
Prozess gegen Flüchtlingshelfer: Hilfe als Straftat?
Fünf Menschen stehen in Polen vor Gericht, weil sie Geflüchteten Suppe, Wasser und Schutz gaben. Die Staatsanwaltschaft fordert lange Haftstrafen.
E s ist der letzte Wortbeitrag eines stundenlangen Prozesstages, als Ewa Moroz-Kaczyńska sich von der Anklagebank erhebt und ins Mikrofon spricht. „Wir Bewohner von Podłasie wissen, was Hunger, Angst und Kälte bedeuten. Wir wissen, wie viel ein Teller warme Suppe bedeuten kann.“ Die 56-Jährige liest von ihrem Handy ab, ihre Stimme ist hell, doch bestimmt und unaufgeregt. Ja, sie habe Essen, Wasser, Schlafsäcke und Medikamente verteilt, erklärt die Ethnologin. Sicherlich nicht gegen Geld, betont Moroz-Kaczyńska und schaut kurz von ihrem Handy auf, hinüber zur Staatsanwältin. Den einzigen „Vorteil“, den sie davon gehabt hätte, sei die innere Überzeugung gewesen, „das Richtige getan zu haben, als es um Leben und Tod ging“.
Die Staatsanwaltschaft sieht das anders: Moroz-Kaczyńska und vier weitere Angeklagte seien Schleuser:innen. Sie hätten Geflüchteten „rechtswidrig den Aufenthalt auf dem Territorium der Republik Polen“ erleichtert, indem sie sie „während ihres Aufenthalts im Wald mit Lebensmitteln und Kleidung versorgt, ihnen Unterkunft und Ruhe geboten und sie am 22. März 2022 ins Landesinnere transportiert“ hätten. Dieser Straftatbestand kann mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden. In aller Klarheit: Für die Staatsanwaltschaft gehört auch das Austeilen warmer Suppe und sauberer Kleidung zum Tatbestand dazu.
Ewa Moroz-Kaczyńskas Haare leuchten durch den Gerichtssaal, der trotz voller Zuschauerränge, Medienaufgebot und aufgestellten Kameras überdimensioniert wirkt und an eine Flughafenhalle erinnert. Als „Pomarańczka“, die „Orangene“, kennen die meisten hier die Leiterin der Bildungsabteilung im Białowieża-Nationalpark. Heute trägt sie statt ihrer Markenfarbe schwarz, in den Händen aber hält sie einen kleinen orangefarbenen Drachen, vor ihr steht eine knallorange Trinkflasche.
„Lassen Sie mich bitte weiterhin daran glauben, dass es sich lohnt, anständig zu sein“, schließt die 56-jährige Angeklagte ihr Schlussplädoyer. Die Zuschauer:innen applaudieren, einige haben Tränen in den Augen. Der Richter hat bereits aufgegeben, den Saal mit seinem dunkelgrünen Holzhammer zur Ordnung zu rufen. Zu aufgeladen ist die Stimmung rund um die „Fünf aus Hajnówka“, wie die Angeklagten in Polen genannt werden. Bei den Verhandlungen sind vier der Angeklagten anwesend, der fünfte wohnt im Ausland und ihm wurde bereits ein mehrjähriges Einreiseverbot nach Polen erteilt.
Die Route als Waffe
Die sogenannte Belarusroute wurde 2021 gezielt von Machthaber Alexander Lukaschenko als politisches Druckmittel gegen die EU eröffnet – als Reaktion auf Sanktionen wegen der gewaltsamen Unterdrückung der belarussischen Opposition.
Zahlen und Betroffene
2024 registrierte Polens Grenzschutz rund 30.000 Übertrittsversuche, darunter 4.600 Frauen und 2.200 Kinder.
Polens Grenzpolitik
Polen kontrolliert die Grenze vollständig national und lehnt eine Zusammenarbeit mit Frontex oder internationalen Hilfsorganisationen ab. Ein 190 Kilometer langer, 5,5 Meter hoher Stahlzaun steht teils in einer Sperrzone, die weder NGOs noch Medien betreten dürfen. Seit dem 27. März ist das Recht auf Asyl an der polnischen Außengrenze ausgesetzt.
