an den Gartenzäunen der Grenz­an­woh­ne­r:in­nen wie Ewa Moroz-Kaczyńska ausgehungerte und unterkühlte Geflüchtete aus Afghanistan, Somalia oder Syrien. Das ruhige Dorfleben in Podłasie wandelte sich zu einer humanitären Dauerkrise, die Be­woh­ne­r:in­nen leben nun am Rande einer militärischen Sperrzone, die weder NGOs noch Medien betreten dürfen.

Wenn wir dafür schuldig gesprochen werden sollten, dann bedeutet das auch, dass menschlicher Anstand zur Straftat wird

Ewa Moroz-Kaczyńska,Angeklagte

Was in dieser Sperrzone passiert, davon berichtet die Familie P., eine irakisch-kurdische Familie, der die „Fünf aus Hajnówka“ geholfen hatten. Ihre Zeugenaussagen wurden an vorherigen Prozesstagen verlesen. Mindestens zweimal seien sie im Winter 2022 von der polnischen Grenzpolizei nach Belarus zurückgedrängt worden, obwohl die Eltern und die sieben Kinder im Alter von zwei bis 16 Jahren ausgehungert, dehydriert, krank und durchnässt gewesen seien. Sieben Monate saßen sie im Grenzwald fest. „Das Wasser kam aus Eimern und es gab praktisch nichts zu essen“, gab die damals 16-jährige Tochter zu Protokoll. Auf belarussischer Seite hätten sie Gewalt durch Soldaten erlebt.

Der dritte, illegale Grenzübertritt über die grüne Grenze im März 2022 gelingt. Doch der verabredete Standort-Pin, an dem der eigentliche Schleuser auf die Familie zur Weiterfahrt nach Deutschland wartet, ist rund 20 Kilometer entfernt – zu weit für eine Familie mit sieben Kindern.

An­woh­ne­r:in­nen schließen sich zu NGO zusammen

Ein Asylgesuch, so glauben sie aufgrund ihrer bisherigen Pushback-Erfahrungen, ist in Polen unmöglich. Bei diesem dritten Grenzübertritt verlieren sie ihren Rucksack mit Essen, nachts liegen die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Sie brauchen dringend Hilfe und kontaktieren per Notruf die „Grupa Granica“, das humanitäre Netzwerk polnischer Hilfsorganisationen.

Es ist einer der härtesten Winter an der belarussisch-polnischen Grenze. Laut Amnesty International wurden 2021 nahezu 40.000 Versuche verzeichnet, die Grenze von Belarus nach Polen zu überqueren. Statistiken der polnischen Grenzpolizei zeigen, dass 33.781 dieser Versuche aktiv verhindert wurden („prevented border crossings“) – faktisch also Zurückdrängungen nach Belarus.

Da internationale Flüchtlingsorganisationen ausbleiben, haben sich An­woh­ne­r:in­nen und Ak­ti­vis­t:in­nen zu 14 lokalen NGOs zusammengeschlossen. Das Netzwerk nennt sich „Grupa Granica“ und ist rund um die Uhr im Einsatz. Die ehrenamtlichen Flücht­lings­hel­fe­r:in­nen greifen mittlerweile auf ein großes, selbstorganisiertes Lager mit Hilfsgütern zurück und laufen mit großen Trekkingrucksäcken in die Wälder.

Joanna Agnieszka Humka im Gerichtssaal: Sie ist eine der „Fünf aus Hajnówka“ Foto: Karol Grygoruk

Der Zufall würfelt für den Hilfseinsatz zur irakisch-kurdischen Familie die Anwohnerin Ewa und die jungen Ak­ti­vis­t:in­nen Kamila, Johanna, Mariusz und Marcin zusammen. Im Wald finden sie die Familie in einem katastrophalen Zustand vor. Ihnen ist klar: Besonders die hungernden Kleinkinder müssen so schnell wie möglich ins Warme. Sie treffen eine Entscheidung, von der sie wissen, dass sie ihnen gefährlich werden könnte: Mit drei Autos wollen sie die insgesamt zehn Personen in ein 13 Kilometer entferntes Städtchen bringen. Sie wissen, dass Erste-Hilfe-Leistung im Wald nicht illegal ist, der Transport von irregulären Mi­gran­t:in­nen aber als Schleusertägigkeit ausgelegt werden kann.

