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30 Jahre Dayton-AbkommenVon Milošević zu Trump

Gastkommentar von Sead Husic

Der Friedensvertrag von Dayton, der den Bosnien-Krieg beendete, gilt als diplomatischer Erfolg. Doch er markiert den Beginn der autoritären Wende im Westen.

Leider blieb mehr von Milošević als dieses Plakat in Belgrad 2001 Foto: Darko Vojinovic/ap

I n den 90ern wütete in Europa ein Krieg, der heute fast vergessen ist. Damals feierte man in West und Ost den Zusammenbruch der Sowjetunion und wähnte sich am Ende der Geschichte. Demokratie und Menschenrechte würden sich nun weltweit durchsetzen. Währenddessen schien Jugoslawien in einem anachronistischen Krieg unter der Chiffre: „ethnischer Konflikt“ unterzugehen. Die allgemeine Ansicht war, dass sich in dem multikulturellen Staat eine Gewaltspirale in Gang gesetzt habe, die sich aus einem jahrhundertealten Hass der Völker aufeinander nährte, der den Westeuropäern seit dem Ende des Weltkrieges 1945 gänzlich abhanden gekommen sei.

Tatsächlich ist aus zahlreichen Urteilen des Den Haager Jugoslawientribunals bekannt, dass es sich um einen Angriffskrieg Serbiens unter Führung von Slobodan Milošević handelte. Hierfür mobilisierte er 100.000 Soldaten, Tausende Panzer, Geschütze, Raketen, Flugzeuge und Hubschrauber. Auf den Trümmern Jugoslawiens wollte er ein Großreich errichten, in dem er alle Serben vereinen würde.

Den gleichen Traum hegte der kroatische Präsident Franjo Tudjman, der sich mit Milošević darüber einigte, Bosnien untereinander aufzuteilen. Der dabei im Weg stehenden bosnischen Muslime würde man sich durch ethnische Säuberung und Massenmord entledigen. Was folgte, war eine Gewaltpolitik, die man seit der Schoah in Europa nicht mehr gesehen hatte. So wurde ein Lagersystem geschaffen, in dem Zehntausende Bosniaken, Kroaten, Roma gefoltert, vergewaltigt und ermordet wurden. Sie waren durch den serbischen Staat aus der politischen Gemeinschaft ausgeschlossen, entrechtet, auf ihr nacktes Dasein reduziert worden.

Dr. Sead Husic

promovierte 2006 an der FU Berlin über den Jugoslawien­krieg. Im November erscheint sein Buch „Die Zeitenwende begann in Jugoslawien – wie der Niedergang des Westens begann“

Statt sich dem entgegenzusetzen, hegten die westeuropäischen politischen Eliten klammheimlich Sympathie für die „Bereinigung des Balkans“. Aus einem Gespräch mit US-Präsident Bill Clinton berichtet der Historiker Taylor Branch: „Während sie ihre Friedenstruppen als Zeichen ihres Engagements vorhielten, setzten sie sie tatsächlich als Schutzwall ein, damit die stetige Zerstückelung Bosniens durch serbische Streitkräfte weitergehen konnte. Als ich (Taylor Branch) meinen Schock über einen solchen Zynismus zum Ausdruck brachte, der an die blinde Diplomatie gegenüber der Notlage der europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges erinnerte, zuckte Präsident Clinton mit den Schultern. Er sagte, der französische Präsident François Mitterrand habe besonders unverblümt gesagt, dass Bosnien nicht dazugehöre, und britische Beamte hätten auch von einer schmerzhaften, aber realistischen Wiederherstellung des christlichen Europas gesprochen.“

Internationales rechtes Netzwerk

Gleichzeitig fand sich zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ein internationales rechtes Netzwerk aufseiten der serbischen Faschisten zusammen, das bis heute fortwirkt. So gehörte der Front ­National-Gründer Jean-Marie Le Pen zu den Besuchern des radikalen Serbenführers Radovan Karadžić. Heute hält die Partei unter ihrem neuen Namen Rassemblement National enge Kontakte zu dem ultranationalistischen Präsidenten der Serbischen Republik (RS) Milorad Dodik wie dem autokratischen Herrscher Serbiens Alexander Vučić.

