„Herbst der Sozialreformen“: Alle wollen Geld vom Staat, wer will dafür zahlen?
Schwarz-Rot streitet, ob man Sozialleistungen kürzen oder Unternehmer und Erben belasten soll. Warum der Sozialstaat nicht schlecht geredet werden darf.
Der Schlagabtausch kommt einem bekannt vor und genau das ist das Problem. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) verkündet, der „Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar“. SPD-Chef und Finanzminister Lars Klingbeil bringt Steuererhöhungen für Wohlhabende ins Gespräch. Steuererhöhungen? „No way, no chance“ kontert CSU-Chef Markus Söder, der im Gegenteil die Erbschaftssteuer „massiv senken“ will.
Dass der vielbeschworene „Herbst der Reformen“ mit schnellen, tiefen Einschnitten kommt, ist kaum zu erwarten, denn bis Gesetze fertig sind, dauert es lange. Doch angesichts der künftigen Löcher im Bundeshaushalt und in den Sozialkassen ist der „Herbst der Sozialreformen“ gewissermaßen jetzt schon da. Er produziert Klischees – und viele Kommissionen.
Bereits konstituiert hat sich eine Sozialstaatskommission unter Leitung von Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD), die sich vor allem um Vereinfachungen bei Wohngeld, Kinderzuschlag und Bürgergeld kümmern soll. Eine geplante Kommission unter Leitung von Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) soll Vorschläge für Reformen im Gesundheitssystem entwickeln. Bereits getagt hat die Bund-Länder-AG zur Pflegereform „Zukunftspakt Pflege“, die sich mit einer Reform der Pflegeversicherung beschäftigt.
Etwas mehr Zeit hat die Kommission, die sich mit der mittel- und langfristigen Reform der Rente befassen und laut Koalitionsvertrag erst bis 2027 Vorschläge unterbreiten muss.
Ein Jahr Karenzzeit in der Pflege?
Ein neues Gesetz zum Bürgergeld soll in Kürze vorgestellt werden. Sozialministerin Bas hat bereits angekündigt, dass künftig schon bei Nichterscheinen zu einem Termin im Jobcenter der Regelsatz deutlich gekürzt werden kann. Jeder erreichbare Job muss angenommen werden, ganz egal, welche Qualifikation vorliegt.
Doch auch wenn dann ein paar Tausend Erwerbslose mehr wegen des Drucks aus den Jobcentern eine Arbeit aufnehmen sollten, löst das nicht die Finanzprobleme der Kranken-, Pflege- und Rentenkassen. Die immer älter werdende Bevölkerung, der teure medizinische Fortschritt und die schwächelnde Konjunktur sind größere Probleme für den Sozialstaat als der Bürgergeldbezug und die Fluchtmigration.
Die Verteilungsfragen sind dabei nicht nur Fragen von reich und arm, sie stellen sich vielmehr direkt in den Mittelschichtmilieus. Es sind etwa Verteilungsfragen zwischen unterer Mitte, prekärer Mitte, abgesicherter Mitte, vermögender und erbender Mitte.
Laut Bundesrechnungshof droht etwa in der Pflege ein langfristiges Finanzierungsloch von über 12 Milliarden Euro bis 2029. In der Pflege-Kommission wird die Einführung einer „Karenzzeit“ diskutiert, um Geld zu sparen. Dabei würden Menschen im ersten Jahr nach Feststellung der Pflegebedürftigkeit kein Geld von der Pflegeversicherung bekommen.
Schon jetzt, wo die Eigenanteile für die Pflege stark gestiegen sind, berichten Patientenvertreter, dass mancherorts die ambulante externe Pflege heruntergefahren wird, wenn die privaten Eigenbeiträge zu hoch werden. Dann wird halt nicht mehr geduscht, die Inkontinenzvorlage seltener gewechselt, das Essen nur noch so hingestellt. Es droht die Verwahrlosung Hochaltriger mit Pflegebedarf und wenig Geld.