Tote und Vermisste
Seit 2021 sind laut dem Hilfsnetzwerk Grupa Granica mindestens 98 Menschen im Grenzgebiet gestorben – durch Erschöpfung, Dehydrierung, Erfrierung oder Ertrinken. Etwa 350 Migrant:innen gelten als vermisst.
Das Städtchen Hajnówka im Osten Polens ist 20 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt und liegt damit seit 2021 auf der sogenannten Belarus-Route. Damit ist auch klar, dass es bei dem Prozess nicht nur um die „Fünf aus Hajnówka“ geht. Hier wird verhandelt, wie Polen mit Migrant:innen umgeht. Es geht um Pushbacks, um gewalttätige belarussische Soldaten, um Staatssicherheit und um jährlich 30.000 Geflüchtete, die ohne ausreichend Nahrung monatelang im Grenzwald zu überleben versuchen. Dahinter steht ein grundsätzlicher Konflikt innerhalb der EU – zwischen harter Abschottungspolitik und zivilgesellschaftlicher Hilfeleistung.
Polen schickt auch Militär an die Grenze
Viele der Zuschauer:innen im Saal haben ebenfalls Geflüchteten geholfen. Als Anwohnende der Grenzregion wurden sie 2021 ebenso wie der polnische Staat von der plötzlichen Belarus-Route überrascht, die Diktator Lukaschenko quasi über Nacht im Sommer 2021 eröffnet hatte, um die EU mit illegaler Migration zu schwächen. Die Belarus-Route ist eine künstliche Migrationsroute, die Menschen aus Kriegsregionen mit dem Versprechen nach Belarus lockt, an der östlichen EU-Außengrenze um Asyl bitten zu können. Sie beginnt mit einem Flug nach Minsk und den seit 2021 großzügig ausgestellten Touristen- oder Studentenvisa für Geflüchtete aus dem Nahen Osten und Afrika.
Auf diesen „hybriden Angriff“ reagiert Polen mit massiver Abwehr, schickt neben Grenzpolizei auch das Militär an die Grenze, die mit Hubschraubern und gepanzerten Fahrzeugen anrücken. Doch die Migrant:innen schaffen es trotzdem über die grüne Grenze. Und so stehen plötzlich in den Dörfern und an den Gartenzäunen der Grenzanwohner:innen wie Ewa Moroz-Kaczyńska ausgehungerte und unterkühlte Geflüchtete aus Afghanistan, Somalia oder Syrien. Das ruhige Dorfleben in Podłasie wandelte sich zu einer humanitären Dauerkrise, die Bewohner:innen leben nun am Rande einer militärischen Sperrzone, die weder NGOs noch Medien betreten dürfen.
Ewa Moroz-Kaczyńska,Angeklagte
Was in dieser Sperrzone passiert, davon berichtet die Familie P., eine irakisch-kurdische Familie, der die „Fünf aus Hajnówka“ geholfen hatten. Ihre Zeugenaussagen wurden an vorherigen Prozesstagen verlesen. Mindestens zweimal seien sie im Winter 2022 von der polnischen Grenzpolizei nach Belarus zurückgedrängt worden, obwohl die Eltern und die sieben Kinder im Alter von zwei bis 16 Jahren ausgehungert, dehydriert, krank und durchnässt gewesen seien. Sieben Monate saßen sie im Grenzwald fest. „Das Wasser kam aus Eimern und es gab praktisch nichts zu essen“, gab die damals 16-jährige Tochter zu Protokoll. Auf belarussischer Seite hätten sie Gewalt durch Soldaten erlebt.
Der dritte, illegale Grenzübertritt über die grüne Grenze im März 2022 gelingt. Doch der verabredete Standort-Pin, an dem der eigentliche Schleuser auf die Familie zur Weiterfahrt nach Deutschland wartet, ist rund 20 Kilometer entfernt – zu weit für eine Familie mit sieben Kindern.
Anwohner:innen schließen sich zu NGO zusammen
Ein Asylgesuch, so glauben sie aufgrund ihrer bisherigen Pushback-Erfahrungen, ist in Polen unmöglich. Bei diesem dritten Grenzübertritt verlieren sie ihren Rucksack mit Essen, nachts liegen die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Sie brauchen dringend Hilfe und kontaktieren per Notruf die „Grupa Granica“, das humanitäre Netzwerk polnischer Hilfsorganisationen.