Hilfe-Leistung als Schleusertätigkeit

Die Familie hatte den Ak­ti­vis­t:in­nen von den vorherigen Pushbacks erzählt. Einen weiteren würden besonders die Kinder kaum mehr überstehen. Um nicht von der Grenzpolizei entdeckt zu werden, verstecken die Hel­fe­r:in­nen die Familie auf den Rücksitzen unter Decken und Schlafsäcken. Weit kommen sie nicht – nach wenigen Metern werden zwei der drei Autos von der Grenzpatrouille angehalten. Die Familie wird in ein Flüchtlingslager gebracht, die Flücht­lings­hel­fe­r:in­nen sollen sofort verhaftet werden, was jedoch per Eilantrag von einem Gericht gestoppt wird. Nach monatelangen Verhören und Zeugenaussagen reicht die Staatsanwaltschaft schließlich doch Klage ein.

„Ich könnte genauso gut auf der Anklagebank sitzen“, sagt Kamil Syller. Der Rechtsanwalt war damals ebenfalls dabei, nicht bei der Erstversorgung oder bei der Fahrt aus dem Wald. Er übernahm kurz darauf die Vormundschaft für die Mutter und die jüngsten Kinder und brachte sie zur Grenzpolizei, um die neunköpfige Familie wieder zusammenzubringen. Denn die Mutter und Kleinkinder waren im ersten von drei Autos gewesen, jenes Auto, das nicht in die Kontrolle der Grenzpatrouille geraten war.

Kamil Syller wohnt ebenfalls in Grenznähe. Vor einigen Jahren hat er sich mit seiner Frau und den Kindern einen Traum erfüllt und in Podłasie ein modernes Architekturhaus mit naturnahen Lehmwänden gebaut. Die Familie hatte genug vom lauten Leben in der Hauptstadt, sehnte sich nach Ruhe und Natur.

„Mittlerweile fahren wir nach Warschau, um uns zu erholen“, sagt Syller bitter. Seit 2021 hat er als Zugezogener mehr als 1.000 Menschen im Wald versorgt. Über seiner Eingangstür brennt seit vier Jahren ein grünes Licht, das den Mi­gran­t:in­nen von Weitem signalisiert: Hier ist ein sicheres Haus, hier könnt ihr euch ausruhen und waschen, hier bekommt ihr etwas zu essen und zu trinken. Wie viele Geflüchtete bei ihm Zuflucht gefunden haben?

Kamil Syller winkt müde ab. Das werde er oft gefragt. Er weiß es nicht. Mittlerweile hat sich die Route weiter nach Norden verlegt, der Wald rund um sein Dorf ist wieder ruhig geworden. „Meine Frau hat immer schreckliches Fieber bekommen und lag regungslos im Bett, wenn wir Migrantinnen und Migranten zu Hause aufnahmen.“ Erst konnten sie sich das nicht erklären, bis seiner Frau irgendwann klar war, dass ihr Körper unweigerlich auf das unglaubliche Elend reagierte, auf das sie in keiner Weise vorbereitet war. „Wenn Menschen wochen- oder monatelang im Wald leben, ist der Gestank vor der ersten Wäsche kaum auszuhalten.“ Noch belastender war es, die Verletzungen und Wunden – verursacht durch Schläge oder Grenzhunde – zu verarzten.