Es geht in der Kommission zur Pflege aber auch um die Frage, ob Vermögende für die Versorgung selbst mehr bezahlen sollen und können. Soll man die steigenden Eigenanteile höher bezuschussen oder ist es akzeptabel, dass Wohlhabende auch ihr Geld und die eigene Immobilie einsetzen, um ihre Pflege im Falle der Gebrechlichkeit zu bezahlen? Eine höhere Belastung der pflegebedürftigen Vermögenden in den Mittelschichtmilieus bedeutet, Erbschaften zu schmälern, auf die der Nachwuchs gehofft hat.
Knirschen bei der Reform der Gesundheitsversorgung
Das Beispiel zeigt, wie heikel die Gratwanderung ist in der Frage von Steuern und höheren Abgaben einerseits und Kürzungen der Leistungen aus den Solidarsystemen andererseits. Die Mittelschichtmilieus müssen nur in den Spiegel gucken, um den Konflikt zu erkennen.
Auch bei der Reform der Gesundheitsversorgung knirscht es. Die gesetzlichen Krankenkassen fordern ein Ausgabenmoratorium, sodass die Kosten nicht mehr höher steigen als die Einnahmen aus den Versicherungsbeiträgen. Der Bundesrechnungshof hat die Regierung aufgefordert, schnell ein Konzept zu erarbeiten, um die Finanzen der gesetzlichen Kassen zu stabilisieren. Sonst könnte die Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben jedes Jahr um sechs bis acht Milliarden Euro wachsen.
Im Gesundheitssystem wächst derzeit aber vor allem der Unmut der gesetzlich Versicherten: Sie bekommen im Gegensatz zu den privat Versicherten nur noch schwer Termine bei Fachärzt:innen. Wer auf der Terminplattform „doctolib“ das Kästchen „gesetzlich versichert“ ankreuzt, fühlt sich als Patientin zweiter Klasse, wenn der nächste Termin entweder gar nicht oder erst in drei Monaten zu buchen ist.
Es ist bedauerlich, dass die privaten Kranken- und Pflegeversicherungen nicht indirekt am Solidarsystem beteiligt werden. Etwa durch einen Finanzausgleich zwischen den Privatenkassen mit meist gesünderen und den gesetzlichen Kassen mit kränkeren Patient:innen. Die SPD hatte einen solchen Ausgleich für die Pflege noch im Wahlprogramm stehen. Im Koalitionsvertrag ist davon keine Rede mehr.
Um das System der gesetzlichen Krankenversicherung zu stabilisieren, wären mehr Steuermittel nötig, was die Kassen zu recht fordern. Denn die gesetzlichen Krankenkassen, beziehungsweise deren Beitragszahler:innen, bezuschussen bisher mit rund zehn Milliarden Euro im Jahr die ärztliche Versorgung von Bürgergeldempfänger:innen, für die der Staat viel zu geringe Beiträge zahlt. Und sie finanzieren die kostenlose Mitversicherung von Familienangehörigen.
Doch woher sollen neue Steuergelder kommen? Es wäre fair, die defizitären Sozialkassen durch die Erhöhung von Steuern auch auf Vermögen und Erbschaften zu unterstützen. In Familienunternehmen und in den höheren, vermögenden Mittelschichtmilieus wird mit vorzeitigen Überschreibungen und anderen Tricks die Steuerlast nach Erbschaften gemindert oder umgangen. Dieses ließe sich durch Gesetze einschränken. Doch Vorschläge für Steuererhöhungen, erst recht für Familienunternehmen, werden von Bundeskanzler Merz abgeschmettert, als hätte man Satan persönlich zu Hilfe gerufen.
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Lässt man die Finanzprobleme weiter ungelöst, müssten die Beiträge der Beschäftigten für die gesetzlichen Kassen erneut steigen. Das gilt aber als schädlich für Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Denn damit sinkt nicht nur der Nettoverdienst der Beschäftigten, es erhöhen sich auch die Personalkosten für Unternehmen.
