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Künstliche IntelligenzWenn wir das Denken an die KI auslagern

Essay von Udo Kords

ChatGPT und Co. entlasten uns vom Selbstnachdenken. Das ist keine effiziente Moder­ni­sie­rung, son­dern ein Angriff auf das, was uns wachsen lässt.

Selber denken und nicht alles an die KI auslagern: Ohne kritisches Denken verkommen wir zu Konsumenten vorgefertigter Meinungen Illustration: Katja Gendikova

E s beginnt mit einer scheinbar harmlosen Frage. „Was bedeutet Bewusstsein?“, tippt eine Schülerin in ihr Smartphone. Sekunden später spuckt ein Algorithmus eine wohlformulierte Antwort aus, garniert mit Fachbegriffen, Querverweisen, überzeugender Struktur. Die Fragende lehnt sich zufrieden zurück, nippt am Kaffee, nickt innerlich. Kein mühsames Blättern in Büchern und Sammeln von Informationen, kein quälendes Grübeln, kein Ringen mit Formulierungen, keine Hadern mit der Komplexität und Vielschichtigkeit des Themas. Kein Zeitinvestment. Hausaufgaben werden nebenbei erledigt, bevor der Kaffee kalt wird. Alles liegt servierfertig auf dem digitalen Tablett. Warum also nicht einfach zugreifen? Doch während wir auf diese Weise Zeit, Aufwand und Engagement sparen, passiert etwas mit uns und in unserm Kopf. Grob gesagt: Wir verdummen.

Die Menschheit hat stets Werkzeuge geschaffen, um das Leben bequemer zu gestalten. Die industrielle Revolution ersetze Muskelkraft durch Maschinen. Die Digitalisierung und der Onlinehandel waren dann eine Daueroffensive in Sachen Bequemlichkeit beim Konsum. Nun aber dringen wir in eine neue Sphäre vor: Wir entlasten uns vom Denken. Wir setzen künstliche Intelligenz im Alltag immer mehr für Aufgaben ein, für die wir kognitive Fähigkeiten benötigen, und die uns, um es ein wenig pathetisch zu formulieren, als Menschen ausmachen: Wir bitten KI um Übersetzungen, Analysen, kreative Texte und Reiseplanungen. Wir lassen Briefe überarbeiten oder direkt erstellen, Informationen recherchieren, Präsentation gestalten, Hausarbeiten schreiben. Selbst komplexe Entscheidungsprozesse delegieren wir an lernende Systeme.

Selbst denken ist schwer und voraussetzungsvoll. Es braucht Ruhe, Zeit, Konzentration, Ausdauer und die Lust, seine kognitiven Fähigkeiten weiterzuentwickeln. In einer Gesellschaft, in der diese Bedingungen immer mehr zur Mangelware werden, verwundert es nicht, mit welcher Schnelligkeit ChatGPT und andere kostenlose KI-Anwendungen Einzug in den Lebensalltag vieler Menschen gehalten haben. Wer möchte sich schon quälen mit komplizierten Überlegungen, wenn ein digitales Orakel über das Smartphone ein permanent verfügbarer Begleiter ist. Die Versuchung ist groß, sich dem inneren Widerstand selbst zu denken, einfach zu ergeben. Und es entspricht nicht nur der menschlichen Schwäche für den einfachen Weg, sondern auch der Art und Weise, wie unser Gehirn funktioniert.

Unser Gehirn liebt Abkürzungen, mit denen es Zeit und Energie sparen kann. Die Psychologie spricht von Heuristik, der Kunst, mit begrenztem Wissen und wenig Zeit zu vergleichbar brauchbaren Lösungen zu kommen. Wir urteilen schnell, denken selten gründlich und bis zu Ende, und überlassen vieles Bewertungs- und Verhaltensroutinen, die aus vielfach erprobten und deshalb fest abgespeicherten Denk- und Reaktionsmustern bestehen. Einen Großteil der Zeit arbeitet unser Gehirn im Modus Autopilot. Die Evolution hat für diese Effizienzmechanismen gesorgt, weil Denken sehr energieaufwendig ist.