Es ist einer der härtesten Winter an der belarussisch-polnischen Grenze. Laut Amnesty International wurden 2021 nahezu 40.000 Versuche verzeichnet, die Grenze von Belarus nach Polen zu überqueren. Statistiken der polnischen Grenzpolizei zeigen, dass 33.781 dieser Versuche aktiv verhindert wurden („prevented border crossings“) – faktisch also Zurückdrängungen nach Belarus.
Da internationale Flüchtlingsorganisationen ausbleiben, haben sich Anwohner:innen und Aktivist:innen zu 14 lokalen NGOs zusammengeschlossen. Das Netzwerk nennt sich „Grupa Granica“ und ist rund um die Uhr im Einsatz. Die ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer:innen greifen mittlerweile auf ein großes, selbstorganisiertes Lager mit Hilfsgütern zurück und laufen mit großen Trekkingrucksäcken in die Wälder.
Der Zufall würfelt für den Hilfseinsatz zur irakisch-kurdischen Familie die Anwohnerin Ewa und die jungen Aktivist:innen Kamila, Johanna, Mariusz und Marcin zusammen. Im Wald finden sie die Familie in einem katastrophalen Zustand vor. Ihnen ist klar: Besonders die hungernden Kleinkinder müssen so schnell wie möglich ins Warme. Sie treffen eine Entscheidung, von der sie wissen, dass sie ihnen gefährlich werden könnte: Mit drei Autos wollen sie die insgesamt zehn Personen in ein 13 Kilometer entferntes Städtchen bringen. Sie wissen, dass Erste-Hilfe-Leistung im Wald nicht illegal ist, der Transport von irregulären Migrant:innen aber als Schleusertägigkeit ausgelegt werden kann.
Hilfe-Leistung als Schleusertätigkeit
Die Familie hatte den Aktivist:innen von den vorherigen Pushbacks erzählt. Einen weiteren würden besonders die Kinder kaum mehr überstehen. Um nicht von der Grenzpolizei entdeckt zu werden, verstecken die Helfer:innen die Familie auf den Rücksitzen unter Decken und Schlafsäcken. Weit kommen sie nicht – nach wenigen Metern werden zwei der drei Autos von der Grenzpatrouille angehalten. Die Familie wird in ein Flüchtlingslager gebracht, die Flüchtlingshelfer:innen sollen sofort verhaftet werden, was jedoch per Eilantrag von einem Gericht gestoppt wird. Nach monatelangen Verhören und Zeugenaussagen reicht die Staatsanwaltschaft schließlich doch Klage ein.
„Ich könnte genauso gut auf der Anklagebank sitzen“, sagt Kamil Syller. Der Rechtsanwalt war damals ebenfalls dabei, nicht bei der Erstversorgung oder bei der Fahrt aus dem Wald. Er übernahm kurz darauf die Vormundschaft für die Mutter und die jüngsten Kinder und brachte sie zur Grenzpolizei, um die neunköpfige Familie wieder zusammenzubringen. Denn die Mutter und Kleinkinder waren im ersten von drei Autos gewesen, jenes Auto, das nicht in die Kontrolle der Grenzpatrouille geraten war.
Kamil Syller wohnt ebenfalls in Grenznähe. Vor einigen Jahren hat er sich mit seiner Frau und den Kindern einen Traum erfüllt und in Podłasie ein modernes Architekturhaus mit naturnahen Lehmwänden gebaut. Die Familie hatte genug vom lauten Leben in der Hauptstadt, sehnte sich nach Ruhe und Natur.
„Mittlerweile fahren wir nach Warschau, um uns zu erholen“, sagt Syller bitter. Seit 2021 hat er als Zugezogener mehr als 1.000 Menschen im Wald versorgt. Über seiner Eingangstür brennt seit vier Jahren ein grünes Licht, das den Migrant:innen von Weitem signalisiert: Hier ist ein sicheres Haus, hier könnt ihr euch ausruhen und waschen, hier bekommt ihr etwas zu essen und zu trinken. Wie viele Geflüchtete bei ihm Zuflucht gefunden haben?
