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Journalistin über Gesprächskultur„Sie können gerne eine andere Meinung haben“

Die Journalistin Dunja Hayali redet mit allen, auch mit AfDlern. Warum macht sie das? Ein Gespräch über Demokratie, Herkunft – und Boris Becker.

Beschreibt sich als mal links, mal mittig, mal liberal-konservativ: Dunja Hayali beim ZDF in Mainz Foto: Bernd Hartung
Peter Unfried
Interview von Peter Unfried

taz: Frau Hayali, Sie sind dafür bekannt, dass Sie mit allen reden, auch mit der AfD und ihren Wählern. Das ist für manche Leute ja immer noch die Frage: Soll man mit denen überhaupt sprechen, und wenn ja, wie?

Dunja Hayali: Als Journalistin spreche ich mit allen, höre zu und versuche, durch Fragen zu verstehen, ohne automatisch Verständnis für die Position zu haben beziehungsweise zu entwickeln.

taz: Und als Bürgerin?

Hayali: Auch. Allerdings ist die Schmerztoleranz im privaten Raum eine andere, ich halte meine Meinung weniger zurück. Im beruflichen Kontext zeige ich, wenn überhaupt, Haltung, aber keine Meinung. Zudem unterscheide ich zwischen Wählern und Abgeordneten.

taz: Was ist Ihre Begründung für sprechen und sprechen lassen?

Hayali: Wenn eine Partei demokratisch gewählt wurde – ob sie demokratisch ist, steht auf einem anderen Blatt – und eine gewisse Prozentzahl X der Bevölkerung im deutschen Bundestag vertritt, dann müssen wir uns als öffentlich-rechtlicher Rundfunk mit ihr auseinandersetzen. Die Frage ist, wie. Und da gibt es immer wieder Diskussionsbedarf und eine Überprüfung der eigenen Maßstäbe. Spannend finde ich, dass offenbar immer mehr Zuschauende es extrem kritisch sehen, dass wir Ver­tre­te­r*in­nen der AfD zu Interviews einladen. Das ist auch okay, aber mir zu unterstellen, ich mache diese Partei groß damit, finde ich schon ziemlich befremdlich.

Im Interview: Dunja Hayali

Die Journalistin

Geboren 1974 in Datteln, Nordrhein-Westfalen. Lebt in Berlin. Ihre Eltern kamen vor ihrer Geburt aus Mossul (Irak) über Wien nach Datteln, wo sie eine Arztpraxis betrieben. Hayali arbeitet als Fernsehjournalistin beim ZDF und moderiert dort vor allem das „heute-journal“ und das „Morgenmagazin“.

Der Film

In Ihrem neuesten Film „Am Puls: Die innere (Un-)Sicherheit“ geht Dunja Hayali dem von vielen geteilten Gefühl nach, Deutschland sei unsicherer geworden – und wie es sich dazu verhält, dass das Land in den letzten Jahrzehnten de facto sicherer geworden ist. Abrufbar in der ZDF-Mediathek.

taz: Wenn Sie Interviews mit AfDlern führen, kriegen Sie sofort einen Shitstorm.

Hayali: Ja. Das ist mittlerweile erprobt und erlernt, und zwar von allen Seiten. Der Shitstorm kommt von denen, die die AfD ablehnen, verachten, hassen. Und auch von denen, die sie wählen oder Mitglieder dieser Partei sind. Diese Begleitmusik ist unangenehm, aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Meistens jedenfalls. Auch, dass Aussagen aus dem Kontext gerissen oder mir Dinge unterstellt werden, die ich mal gesagt oder gemeint haben soll. Verwundert bin ich immer wieder über die Aussage, wir müssten die AfD stellen und entlarven. Das ist doch bereits passiert. Jeder, der es lesen, hören und wissen will, kommt an diesem Befund nicht vorbei. Da ist nichts mehr im Verborgenen. Deshalb auch der Zusatz: Wer sie wählt, wählt sie nicht trotz der Inhalte, sondern genau wegen der Inhalte.

taz: Wie gesprächsbereit sind Sie als Privatperson wirklich? Ich habe gelesen, es geht auch bei Ihnen nur bis „zu einem gewissen Punkt“.