Das Gehirn lässt sich trainieren – oder es verkümmert

KI ist die Technologie, die diese neuronalen Energiesparprogramme in unserem Gehirn weiter perfektioniert, indem wir Gelegenheiten, in denen wir bislang selbst gedacht haben, immer mehr ungenutzt lassen, und das mit gravierenden Folgen. Das Gehirn reagiert wie ein Muskel. Wenn es nicht benötigt wird, verkümmert es. Zu den spannendsten neurowissenschaftlichen Entdeckungen gehört die neuronale Plastizität. Diese beschreibt die lebenslange Fähigkeit des Gehirns, sich zu verändern, indem neue neuronale Verbindungen geschaffen werden. Und wodurch entstehen diese? Durch den aktiven Gebrauch des Gehirns.

Wir können unser Gehirn tatsächlich trainieren, indem wir uns mit neuen Themen beschäftigen, Raum für neue Erfahrungen schaffen, neue Aufgaben übernehmen. Aber dieser Prozess geht auch in die Gegenrichtung. Geistige Bequemlichkeit führt zu einer technologisch induzierten kognitiven Regression. Kognitive Regression bedeutet nicht, dass wir über Nacht dümmer werden. Es ist ein subtiler und schleichender Prozess: Wir verlernen, komplexe Sachverhalte selbstständig zu strukturieren, zu durchdringen und in Worte zu fassen. Wir verlernen, Widersprüche auszuhalten. Wir verlernen, schöpferisch zu denken.

Ein Forscherteam am Massachusetts Institute of Technology (MIT), das sich mit den Folgen der Nutzung von KI auf das menschliche Gehirn beschäftigt, spricht von „kognitiven Schulden“, die wir mit jeder Verwendung externer KI-Anwendungen machen. „Kognitive Schulden verschieben mentale Anstrengung kurzfristig, führen aber zu langfristigen Konsequenzen wie verringertem kritischem Denken, erhöhter Anfälligkeit für Manipulation und verringerter Kreativität.“

Dies wird stark dadurch befördert, dass Nutzer leicht einer Kompetenzillusion erliegen. Die Sprachgewandtheit und Schnelligkeit von KI-Anwendungen verführt zu blindem Vertrauen in das, was geliefert wird. Wenn der Text glänzt, der Vortrag sitzt, die Idee clever klingt – wozu dann noch die Mühen der Reflexion, des Zweifelns, des Hinterfragens? Langsam, fast unmerklich, gleiten wir ab in eine Komfortzone geistiger Trägheit.

Die Machdemonstration der Maschine

Wenn KI unser Gehirn entlastet, zahlen wir noch einen weiteren Preis. Den Verlust von Ambition und Selbstwertgefühl. Chatbots schreiben Bewerbungen, generieren wissenschaftliche Abstracts, liefern kreative Ideen für Werbebotschaften oder komponieren Gedichte, und die Ergebnisse sind deutlich besser als das, was viele Menschen zu schaffen in der Lage wären, selbst wenn sie sich wirklich bemühen und sich viel Zeit nehmen würden.

Es ist eine beschämende Machtdemonstration der Maschine, wieder und wieder und wieder. Eine wahrscheinliche Folge: Diese Erfahrung entmutigt zunehmend, es doch selbst zu versuchen. Zudem entwertet KI zwangsläufig das eigene Wissen sowie die eigenen Denk- und Artikulationsfähigkeiten. Denn wenn das künstliche Denkergebnis so gut ist, warum noch selbst denken? Zumal, wenn andere mittels KI viel bessere Ergebnisse erzielen als man selbst mit Selbstgedachtem.

Wenn man nun doch KI nutzen möchte, wie vermeidet man, dass das Selbstwertgefühl dadurch Schaden nimmt? Indem das kognitive Vermögen als Bestandteil der eigenen Identität aufgegeben oder in seiner Bedeutung reduziert wird, um möglichen Störgefühlen jede Grundlage zu entziehen. Wir dürfen uns nicht mit künstlicher Intelligenz messen. Es kommt nicht mehr so sehr darauf an, zu wissen und selbst zu denken, sondern auf das Ergebnis, das ich mit Hilfe der KI erziele.