Kamil Syller winkt müde ab. Das werde er oft gefragt. Er weiß es nicht. Mittlerweile hat sich die Route weiter nach Norden verlegt, der Wald rund um sein Dorf ist wieder ruhig geworden. „Meine Frau hat immer schreckliches Fieber bekommen und lag regungslos im Bett, wenn wir Migrantinnen und Migranten zu Hause aufnahmen.“ Erst konnten sie sich das nicht erklären, bis seiner Frau irgendwann klar war, dass ihr Körper unweigerlich auf das unglaubliche Elend reagierte, auf das sie in keiner Weise vorbereitet war. „Wenn Menschen wochen- oder monatelang im Wald leben, ist der Gestank vor der ersten Wäsche kaum auszuhalten.“ Noch belastender war es, die Verletzungen und Wunden – verursacht durch Schläge oder Grenzhunde – zu verarzten.
Manchmal würden sie Vermisste im Wald suchen, sagt Kamil Syller, der im dörflichen Homeoffice für die Rechtsabteilung eines Warschauer Versicherungsunternehmens arbeitet. Durch Berichte von Geflüchteten und letzten Standort-Pins würden sie recht genau wissen, wo sie suchen müssen. Mehrere Dutzend Ehrenamtliche treffen sich dann mit langen Stöcken im Wald und laufen reihenweise, wie bei einer polizeilichen Suche. Syller holt sein Handy hervor und zeigt ein Foto. Ein Skelett ist da zu sehen, lose verstreut liegen Haarreste und Überbleibsel der Kleidung auf dem morastigen Waldboden. Eigentlich hätten sie einen Jemeniten gesucht, der seit zwei Wochen als vermisst galt. Stattdessen fanden sie einen Äthiopier, der vermutlich zwei Monate zuvor verstorben war. Seit 2021 starben rund 100 Geflüchtete an Unterkühlung, Dehydrierung oder Erschöpfung im Wald, weitere ertranken im Grenzfluss – auf polnischer Seite, Zahlen aus Belarus sind dazu nicht bekannt.
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Für Kamil Syller ist es selbstverständlich, bei jedem Gerichtstag der „Fünf aus Hajnówka“ dabei zu sein. Der Prozess gegen die Flüchtlingshelfer:innen ist der erste seiner Art in Polen. Das Urteil wird eine Signalwirkung haben, ein Schuldspruch würde bedeuten, dass humanitäre Hilfe künftig unter dem Generalverdacht der Beihilfe illegaler Einreise steht. „Dieser Prozess ist ein Prozess gegen uns alle“, sagt Kamil Syller. Mit Prozessauftakt im Januar 2025 hatten er und hundert weitere Solidarität bekundet, indem sie sich mit einer Selbstanzeige bei der Staatsanwaltschaft gemeldet und gestanden hatten, ebenfalls schuldig zu sein, Migrant:innen geholfen zu haben. Zu den Unterzeichner:innen zählten auch die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, die Regisseurin Agnieszka Holland und die EU-Abgeordnete Janina Ochojska-Okonska.
Der Prozess zieht sich bereits seit Januar, am 2. September wird die Beweisaufnahme abgeschlossen und mehrstündige Schlussplädoyers werden gehalten. Für eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten spricht sich Staatsanwältin Magdalena Rutyna aus. Die Beweislage sei eindeutig: „Die Tatsache, dass sie die Ausländer unter Decken, Schlafsäcken oder Kleidung versteckten, weist darauf hin, dass sich die Angeklagten völlig darüber im Klaren waren, dass diese keine Papiere für einen Aufenthalt in Polen hatten.“ Ihr Handeln ist ein „Widerstand gegen die aktuelle Migrationspolitik“ und damit „staats- und systemfeindlich“. Auch die Staatsanwaltschaft betont die Signalwirkung des kommenden Urteils. Der Fall ist die „einmalige Gelegenheit, eine klare und dauerhafte Grenze zu ziehen – vor allem im öffentlichen Bewusstsein – zwischen humanitärer Hilfe und der Straftat der organisierten illegalen Grenzübertritte“.
Nicht mit Paragrafen, sondern mit einem Appell begann Verteidiger Radosław Baszuk seine Rede: Muss müsse den Menschen, um die es hier wirklich gehe, Raum geben. „Wir sprechen hier von einer irakisch-kurdischen Familie mit sieben minderjährigen Kindern“, betonte er und las die Namen und das Alter der Familienmitglieder vor.