Auch der Vordenker des neuen russischen Imperialismus Alexander Dugin zählt zu den Verbündeten der serbischen Extremisten. Lega Nord Chef Umberto Bossi zeigte sich von der Politik des SDS begeistert. Mitglieder der neo­faschistischen Bewegung Goldene Morgenröte stellten die Griechische Freiwilligen-Garde. Igor Wsewolodowitsch Girkin, Kampfname Strelkov, kämpfte für die Armee der RS und gilt als einer der Drahtzieher des Donbass-Konflikts. Er soll für den Abschuss des Malaysia-­Airlines-Fluges 17 verantwortlich sein und in Višegrad an einem Massenmord an Muslimen teilgenommen haben. Seine bosnischen Kriegsmemoiren erschienen in Russland.

Wie zu Zeiten des Spanischen Bürgerkriegs, in dem Linke aus aller Welt für die Republikanischen Garden kämpften, kamen in den 90er Jahren nun die rechten Kräfte zusammen, um für die Blut-und-Boden-Ideologie der kommenden Zeit einzustehen. Sie warteten nur darauf, dass sie mithilfe der nächsten Krisen in die Regierungen gehievt würden, um ihren Traum von ethnisch reinen Nationalstaaten zu verwirklichen. Siehe AfD, Trump, Fidesz, RN, Ukip.

Heute knüpft Trumps Vertrauter und ideologischer MAGA-Vordenker Steve Bannon Bande mit Dodik, wie auch zu Viktor Orbán, der als Milošević-Bewunderer und Freund Putins gilt. Regelmäßig treffen sich die antiliberalen Kräfte, um sich über ihre Strategien auszutauschen und einander zu stützen, wie 2023 in Serbien.

„White Supremacy“-Ideologie

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Autoren des „Project 2025“ (eine Blaupause für Donald Trumps Umbau der USA in eine Diktatur) sich ausgerechnet ein Beispiel am Umbau Ungarns nehmen. Orbán bediente sich nicht nur Miloševićs Machttechnik, sich staatliche Institutionen dienbar zu machen, indem er sie mit ihm treu ergebenen Gefolgsleuten besetzte und gegen die Bürokratie wetterte, sondern ließ sich sogar von seinen Reden anregen. Die ideologischen Verbindungen sind klar. Die MAGA-Bewegung, die auf der „White Supremacy“-Ideologie ruht, fürchtet, dass sie innerhalb der USA zu einer Minderheit wird und auf Dauer die Macht in den politischen Institutionen verliert.

Was sich in Bosnien abspielte, war kein Rückfall in überwunden geglaubte Formen, wie der Philosoph Giorgio Agamben 1995 schrieb. Vielmehr handelt es sich um blutige Vorboten einer kommenden Ordnung, die sich weltweit durchsetzen würde, sofern die Prinzipien, auf denen sie fußt, nicht infrage gestellt würden. Kollektive ethnische Exklusivität statt individueller Bürgerrechte. Eine Verschiebung der juridisch-politischen Ordnung unter Rückgriff auf Ausnahmezustände. So wie der Westen in Bosnien handeln würde, sähe seine eigene Zukunft aus.

Und was tat der Westen? Er teilte Bosnien in zwei Entitäten, die RS, die damals vollständig von Nichtserben gesäubert war, und die Föderation Bosnien-Herzegowina (FBuH), die vorwiegend Bosniaken und Kroaten bewohnen. In der RS haben Bosniaken und Kroaten nicht die gleichen Rechte wie Serben, umgekehrt sind Serben in der FBuH Bosniaken und Kroaten rechtlich nicht gleichgestellt und die anderen, die sich keiner der drei Ethnien zugehörig fühlen, stehen ohnehin hinten an.

Der Dayton-Vertrag transformierte die durch Gewalt geschaffene Ordnung in einen Verfassungsrahmen und bestätigte juristisch die Institutionalisierung des Ausnahmezustands. Die Menschenrechte der Opfer blieben im Namen der Stabilität suspendiert. Bosnien war nicht nur Kriegsschauplatz, sondern ein Labor ethnischen Engineerings. Dayton wurde zum Modell, um nach ethnischen Kategorien Bevölkerungsmanagement in Kosovo, in Irak, in Afghanistan, in Libyen zu betreiben. Heute dient es als verborgene Matrix in westlichen Demokratien, um hinter dem Anschein von Rechtsstaatlichkeit Ausnahmezonen einzurichten, etwa in außereuropäischen Flüchtlingslagern.