Es gibt Unterstützung vor dem Gericht Foto: Karol Grygoruk

Manchmal würden sie Vermisste im Wald suchen, sagt Kamil Syller, der im dörflichen Home­office für die Rechtsabteilung eines Warschauer Versicherungsunternehmens arbeitet. Durch Berichte von Geflüchteten und letzten Standort-Pins würden sie recht genau wissen, wo sie suchen müssen. Mehrere Dutzend Ehrenamtliche treffen sich dann mit langen Stöcken im Wald und laufen reihenweise, wie bei einer polizeilichen Suche. Syller holt sein Handy hervor und zeigt ein Foto. Ein Skelett ist da zu sehen, lose verstreut liegen Haarreste und Überbleibsel der Kleidung auf dem morastigen Waldboden. Eigentlich hätten sie einen Jemeniten gesucht, der seit zwei Wochen als vermisst galt. Stattdessen fanden sie einen Äthiopier, der vermutlich zwei Monate zuvor verstorben war. Seit 2021 starben rund 100 Geflüchtete an Unterkühlung, Dehydrierung oder Erschöpfung im Wald, weitere ertranken im Grenzfluss – auf polnischer Seite, Zahlen aus Belarus sind dazu nicht bekannt.

Alle Texte aus dem Flucht-Schwerpunkt der taz und Podcasts zum Thema finden Sie unter taz.de/2015 oder über den QR-Code

Für Kamil Syller ist es selbstverständlich, bei jedem Gerichtstag der „Fünf aus Hajnówka“ dabei zu sein. Der Prozess gegen die Flücht­lings­hel­fe­r:in­nen ist der erste seiner Art in Polen. Das Urteil wird eine Signalwirkung haben, ein Schuldspruch würde bedeuten, dass humanitäre Hilfe künftig unter dem Generalverdacht der Beihilfe illegaler Einreise steht. „Dieser Prozess ist ein Prozess gegen uns alle“, sagt Kamil Syller. Mit Prozess­auftakt im Januar 2025 hatten er und hundert weitere Solidarität bekundet, indem sie sich mit einer Selbstanzeige bei der Staatsanwaltschaft gemeldet und gestanden hatten, ebenfalls schuldig zu sein, Mi­gran­t:in­nen geholfen zu haben. Zu den Un­ter­zeich­ne­r:in­nen zählten auch die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, die Regisseurin Agnieszka Holland und die EU-Abgeordnete Janina Ochojska-Okonska.

Der Prozess zieht sich bereits seit Januar, am 2. September wird die Beweisaufnahme abgeschlossen und mehrstündige Schlussplädoyers werden gehalten. Für eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten spricht sich Staatsanwältin Magdalena Rutyna aus. Die Beweislage sei eindeutig: „Die Tatsache, dass sie die Ausländer unter Decken, Schlafsäcken oder Kleidung versteckten, weist darauf hin, dass sich die Angeklagten völlig darüber im Klaren waren, dass diese keine Papiere für einen Aufenthalt in Polen hatten.“ Ihr Handeln ist ein „Widerstand gegen die aktuelle Migrationspolitik“ und damit „staats- und systemfeindlich“. Auch die Staatsanwaltschaft betont die Signalwirkung des kommenden Urteils. Der Fall ist die „einmalige Gelegenheit, eine klare und dauerhafte Grenze zu ziehen – vor allem im öffentlichen Bewusstsein – zwischen humanitärer Hilfe und der Straftat der organisierten illegalen Grenzübertritte“.

Nicht mit Paragrafen, sondern mit einem Appell begann Verteidiger Radosław Baszuk seine Rede: Muss müsse den Menschen, um die es hier wirklich gehe, Raum geben. „Wir sprechen hier von einer irakisch-kurdischen Familie mit sieben minderjährigen Kindern“, betonte er und las die Namen und das Alter der Familienmitglieder vor.

Monatelang hätten sie im Grenzwald ausgeharrt – ausgehungert, geschwächt und in eisigen Nächten, in denen das Thermometer kaum über null Grad kletterte. „In einem funktionierenden Staat hätte man die Menschen versorgt, die Behörden informiert – und diese hätten für Verfahren, Schutz und Betreuung gesorgt“, so Anwalt Baszuk. Doch Polen funktioniere im Kontext der Migrationskrise an der belarussischen Grenze „nicht wie ein normaler Staat“. Die Flüchtlingsfamilie hatte von mindestens zwei Pushbacks durch polnische Grenzbeamte berichtet, also das gewaltsame Zurückdrängen nach Belarus.