Monatelang hätten sie im Grenzwald ausgeharrt – ausgehungert, geschwächt und in eisigen Nächten, in denen das Thermometer kaum über null Grad kletterte. „In einem funktionierenden Staat hätte man die Menschen versorgt, die Behörden informiert – und diese hätten für Verfahren, Schutz und Betreuung gesorgt“, so Anwalt Baszuk. Doch Polen funktioniere im Kontext der Migrationskrise an der belarussischen Grenze „nicht wie ein normaler Staat“. Die Flüchtlingsfamilie hatte von mindestens zwei Pushbacks durch polnische Grenzbeamte berichtet, also das gewaltsame Zurückdrängen nach Belarus.
Pushbacks verstoßen gegen die polnische Verfassung
Allen Beteiligten sei bewusst gewesen: Würde die Familie dem Grenzschutz in die Hände fallen, könnte ihnen eine erneute Abschiebung drohen. „Pushbacks sind rechtswidrig“, so der Verteidiger der fünf Angeklagten. Sie würden nicht nur gegen internationales Recht, sondern auch gegen die polnische Verfassung verstoßen. Davor hätten die Angeklagten die Familie schützen wollen, von denen einige Kinder in akuter Lebens- oder Gesundheitsgefahr geschwebt hätten. „Das kann nicht illegal sein.“ Die entscheidende Frage laute also: „Ist es rechtlich – und vor allem auch moralisch – vertretbar, diese Menschen der Grenzschutzbehörde zu überlassen?“, fragte Baszuk und plädierte für Freispruch.
Sie hätten doch gar nicht darum gebeten, zu Flüchtlingsaktivist:innen zu werden, sagte die Angeklagte Ewa Moroz-Kaczyńska in ihrem Schlussplädoyer. Sie lebe nun einmal in der Grenzregion – was hätte sie denn tun sollen, angesichts all des Leids in ihren Wäldern? Das aus ihrer Sicht einzig Richtige: helfen. „Wir Menschen aus der Region haben immer gehofft, dass der Staat kommen und uns unterstützen würde. Dass er uns von der Verpflichtung entbinden würde, Menschenleben zu retten.“ Das einzige „Verbrechen“, das sie begangen hätten, sei, dass ihnen das Leid der Migrant:innen nicht egal gewesen sei. „Wenn wir dafür schuldig gesprochen werden sollten, dann bedeutet das auch, dass menschliche Anständigkeit zur Straftat wird“, sagte die 56-Jährige.
Die Worte der „Pomarańczka“ treffen die Zuschauer:innen auf den vollen Rängen tief. Viele von ihnen sind selbst Flüchtlingshelfer:innen, haben Suppen gekocht, Lager mit Hilfsgütern aufgebaut, Kleidung und Thermosflaschen mit warmem Tee in den Wald getragen. Sie wissen: Die fünf sind stellvertretend für die „Grupa Granica“ angeklagt, für Hunderte Polinnen und Polen, die sich zivilgesellschaftlich für Geflüchtete engagieren. Bis heute sind es ausschließlich lokale, polnische NGOs, die im Grenzwald zu Belarus humanitäre Hilfe leisten. Denn internationale Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz oder UN-Flüchtlingswerk, die sonst an jeder EU-Außengrenze operieren, fehlen an der Belarus-Grenze – die polnische Regierung verzichtet auf Zusammenarbeit. Stattdessen beharrt sie darauf, die humanitäre Lage ohne internationale Unterstützung im Griff zu haben.
Als die Angeklagten nach Abschluss der Gerichtsverhandlung vor das Gerichtsgebäude treten, werden sie mit Applaus, Trommeln und „Ihr seid nicht allein“-Rufen begrüßt. Wie bei jedem vorherigen Prozesstag sind auch heute wieder rund einhundert Demonstranten nach Białystok gekommen und halten Plakate mit „Hilfe ist nicht illegal“ hoch.
Die „Fünf aus Hajnówka“ formen Herzen mit ihren Händen und sind sichtlich gerührt. „Ich bin einfach nur müde und erschöpft“, sagt Ewa Moroz-Kaczyńska. Vor drei Jahren hatte sie der Familie P. geholfen, seitdem bringen sie zig Verhöre und die nun neunmonatige Gerichtsverhandlung um den Schlaf. „Wir haben nichts Schlimmes getan – nur das, was unser Herz uns sagt.“ Das Urteil wird am heutigen Montag erwartet.
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