KI ist daher das ideale Tool für Menschen, die nach dem Prinzip leben, möglichst hohe Erwartungen an das Umfeld zu stellen, ohne dafür selbst viel Einsatz zu bringen. Mit dieser Einstellung kann man sich auch über eine gute Zensur freuen, selbst wenn sie durch die Nutzung von KI ermogelt wurde, statt durch den mühevollen und zeitintensiven Einsatz der eigenen Fähigkeiten. Der kurzfristige Erfolg in der Außenwelt gilt dann mehr als die eigene Entwicklung und Leistung. Gedankliche Arbeit wird zum einfachen Konsumgut, zu einer Anstrengung, die sich leicht vermeiden lässt.

Nicht die KI macht uns dumm

Es gibt grundsätzlich zwei Arten, KI zu nutzen: Entweder, sich von ihr unterstützen und sich Rohmaterial bereitstellen zu lassen, das dann zunächst kritisch geprüft, aus anderen Quellen ergänzt und schließlich von einem selbst weiterverarbeitet wird. Oder die KI-generierten Inhalte als das Bestmögliche, Richtige und Wahre zu übernehmen,Inhalte als das Bestmögliche, Richtige und Wahre zu übernehmen, ohne es selbst versucht zu haben, ohne eigene Bemühungen einzubringen, ohne zu hinterfragen und eigene Quellen zu recherchieren. Und ohne die Mühen, Inhalte zu hinterfragen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Gewissermaßen der Ansatz Selbstwirksamkeit gegen den Ansatz Selbstentmündigung.

Nur, wo liegt eine klar erkennbare und handlungsleitende Grenze zwischen beiden Ansätzen? Wie mit der Ambivalenz zwischen „Selbst denken“ und „an KI delegieren“ umgehen? Künstliche Intelligenz spinnt ein weitreichendes Netz der Bequemlichkeit für jeden von uns. Und das Risiko, sich darin zu verfangen, wächst mit der alltäglichen Normalität, künstliche Intelligenz zu nutzen. Alle machen es. Jeden Tag erfährt man aus dem Freundeskreis einen neuen Anwendungsfall für künstliche Intelligenz, und man spürt den Stolz des Anwenders. Und wir leisten gerne Kompetenzverzicht im Angesicht der technischen Überlegenheit.

Daraus wird aber auch deutlich, dass nicht KI dumm macht und einen regressiven Einfluss auf unsere Persönlichkeitsentwicklung haben kann, sondern unsere – zumeist unbewusst getroffene – Wahl, sie gedankenlos, unreflektiert und viel zu häufig zu benutzen. Neue Technologien zu entwickeln ist eine Herausforderung. Die weit größere Herausforderung für uns Menschen besteht jedoch in der Regel darin, technische Innovationen sinnvoll zu nutzen, was nicht zuletzt auch bedeutet, sich der Nutzung zu widersetzen und klare Grenzen dafür zu ziehen. Wie schlecht wir darin sind, zeigen unzählige Beispiele, welchen weitreichenden negativen Effekte digitale Technologien für einzelne Nutzer wie die Gesellschaft als Ganze haben kann.

Das Outsourcing des Denkens ist keine effiziente Modernisierung, sondern ein Angriff auf das, was uns innerlich wachsen lässt. Dabei ist das Denken kein rein neurologischer Vorgang, bei dem Nervenzellen elektronische Impulse versenden. Es ist eng verwoben mit unserer Persönlichkeitsentwicklung. Die Fähigkeit zu zweifeln, zu irren, neu zu justieren – all das formt nicht nur unseren Verstand, sondern auch unseren Charakter.

So wie soziale Plattformen hochoptimierte Zeit- und Aufmerksamkeitsräuber sind, nehmen wir uns mit jedem Rückgriff auf künstliche Intelligenz Raum für das, was Hannah Arendt „Denktätigkeit“ nannte: das unablässige Hinterfragen, das produktive Zweifeln, das Aushalten von Unsicherheit und Widersprüchen. Doch gerade darin liegt die Essenz des Menschseins.

Ohne kritisches Denken verkommen wir zu Konsumenten vorgefertigter Meinungen und kuratierter Informationen, werden empfänglicher für Beeinflussung und immer abhängiger von externen Entscheidungshilfen. Wer das Denken auslagert, lagert seine eigene Entwicklung und Identität in Teilen gleich mit aus und macht sich zum Zuschauer der eigenen Entmündigung.

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