Pushbacks verstoßen gegen die polnische Verfassung

Allen Beteiligten sei bewusst gewesen: Würde die Familie dem Grenzschutz in die Hände fallen, könnte ihnen eine erneute Abschiebung drohen. „Pushbacks sind rechtswidrig“, so der Verteidiger der fünf Angeklagten. Sie würden nicht nur gegen internationales Recht, sondern auch gegen die polnische Verfassung verstoßen. Davor hätten die Angeklagten die Familie schützen wollen, von denen einige Kinder in akuter Lebens- oder Gesundheitsgefahr geschwebt hätten. „Das kann nicht illegal sein.“ Die entscheidende Frage laute also: „Ist es rechtlich – und vor allem auch moralisch – vertretbar, diese Menschen der Grenzschutzbehörde zu überlassen?“, fragte Baszuk und plädierte für Freispruch.

Sie hätten doch gar nicht darum gebeten, zu Flücht­lings­ak­ti­vis­t:in­nen zu werden, sagte die Angeklagte Ewa Moroz-Kaczyńska in ihrem Schlussplädoyer. Sie lebe nun einmal in der Grenzregion – was hätte sie denn tun sollen, angesichts all des Leids in ihren Wäldern? Das aus ihrer Sicht einzig Richtige: helfen. „Wir Menschen aus der Region haben immer gehofft, dass der Staat kommen und uns unterstützen würde. Dass er uns von der Verpflichtung entbinden würde, Menschenleben zu retten.“ Das einzige „Verbrechen“, das sie begangen hätten, sei, dass ihnen das Leid der Mi­gran­t:in­nen nicht egal gewesen sei. „Wenn wir dafür schuldig gesprochen werden sollten, dann bedeutet das auch, dass menschliche Anständigkeit zur Straftat wird“, sagte die 56-Jährige.

Die Worte der „Pomarańczka“ treffen die Zu­schaue­r:in­nen auf den vollen Rängen tief. Viele von ihnen sind selbst Flüchtlingshelfer:innen, haben Suppen gekocht, Lager mit Hilfsgütern aufgebaut, Kleidung und Thermosflaschen mit warmem Tee in den Wald getragen. Sie wissen: Die fünf sind stellvertretend für die „Grupa Granica“ angeklagt, für Hunderte Polinnen und Polen, die sich zivilgesellschaftlich für Geflüchtete engagieren. Bis heute sind es ausschließlich lokale, polnische NGOs, die im Grenzwald zu Belarus humanitäre Hilfe leisten. Denn internationale Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz oder UN-Flüchtlingswerk, die sonst an jeder EU-Außengrenze operieren, fehlen an der Belarus-Grenze – die polnische Regierung verzichtet auf Zusammenarbeit. Stattdessen beharrt sie darauf, die humanitäre Lage ohne internationale Unterstützung im Griff zu haben.

Als die Angeklagten nach Abschluss der Gerichtsverhandlung vor das Gerichtsgebäude treten, werden sie mit Applaus, Trommeln und „Ihr seid nicht allein“-Rufen begrüßt. Wie bei jedem vorherigen Prozesstag sind auch heute wieder rund einhundert Demonstranten nach Białystok gekommen und halten Plakate mit „Hilfe ist nicht illegal“ hoch.

Die „Fünf aus Hajnówka“ formen Herzen mit ihren Händen und sind sichtlich gerührt. „Ich bin einfach nur müde und erschöpft“, sagt Ewa Moroz-Kaczyńska. Vor drei Jahren hatte sie der Familie P. geholfen, seitdem bringen sie zig Verhöre und die nun neunmonatige Gerichtsverhandlung um den Schlaf. „Wir haben nichts Schlimmes getan – nur das, was unser Herz uns sagt.“ Das Urteil wird am heutigen Montag erwartet.