Hayali: Ja, und dieser gewisse Punkt ist ambivalent. Er hängt von der Tagesform ab und der damit verbundenen eigenen Souveränität. Und dann gibt es natürlich Aussagen, wo bei mir im Privaten früher als im Journalistischen Ende ist. Wo ich sage: bis hierher und nicht weiter. Wenn zum Beispiel jemand die Schoah leugnet, was mir bei Dreharbeiten schon passiert ist, ist halt im Privaten Schluss. Im Beruflichen versuche ich dagegen noch im allerletzten Winkel irgendetwas zu finden, anhand dessen ich verstehen kann, warum eine Person zu einer Position gekommen ist, warum jemand so geworden ist, wie er ist. Auch hier gilt: verstehen wollen, ohne Verständnis zu haben.

taz: Ist das der Schlüsselsatz?

Hayali: So sehe ich meine Aufgabe als Journalistin. Das Gute ist: Ich bin beruflich wie privat neugierig genug, um Leuten auf die Nerven zu gehen, bis sie mit der Sprache rausrücken. Ich will nachvollziehen können, wieso jemand wie denkt, warum er was fordert, warum er sich von plumpen Antworten angezogen fühlt, oder, im Fall von Alice Weidel, es zu lauter Widersprüchen kommt. Manchmal entwickeln sich Gedanken auch während eines Interviews. Das macht mir eigentlich fast am meisten Spaß, wenn durch meine Fragen beim Gegenüber ein Erkenntnisgewinn entsteht. Oder zumindest eine gewisse Nachdenklichkeit. Mir gefällt es jedenfalls andersherum sehr, wenn mich jemand ins Denken bringt.

taz: Mit dieser differenzierten ­Position machen Sie sich gerade in ­Milieus, die sich als progressiv verstehen, nicht nur Freunde.

Hayali: Ist ja auch okay, dass das kritisch gesehen und kritisiert wird. Das muss ich aushalten. Es ist aber nun mal mein journalistischer Ansatz, und den müssen bitte andere aushalten. Außerdem geht es hier nicht darum, jedem zu gefallen, sondern darum, dass ich mich, meine Werte und mein Verständnis von gutem Journalismus wiedererkenne. Um es aber noch einmal deutlich zu sagen: Über den Umgang mit einer vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistischen Partei müssen wir immer wieder ringen, diskutieren, abwägen – in der Gesellschaft, aber auch innerhalb des Senders.

taz: Der Medienwissenschaftler ­Bernhard Pörksen hat ein wegweisendes Buch geschrieben, „Zuhören“ heißt es. Er sagt: Sprechen können wir schon, aber zuhören können wir nicht. Jedenfalls nicht anderen Positionen. Wie sehen Sie das?

Hayali: Mein Eindruck ist, dass nicht wenige Menschen fast gar nicht mehr zuhören können. Sie wollen sich im Grunde nur in ihrer eigenen Meinung bestätigt sehen. Mal jemanden eine bis zwei Minuten reden lassen, fällt einigen schwer, selbst wenn sie zustimmen. Mir übrigens auch. Die journalistische Taktung färbt halt auch aufs Private ab.

taz: Was ist mit sachlichem Widersprechen?

Hayali: Der Widerspruch ist doch ein probates und faires Mittel. Insbesondere in Form von Fakten, Argumenten und auch Eigenerfahrung. Meinungsfreiheit heißt ja auch die Freiheit, eine andere Meinung zu haben. Und manchmal hilft es sicherlich auch, vor dem Widerspruch noch mal nachzufragen. Ich erlebe häufig bei Vorträgen über Medien und Demokratie, dass der Hälfte im Saal die Kinnlade runterfällt, wenn ich sage: Unser parlamentarisches Spektrum geht von links bis rechts. Weil sie rechts gleichsetzen mit rechts außen.

taz: Sie offenbar nicht?

Hayali: Nein. Rechts ist für mich konservativ. In Abgrenzung dazu sage ich rechts außen, rechtspopulistisch, rechtsradikal. Ich als Sprechende habe gelernt zu erklären, was ich meine. Aber wenn ich es mal vergesse, würde ich mir wünschen, dass das Gegenüber nachfragt, bevor es eskaliert. Und dann eventuell auch weiter nachfragt: Was ist denn für dich eigentlich genau konservativ oder liberal? Oder: Wie beschreibst du dich selbst?

taz: Wie beschreiben Sie sich selbst?