Steigenden Lohnnebenkosten haben vor mehr als 20 Jahren die großen Sparrunden in Deutschland eingeläutet, weil Massenarbeitslosigkeit herrschte, die Konjunktur schwächelte und der Sozialstaat plötzlich als schlecht für die Wirtschaft galt. Einiges von diesem Diskurs des angeblich überbordenden Sozialstaats, der den Charakter verdirbt und der Wirtschaft schadet, könnte sich wiederholen.
Es gibt zwar heute keine Massenarbeitslosigkeit, aber eine AfD, die die Regierung unter Druck setzt mit ihrer Hetze gegen migrantische Bürgergeldempfänger. Und soziale Medien mit ihren Algorithmen, die Empörung aufgreifen und verstärken und so die Spaltungen vertiefen.
Dabei gilt noch immer wie auch schon vor mehr als 20 Jahren: Prozentuale Beiträge für die Sozialkassen, die einkommensabhängig anfallen, sind besser für Niedrigverdiener als verpflichtende private Zusatzversicherungen mit einheitlichen Prämien. Diese werden damals wie heute von einigen Experten zur Entlastung der Sozialkassen gefordert.
Frickelige Fragen zur Gerechtigkeit
Gerechtigkeitsfragen zwischen unterer und gehobener Mitte gibt es auch bei der Rente. Wenn eine Kommission zur Reform des Rentensystems zu dem Schluss kommen sollte, das Renteneintrittsalter langfristig auf 70 zu erhöhen, weil ja auch die Lebenserwartung steigt, dann sind Beschäftigte mit geringen Einkommen, häufig in Verschleißberufen, davon stärker betroffen als Höherverdienende oder Beamte. Die Lebenserwartung der Niedrigverdiener und damit die Dauer des Rentenbezugs ist kürzer als die Lebenserwartung von höher Verdienenden und Beamt:innen mit geistigen Tätigkeiten.
Aufzehrende, erschöpfende Arbeiten mit Schichtdienst, hohem Workload und starker körperlicher und nervlicher Beanspruchung müssten zumindest den Vorzug des früheren Renteneintritts haben. Um diese Frage darf man sich in einer Kommission zur Zukunft der Rente nicht herumdrücken.
Allerdings empfinden auch Besserverdienende verständlichen Unmut anlässlich der sogenannten Abbruchkanten der Sozialsysteme. Das Münchner Ifo-Institut hat errechnet, dass etwa ein Ehepaar mit zwei Kindern, dessen Bruttoeinkommen von 3.000 auf 5.000 Euro im Monat steigt, unter Umständen dann nur 100 Euro netto mehr im Monat zur Verfügung hat, weil mit steigendem Einkommen die Ansprüche auf Wohngeld und Kinderzuschlag sinken. Hier müssten die Anrechnungsraten geändert werden, auch damit befasst sich die Sozialstaatskommission.
Gerechtigkeitsdebatten im Sozialstaat sind frickelig. Kein Wunder, dass es einfacher ist, die Schuld an der Finanzmisere Sündenböcken wie migrantischen Bürgergeldempfängern zuzuschieben, was ja das Geschäftsmodell ist der AfD.
Das Bashing des Sozialstaats sollte besser enden, auch um die Abgabenbereitschaft zu retten. Der deutsche Sozialstaat ist eine schützenswerte Institution, im internationalen Vergleich hochgeachtet.
Und hohe Abgaben in die Kollektivsysteme gehören nun mal dazu. Es kann nicht darum gehen, Beiträge und Steuern möglichst herunterzufahren und mit Leistungskürzungen die Loyalität zum Sozialstaat zu untergraben. Das ist eine Spirale nach unten.
Es wäre ein guter politischer Move, die Geschichte anders herum zu erzählen. Also von den Errungenschaften zu reden, von dem im internationalen Vergleich immer noch auskömmlichen Gesundheitssystem, von der unentgeltlichen Bildung, der relativ billigen Kitabetreuung. Die schwarz-rote Koalition könnte darauf aufbauen und würde den politischen Raum nicht vollstopfen mit Schlagabtauschen, die abgenutzt wirken und keine neue gemeinsame Erzählung schaffen.
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