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14 Kommentare

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  • Das Verstecken der Menschen im Auto kann man schon als eine Schuldbekundung deuten. Wird die Sache nicht einfacher machen. Moralisch wäre es aber nicht vertretbar, jemanden dafür zu verurteilen, eine Familie vor dem Erfrieren zu bewahren.

    Die wirklichen Täter sind die, die die Menschen erst nach Belarus fahren lassen haben und ihnen die Weiterreise versprochen haben. Die wissen doch ganz genau, was dort los ist und was die Menschen dort erleben müssen und machen noch Geld damit.

  • Diesen Helfer*innen gebührt höchste Achtung und Respekt. Sie bezeugen was es heisst, ethische, moralische Werte wirklich zu leben. Die Gesetze, Regelungen die dagegenstehen sind unmenschlich und perfide. Polen gibt sich doch sonst immer als katholisches, also christliches Land. Ist das deren Verwirklichung der Lehre Christi?



    Allerdings ist dieses Phänomen keine Ausnahme. Solche Horrorszenarien sind überall in Europa zu sehen, dem "werteorientierten" Eueopa wohlgemerkt. Und wir müssen uns klarmachen, dass die Rechtsbrüche unseres Innenministers erst der Anfang solcher Unmenschlichkeit ist. Es wird noch schlimmer kommen, wenn bald die csdU und die AgD in einer Koalition regieren.

  • Also wenn ich das dem Artikel richtig entnehme, geht es vor Gericht vor allem um den Transport der Familie.



    Die fünf Angeklagten haben sie ja nicht nur einfach aus dem Wald ins Warme evakuiert, also ins nächstgelegene Haus, sondern wollten sie in die nächste Stadt fahren. 13 Kilometer.



    Der Osten Polens ist dünn besiedelt, aber auch dort kommt alle paar Kilometer ein Dorf. 13 Kilometer heißt also, es sollte über mehrere Orte gehen...



    Da sehe ich schon ein Handeln weit über akute (Überlebens)Hilfe hinaus.



    Leider wird es im Artikel nicht weiter erörtert, denn laut Angaben lag der Pinpunkt zum Schleußer etwa 20 Kilometer entfernt. Der Verdacht liegt da schon sehr nahe, dass die 'Helfer' die Familie mit der Fahrt nicht nur aus der lebensbedrohlichen Kälte des Waldes retten wollten, sondern sie aktiv in ihrer illegalen Weiterreise unterstützen wollten.



    Und das ist dann weit mehr als nur "menschlicher Anstand", wie es eine Angeklagte umschreibt, sondern aktive Schleußerei.

    • @Saskia Brehn:

      Ja, es ist wirklich verwerflich, dass sich Menschen entschlossen haben, Menschen in Lebensgefahr zu helfen.



      /Sarkasmus

      Wenn Menschlichkeit und das retten von Menschenleben zur Straftat wird läuft etwas verdammt schief und Menschen die das auch noch rechtfertigen sollten vielleicht mal an ihrem Charakter arbeiten!

    • @Saskia Brehn:

      Ist das Zynismus ihrerseits oder sind menschenrechtswidrige Pusch-backs jetzt schon das „new normal“? Wie der Artikel auch aufzeigt haben die polnischen Grenzschützer eben keine Asylanträge an einer EU-Außengrenze bearbeitet (wie das ja in der Theorie angeblich laufen soll) sondern, unter bestmöglichem Ausschluss der Öffentlichkeit, die Leute zurück in den winterlichen Wald getrieben. Wie der Artikel auch nahelegt, diente die Fahrt dazu die Famile, und vor allem die Kleinkinder, vor einem dritten Pushback durch Grenzer und einem möglichen Tod zu bewahren.

