Israelische Offensive: Die letzten Stunden in Gaza-Stadt
Vor der drohenden israelischen Offensive herrscht in Gaza-Stadt Angst. Die Menschen sind erschöpft und wissen nicht mehr, wohin sie fliehen sollen.

Die östlichen Vororte sind weitgehend verlassen, berichtet Amjad Schawa, der mit seiner Familie im westlichen Teil der Stadt lebt, gegenüber der taz am Telefon. Es ist Leiter des Palestinian NGO Network, das die Arbeit lokaler und internationaler Hilfsorganisationen koordiniert. Den israelischen Panzern folgen in der Regel Bulldozer oder Sprengtrupps. „Ganze Stadtviertel werden ausgelöscht, dem Erdboden gleichgemacht. Sobald sie in ein Gebiet einrücken, schaffen sie eine Situation, in der es kein Zurück mehr gibt. Sie entwurzeln praktisch die Menschen aus Gaza-Stadt“, erläutert Schawa.
Die Menschen befürchten, dass dies Teil eines angekündigten israelischen Plans ist, sie dauerhaft in den Süden des Gazastreifens zu vertreiben. Noch aber konzentrieren sich die Angriffe auf den Osten der Stadt. Viele flohen von dort in den Westen. „Dort gibt es keinen freien Platz. Überall, auf Trümmern, am Strand, stehen Zelte. Manche haben noch nicht einmal das: Frauen, Kinder, Alte, Kranke und Verwundete leben auf der Straße, oft ohne Hab und Gut, beschreibt Schawa die Lage.
Die israelische Armee hat die Versorgung fast vollständig abgeschnitten. Das Wenige, das durchkommt, wird von den Lkw geplündert und teuer verkauft. Aber die meisten Menschen hätten überhaupt kein Einkommen, erzählt Schawa. „Es gibt kaum Wasser und Essen. Wenn sie Glück haben, essen die Menschen einmal am Tag etwas Reis oder Brot, nur um zu überleben.“ Besonders die Wasserknappheit mache den Menschen zu schaffen, und das bei einer unerträglichen Sommerhitze und Feuchtigkeit.
Menschen werden untereinander aggressiv
Dazu kämen Berge von Abfall, der sich zwischen den Häusern, Ruinen und Zelten auftürme und über die Krankheiten verbreitet würden. „Unterernährung, Durst, der Mangel an Hygiene, die ständigen Vertreibungen und die täglichen israelischen Angriffe, all das führt zu weiteren Toten und verwandelt die Stadt in einen unbewohnbaren Ort“, zählt Schawa auf.
Die humanitäre Katastrophe zermürbt die Menschen. „Ich habe heute gleich vier oder fünf Mal das Gleiche gehört. Die Menschen sagen: Das war’s. Ich halte das nicht mehr aus. Weder ich noch meine Familie. Wenn wir sterben sollen, dann lieber durch eine Bombe in meinem eigenen Zuhause“, berichtet Schawa. „Es kommt zu immer mehr internen Konflikten. Es gibt Schlägereien, manche bringen ihr Leid durch gesteigerte Aggressivität zum Ausdruck, andere hören einfach auf zu essen. Viele nehmen Antidepressiva“, schildert er die psychischen Folgen.
Ein großes Thema unter den Einwohnern von Gaza-Stadt ist, ob sie weiter in den Süden fliehen sollten. Viele sind schon mehrfach geflohen, nur um wieder nach Gaza-Stadt zurückzukehren. „Wohin soll ich denn noch vertrieben werden? Wir sind schon einmal in den Süden geflohen. Dort gab es nichts. Wir sind an dem Punkt angekommen, betteln zu müssen, um überhaupt zu überleben“, klagt der Bewohner Osama Kohail gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.
Amjad Schawa, Leiter des Palestinian NGO Network
Und der palästinensische Schriftsteller und Journalist Yousy Al-Ghoul twittert aus Gaza-Stadt: „Ich bin bisher nicht in den Süden Gazas geflohen, und ich werde heute auch nicht fliehen. Ich werde in dem bleiben, was von meinem Haus übrig ist, von dem schon vieles zerstört wurde. Ich kann einfach nicht 40 Kilometer zu Fuß gehen, während es keinen Transport mehr gibt. Ihr habt Autos, Busse und Lastwagen zerstört, sogar die von Eseln gezogenen Wagen“, schreibt er und führt weiter aus: „Ich kann keine Kanister mit Wasser, Haushaltsgegenstände, Bücher, Kleidung, Bettzeug und etwas Nahrung tragen, nur um im Freien unter einem Himmel zu leben, der von euren Kriegsflugzeugen wimmelt, dieselben Drohnen und Flugzeuge, die nicht zwischen einem Kind oder einer Frau unterscheiden und dort sitzen, um auf meinen Tod zu warten.“
„Es gibt keine sicheren Zonen, nirgends im Gazastreifen, auch nicht im zentralen oder südlichen Teil. Überall wird bombardiert“, sagt auch Amjad Schawa und fasst die generelle Gefühlslage der Menschen in Gaza-Stadt in einem Satz zusammen: „Der Verlust der Hoffnung – das ist das Schlimmste.“ Er selbst will nicht aufgeben. Schließlich, sagt er, sei es sein Job als Hilfskoordinator, anderen Menschen Hoffnung zu geben. Und wenn sie noch so klein sei.
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