Hayali: Ich bin das gesamte demokratische Parteienspektrum, je nachdem, worum es geht. Ich sehe in mir linke Ansätze, ich teile die Mitte und ich habe, durch die Eltern geprägt, auch liberal-konservative Ansätze. Ich bin froh, dass wir ein Parteienspektrum und somit die Wahl haben – von links bis rechts. Das Verächtlichmachen einer Partei liegt mir daher fern. Mir geht es aber eh weniger um Parteien als um Inhalte. Ich konzentriere mich lieber auf die Vorhaben, die angestrebten Lösungen. Und bei aller Kritik an gewissen Inhalten, die ich an jeder Partei habe, halte ich es für dumm wie gefährlich, die Union nach rechts außen zu schieben. Und auch für falsch.

Ich bin gegen das Tempolimit auf Autobahnen, ich fahre nun mal gerne schnell Auto. Ich weiß, dass das eine absurd-dumme Einstellung ist, aber auch ein guter Gradmesser, wie offen Menschen wirklich mit anderen Meinungen umgehen

taz: Begründung?

Hayali: Ein Beispiel: Wenn Sie jeden als Nazi bezeichnen, der sich manchmal plump, unbedacht und unüberlegt äußert, dann verharmlosen sie die echten Nazis beziehungsweise Neonazis und Faschisten. Meine Meinung. Sie können gerne eine andere haben. Das nennt sich dann nicht nur Meinungsfreiheit, sondern auch Meinungsvielfalt.

taz: Wie kommt Ihr Freundes- und Bekanntenkreis mit Ihren Positionen klar?

Hayali: Ich habe in meinem Freundeskreis das gesamte politische Spektrum. Ich schätze das sehr, denn es erweitert meinen Horizont.

taz: Das klingt, als hätten Sie auch ­AfDler in Ihrem Freundeskreis.

Hayali: Zumindest teilen ein bis zwei manche Inhalte. Die Perspektiven von anderen und auch, andere Lebensumstände aus nächster Nähe zu sehen, zu hören, zu fühlen, ist für mich wichtig. Und so unterschiedlich unsere Meinungen auch manchmal sind, uns ist allen klar, dass es unbezahlbar ist, in einer Demokratie zu leben, in der wir Wahlmöglichkeiten haben. Das heißt natürlich auch, dass wir verdammt sind, den Konsens, den Kompromiss zu suchen, aber das ist immer noch besser als jede andere Staatsform, die ich kenne.

taz: Sie wollen nicht, dass man Sie in Schubladen stecken kann. Aber schon mit den Zuweisungen Frau und Migrantin werden Sie gelabelt und müssen damit umgehen. Das taucht doch in Kommentaren und Hass-Postings sicher ständig auf, oder?

Hayali: Ich erweitere und ergänze das Bullshit-Bingo: öffentlich-rechtlicher Rundfunk, queer, tätowiert, meistens selbstbewusst und neugierig nervig. Was ich mittlerweile lustig finde, ist, dass man als links gilt, nur weil man sich gegen Rassismus, Antisemitismus, Islam- und Queerfeindlichkeit einsetzt oder seine Stimme zum Beispiel für Pluralität, Humanität, Tierwohl, Naturschutz und Menschen in Not erhebt.

„Ich habe gelernt, mit Shitstorms umzugehen“: Dunja Hayali in Mainz Foto: Bernd Hartung

taz: Als Sie 13 waren, sagte Ihr Vater zu Ihnen: Vergiss nie, wo du herkommst.

Hayali: … und ich dachte: Hä? Ich komme aus Datteln. Und da wir beide Dickköpfe waren, hat das natürlich zu einer Diskussion geführt. Damit kann man sich bildhaft meine Kindheit vorstellen, oder die Diskussion zwischen meinem Vater und mir. Vielleicht habe ich deswegen das Streiten gelernt. Der Streit um die Sache ist eh was Tolles. Gute Schule dafür sind Pro- und Contra-Artikel.

taz: Ihr Vater stammt aus Mossul im Irak. Sie kommen aus Datteln in Nordrhein-Westfalen, und wenn Sie das sagen, sagen vermutlich ein paar Leute: Nein, nein, ich meine, wo kommen Sie wirklich her?

Hayali: Ich respektiere, dass viele die „Wo kommst du her?“-Frage ablehnen und dass sie sie sogar in Teilen verletzt und wütend macht. Bei mir ist das in der Regel nicht der Fall.

taz: In der Regel?