    • @Saskia Brehn:

      Nein, ist es nicht. Und selbst wenn, dann ist das immer noch menschlicher, christlicher als die Leute -vor allem die Kinder- einfach stehenzulassen. Muss denn immer und immer wieder die Bürokratie, die Rechthaberei, die Haarspalterei im Vordergrund stehen? Warum kann man nicht einfach nur ganz schlicht helfen???

  • Und das im hochchristkatholischen Polen! Sorry, aber mir wir speiübel!

  • Die Überschrift suggeriert das humane Ersthilfe in Polen als strafbar gilt und führt damit in die irre.

    Das Gesetz zur Strafbarkeit bei Unterstützungshandlungen für illegale Einreisen unterscheidet sich im Kern nicht von § 96 Aufenthaltsgesetz in Deutschland. Verstöße gegen das Gesetz können mit bis zu 5 Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden. Dazu zählen auch hierzulande Transportmöglichkeiten, sowie alle weiteren Maßnahmen die dazu beitragen, den unerlaubten Aufenthalt zu ermöglichen oder zu verlängern.

    Erste Hilfe Maßnahmen wie die Versorgung mit Nahrung, Kleidung, Medikamenten fallen nicht darunter und sind in Polen wie auch in Deutschland nicht strafbar.

    Die Anklagepunkte in dem polnischen Prozess hat es auch in Deutschland schon in etlichen Prozessen gegeben, mit entsprechender Verurteilung.

    Kritik an der polnischen Justiz greift daher zu kurz. Es sind Missstände die sich aus den Folgen der europäischen Asylpolitik ergeben und der polnischen Auslegung dieser Politik. Nur ähnliches trifft auch auf Deutschland und viele andere EU Staaten zu.

  • "Hilfe als Straftat?



    Fünf Menschen stehen in Polen vor Gericht, weil sie Geflüchteten Suppe, Wasser und Schutz gaben. Die Staatsanwaltschaft fordert lange Haftstrafen."

    Das ist schon sehr verkürzt, es ging ja nur nebensächlich um Essen und Wasser. Hauptsächlich wurden sie angeklagt, weil sie die Migranten transportiert, untergebracht und instruiert haben.

    • @lord lord:

      Immer wieder "lustig" wie in christlichen Ländern mit Menschen umgegangen wird, die christliche Nächstenliebe nicht nur als Floskel vor sich hinbrabbeln, sondern aktiv betreiben.

      In der Schule hatte ich Geschichtsunterricht. In einer dort mehrfach behandelten 12-jährigen "Epoche" wurden auch schon Menschen sehr hart bestraft, weil sie Menschen in Not und Gefahr geholfen haben.

      Ehrlich gesagt, mir macht die aktuelle Entwicklung Angst, wenn es schon wieder so weit ist, dass Menschlichkeit als Straftat geahndet wird.

    • @lord lord:

      Wenn es nur Nebensächlichkeiten gewesen wären, warum nehmen sie dann einen so großen Teil der Anklage ein? Zitat:



      "Sie hätten Geflüchteten „rechtswidrig den Aufenthalt auf dem Territorium der Republik Polen“ erleichtert, indem sie sie „während ihres Aufenthalts im Wald mit Lebensmitteln und Kleidung versorgt, ihnen Unterkunft und Ruhe geboten und sie am 22. März 2022 ins Landesinnere transportiert“ hätten."



      Sollte man sie wohl lieber im Wald verrecken lassen?

    • @lord lord:

      Sie haben versucht, Kinderleben zu retten und die Familie vor einem dritten illegalen Pushback zu bewahren. Ihr Kommentar ist auch verkürzt.

    • @lord lord:

      Richtig, es ist wirklich schade, dass heute nahezu immer alles übersimplifiziert und zu einer ganz klaren schwarz-weiß, gut-böse, Frage verkürzt wird. So einfach ist die Welt nicht.

  • Zunächst "danke" an die polnischen Aktivist:innen an der Ostgrenze zu Belarus; "danke" auch an die taz für diesen Artikel.