Zu Beginn des neuen Jahrtausends 2001 setzte sich die Entrechtungslogik im Westen fort. Nach den Anschlägen vom 11. September schufen die USA im „Krieg gegen den Terror“ die Figur des „non-citizen combatant“ und errichteten mit Guantánamo ein Lager, in dem die „Feinde“ rechtlos waren. Weltweit unterhielt die CIA geheime Lager, in denen sie willkürlich Terrorverdächtige einsperren konnte, ohne rechtliche Grenzen. Die gleiche Entrechtungslogik wie in den serbischen Lagern.

Frankreich schränkte nach den Terroranschlägen 2015 die Freiheitsrechte seiner Bürger ein. Unter anderem durften Sicherheitsdienste Menschen auf bloßen Verdacht hin verhaften oder Hausdurchsuchungen ohne gerichtlichen Beschluss durchführen. Australien nutzte die Insel Nauru, um Schutzsuchende in einem „Open-Air-Gefängnis“ von seinem Staatsgebiet fernzuhalten. Unter Rückgriff auf Ausnahmesituationen erlaubt der Staat Drohnenmorde, geheimdienstliche Ausspähung ohne richterliche Kontrolle sowie die digitale Überwachung von eigenen und fremden Bürgern. Bald gibt es zwischen den westlichen Rechtsstaaten und autokratisch geführten Ländern keine Unterscheidung mehr. Ob es Minderheiten wie die Uiguren in China, die Aleviten in Syrien, die Kurden in der Türkei, die Rohingya in Myanmar, indigene Völker in Südamerika oder politische Gruppen wie die Aktivisten in Hongkong oder Black Lives Matter sind.

Sympathisanten sind, die als nicht „dazugehörend“ kategorisiert werden: Sie alle drohen, von den Staaten auf ihr nacktes Leben reduziert zu werden.

Wie schnell der Sturz des Rechtsstaates vor sich geht, zeigt das Vorgehen der US-Regierung im März 2025. Unter Rückgriff auf den „Alien Enemies Act“ von 1798 schuf man ein rechtliches Vakuum, indem venezolanische Migranten zu „feindlichen Ausländern“ erklärt wurden, ohne dass individuelle Vergehen nachgewiesen werden mussten. Nach einem Abkommen mit El Salvador schob Trump die Migranten in ein dortiges Gefängnis ab. Eine exterritoriale Ausnahmezone, in der die Menschen weder unter US-amerikanisches Recht noch unter regulären salvadorianischen Rechtsschutz fallen.

Trumps Rhetorik stammt direkt aus dem ethnonationalistischen Handbuch, das mit Dayton internationale Legitimität erlangte. Offen unterstützt er die ethnische Säuberung des Gazastreifens als Lösung des Konflikts, ganz so, wie das auch Karadžić in Bosnien vorgeschwebt hatte. Dass nun insbesondere die Europäer in einen Abgrund blicken, verwundert nicht. Sie standen für ihre Werte in den 90er Jahren nicht ein, weil sie die Bosniaken als nicht zugehörig erachteten. Das Recht schütteten sie zu in den bosnischen Massengräbern.

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2 Kommentare

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  • Danke für diesen historischen Blick auf Bosnien und wie der Westen Bosniens Muslime einem völkischen, rassistischen Serbien opferte. Gegen diese Tatsache stand damals, wie z.T. heute noch, die Mär orthodoxer linker Kreise, der Westen habe Jugoslawien mit der Anerkennung Kroatiens zerstört. Dass serbische kommunistische Führer und die überwiegend serbische Militärspitze innerhalb der jugoslawischen Armee über Nacht zu reaktionären Nationalisten wurden und ethnischen "Säuberungen" organisierten, wurde von diesen Linken und auch Grünen verdrängt oder sogar relativiert. Der Völkermord von Srebrenica zeigte dann das ganze Ausmaß der Katastrophe. Dass heute Politiker Serbiens und der RS ein rechtsextremes, völkisches internationales Netzwerk aufbaut verwundert vor dem Hintergrund nicht und wird auch jetzt noch die damaligen orthodoxen Linken nicht zur Selbstkritik veranlassen.

  • Dankeschön für diesen guten Artikel, der am Selbstbild des Westens stark kratzt. Gleichzeitig zeigt er auf, dass wir uns die Frage stellen müssen, wer wir sein wollen.