Hayali: Es kommt darauf an, wie man mir die Frage stellt. Zugewandt und aus Interesse? Dann beantworte ich sie gerne. Aus Datteln, da sind manche etwas verunsichert, was dann nach einem verschämten Rumgeeier in den Satz mündet: Sie wissen doch, wie ich’s meine. Dann sag ich: Sie meinen sicher die Wurzeln meiner Eltern und auch meine.

taz: Und dann?

Hayali: Daraus haben sich oftmals wirklich tolle Gespräche entwickelt. Ich habe dadurch gelernt, wie viele Menschen schon im Irak waren. Oder wie spannend die Menschen den Orient finden. Oder wie irritiert sie sind, dass wir Christen sind. Ich finde auch: Wenn ich nicht selbstbewusst mit den Wurzeln meiner Familie umgehe, wie kann ich dann von meinem Gegenüber erwarten, dass es akzeptiert, dass ich mindestens zwei Heimaten in mir trage?

taz: Wie reagieren Sie, wenn die Frage doch eher abwertend gemeint ist?

Hayali: Dann beende ich das Gespräch. Es muss jeder selbst entscheiden, wie er mit dieser Frage umgeht. Ich persönlich stelle sie aber auch fast jedem und jeder. Aus wirklichem Interesse. Wenn das nicht als Mauer aufgebaut wird, kann das auch etwas wunderbar Horizonterweiterndes haben.

taz: Wie genau fragen Sie? Sagen Sie: Wo kommen Sie her?

Hayali: Zu 99 Prozent: Wo liegen Ihre Wurzeln? Welche Landsfrau sind Sie?

taz: Was andere Positionen angeht, so sagen Leute gern, dass sie „herausgefordert“ werden möchten, aber das stimmt nach meiner Erfahrung meistens leider nicht, sie wollen bestätigt werden. Wie erleben Sie das?

Hayali: Die meisten glauben ja, einen zu kennen. Bei Vorträgen erzähle ich lang und breit, wie das mit anderen Meinungen ist und dass man sie aushalten sollte. Da wird eifrig genickt. Aber wenn ich dann sage, ich bin übrigens gegen das Tempolimit auf Autobahnen, dann fällt die Kinnlade runter und der Puls im Saal steigt.

taz: Wie bitte? Frau Hayali, wie kann das sein?

Hayali: Bitte keinen Shitstorm. Ich weiß, dass das eine absurd-dumme Einstellung ist und fast alle Argumente dagegen sprechen, aber ich fahre nun mal gerne schnell Auto. Also habe ich meine Einstellung aus rein egoistischen Gründen. Aber sie ist ein guter Gradmesser, wie offen Menschen wirklich mit anderen Meinungen umgehen können, ohne gleich auszurasten.

taz: Dann sind Sie ja ein normaler, also widersprüchlicher Mensch.

Hayali: Wer ist das nicht? Ich bin sogar einer, der seine Meinung auch mal ändern kann, der Fehler eingestehen kann, aber am Ende wollen wir doch immer alle Recht haben.

taz: Sind Sie Patriotin?

Hayali: Ich bin Verfassungspatriotin. Ich wünschte mir wirklich, dass mehr Menschen unser Grundgesetz lesen. Man kann viel fürs Zusammenleben aus den ersten Artikeln mitnehmen. Und wenn ich sage, ich möchte, dass Menschen in Not geholfen wird aufgrund unserer Gesetze, des Asylgesetzes, der Genfer Flüchtlingskonvention, dann kann ich die andere Seite nicht einfach ausblenden, also die Regeln, die auch beinhalten, dass nicht jeder bleiben darf.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

taz: Was heißt das?

Hayali: Dass Abschiebungen nun mal leider zur Wahrheit gehören. Wer das ändern möchte, muss im Grunde das Grundgesetz ändern.

taz: Leider?

Hayali: Wenn ich in einem Land lebe, das ausgebeutet wird, und in dem ich keine Zukunft sehe, dann würde ich doch auch irgendwo hingehen, wo es mir besser erscheint. Wem will man diesen Gedanken, diesen Wunsch verübeln? Ich glaube, dass manche in unserem Land wirklich keine Vorstellung davon haben, wie gut es uns – bei allen Problemen und Herausforderungen – im Großen und Ganzen geht. Oder sie sind so kalt, dass es ihnen einfach egal ist, was mit anderen ist. Aber natürlich – Achtung, es folgt eine Binse – kann nicht jeder hierherkommen, und will das übrigens auch nicht. Die meisten Geflüchteten sind Binnenflüchtlinge, die darauf hoffen, in ihre Heimat zurückzukehren. Zum Thema Abschiebungen nur noch ein Satz, weil ich lieber über Integration sprechen würde.

taz: Ja?

