Pragmatismus statt Polarisierung: Jetzt volle Pulle Rot-Rot-Grün?
Eine mögliche Rot-Rot-Grüne Regierung muss mehr bieten als linken Populismus. Der Grüne Pragmatismus der letzten Jahre könnte als Vorbild dienen.

N achdem selbst der Obermittianer Robert Habeck die Mitte als Illusion bezeichnet hat, ist es für die Wusste-ich-doch-immer-Linke naheliegend, die Welt offiziell in zwei Teile zu spalten: hier links und dort rechts; hier SPD, Grüne, Linkspartei, dort Union und AfD. Ziel: mit angeblich „gutem Populismus“ bei der nächsten Bundestagswahl eine Mehrheit für Rot-Rot-Grün zu erringen.
Guten Populismus gibt es aber nicht, es geht immer darum, die einen auf die anderen zu hetzen. Populismus ist das Gegenteil von Aufklärung und Vernunft. Im Übrigen besteht der Masterplan der AfD darin, die derzeitige Bundesregierung in zwei Lager zu spalten und dadurch zu zerstören. Ein rot-rot-grüner Spin wird wahrscheinlich dazu beitragen, die Union in Richtung AfD zu schieben. Es ist kaum zu verhindern, dass so etwas auf eine mediengesellschaftliche Kulturkampfinszenierung von zwei Seiten hinausläuft, bei der die einen den anderen vorwerfen, dass sie die hinters Licht geführten kleinen Leute an eine miese Elite verraten.
Andererseits ist es ja so, dass Teile der Union sich jetzt schon auf die AfD zubewegen, in völliger Verkennung, dass die CDU das eigentliche Ziel deren Zerstörungsplans ist. Es gibt im Moment keine Regierungsalternative zu Union und SPD, weshalb man Rot-Rot-Grün zumindest strategisch offiziell nicht ausschließen sollte. Aber falls jemand wirklich darüber sprechen möchte, so bietet sich statt der Behauptung moralischer Überlegenheit und einer unzureichenden Fokussierung auf die „soziale Frage“ folgende Überlegung an: Was könnte Rot-Rot-Grün wegweisend Zeitgemäßes in Fragen der EU, der militärischen Verteidigung, der Zukunft der Ukraine und damit Europas, der Wirtschaftstransformation, der Digitalisierung, des Einhaltens der Pariser Klimaverträge, des individuellen, gesellschaftlichen und politischen Resilienzaufbaus bringen? Wie kann man das Geldausgeben nachhaltiger hinkriegen als die derzeitige Koalition, um die Zukunft der Jungen nicht vollends zuzubetonieren?
Was nun die Grünen angeht, so besteht ihre momentane Irritation darin, dass sie sich in den Habeck-Jahren zu einer staatstragenden und gesamtgesellschaftlich orientierten Partei entwickelt haben – auf der Höhe der globalen und europäischen Lage, im Wissen um die Widersprüche und gegen die Laufrichtung aller anderen Parteien. Sie haben damit politische Erfolge erzielt, die energetische und politische Abhängigkeit von russischem Gas abgeschaltet, die postfossile Energiewende vorangebracht, den naiv-gefährlichen Wohnzimmerpazifismus von unsereins beendet. Das Problem: Kaum einer lobt sie derzeit dafür.
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Ich unterstelle: Grüne und Grünen-Wähler sind heute mehrheitlich ordentliche und engagierte Staatsbürger, sind gestresste Eltern und Kinder, bedingt aufbruchbereit, teilweise sogar leistungsorientiert. Das ist nicht nichts. Allerdings ist das eine Identität, die einem Teil der Grünen irgendwie unangenehm ist, historisch-kulturell grundiert möchten sie sich lieber als rebellische Staats- und Gesellschaftskritiker sehen, die sich im Widerstand gegen die „Spießer“ und die Elite wähnen und nicht neuerdings selbst so beschimpft werden. Müssten sie nicht so frech-oppositionell wie Heidi Reichinnek sein oder rotzig-antistaatlich wie Jette Nietzard?
Äh, nein. Das ist kulturelle Nostalgie und Realitätsvergessenheit, die paradoxerweise auch Junge entwickeln. Was gebraucht wird, sind Leute, die mit Herz und Verstand gegenwärtig sind, die nicht auf die Nostalgiezüge nach Nirgendwo aufspringen und dabei überfahren werden. Die nicht selbstbezogen diskutieren, wer sie sein wollen, sondern was die Probleme sind und wie sie sie angehen wollen. Nicht theoretisch im Grundsatzprogramm, sondern praktisch im Hier und Jetzt.
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