Hayali: Wir schieben halt leider in Teilen die Falschen ab. Also die Integrierten, die Arbeitsstellen oder Ausbildungsplätze haben und die man leicht auffinden kann. Das ist per Gesetz richtig, aber doch sinnbefreit, oder nicht? Wir brauchen Fachkräfte und Kräfte. Und gleichzeitig tun wir uns bei Schwerkriminellen schwer, weil wir sie nicht finden. Ist doch absurd.

taz: Ich bin dankbar, dass ich in dieser Zeit und in diesem Land mit dieser Verfassung leben darf. Sie?

Hayali: Meine Freunde können’s nicht mehr hören, aber ich sage es noch einmal: Wir haben mit Deutschland im Geburtslotto gewonnen. Und die, die es so nicht sehen, können gerne gehen – ich sage das mit aller Vorsicht, weil ich nicht so enden möchte wie Walter Lübcke –, sich was anderes angucken und dann wieder zurückkommen. Bei mir führt das Zurückkommen oft zu Dankbarkeit und Demut.

taz: Vorsicht, nicht übertreiben.

Hayali: Womit? Kann ich nicht froh sein, hier geboren worden zu sein, und gleichzeitig all die Probleme sehen, die wir haben? Bildung, Pflege, Digitalisierung, Schere zwischen Arm und Reich, Infrastruktur, Wohnungsnot, steigende Kosten, Alters- und Kinderarmut, häusliche Gewalt und, und, und. Wie wir mittlerweile mit Migration umgehen. Wie wir mit Menschen umgehen, die sich ehrenamtlich einsetzen. Wie Po­li­zis­t*in­nen und Feuerwehrleute angegriffen werden. Ich könnte eine Stunde erzählen, worüber ich mich aufrege. Aber ich kann doch das eine tun, ohne das andere zu lassen.

taz: Jetzt kriegen Sie sofort den Vorwurf, privilegiert zu sein.

Hayali: Ja, das sage ich aus einer privilegierten Situation heraus. Aber ich habe das auch schon früher gesagt. Ich hatte das Glück, dass meine Eltern mir viel von der Welt gezeigt haben. Und als ich konnte, habe ich sie mir selber angeschaut und tue das immer noch.

taz: Ein beliebter Vorwurf von Links- und Rechtsaußen: Leute wie wir sind privilegierte Arschlöcher, die groß daherreden und überhaupt nicht wissen, wie nicht privilegierte Menschen leben.

Hayali: Teilweise kann ich das auch verstehen. Dank meiner Eltern ging es mir finanziell immer gut, wobei ich schon von klein auf gern unabhängig war. Ich hab mit 12 angefangen, Hunde spazieren zu führen, Rasen zu mähen et cetera. Ich habe vier Jahre in einer Spülküche gearbeitet. Ich habe Handys verkauft, ich habe Schicht in Fabriken gearbeitet. Der Unterschied ist, dass ich es nicht musste. Wäre ich auf die Schnauze gefallen, hätten mir meine Eltern helfen können. Dieses Wissen, geschützt zu sein und aufgefangen zu werden, ist mit keinem Geld der Welt zu bezahlen. Aber ich weiß eben auch, was arbeiten bedeutet. Was es heißt, fließend Wasser zu haben, durchgängig Strom. Und wie wenig es kostet, einfach nett zu seinem Gegenüber zu sein.

taz: Wie kamen Sie eigentlich darauf, Journalistin zu werden?

Hayali: Boris Becker. Ich fand den ­Tennis-Zirkus spannend und wollte da ­irgendwie dabei sein. Wenn schon nicht auf dem Platz, dann daneben. Plan B wäre die Polizei gewesen.

taz: Auch das noch.

Hayali: Warum? Können wir bitte auch hier das Schwarz-Weiß-Denken gegen ein Sowohl-als-Auch eintauschen. Es gibt bei der Polizei solche und solche. Wie in allen Bereichen. Und wenn nur Idioten dort hingehen, dann wird das mit der Polizeigewalt und dem Racial Profiling nie besser. Aber klar, wir ­können einfach alles, was Schwachstellen hat beziehungsweise dysfunktional ist, abschaffen, anstatt zu verbessern. Nur, dann schaffen wir uns selbst ab.

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