
Unterhaltungsindustrie: Das Game ums große Geld
Digitale Spiele generieren mehr Umsatz als Filme, Musik und Bücher. Längst spielen nicht mehr nur junge Nerds, sondern auch ältere Normalos. Wie Spielehersteller davon profitieren wollen.
K eine fünf Sekunden hat Sabine Hernandez für ihren neuen Highscore gebraucht. Dafür hat sie ein virtuelles Wohnzimmer durchsucht, hat einen Hut, einen Stock, einen Regenschirm eingesammelt – das ist ihr Job am Display ihres Smartphones. Und zack!, schon tippt sie noch eine Vase und ein Halstuch an. Mission erfüllt. Andere hätten mehrere Minuten im virtuellen Wohnzimmer verbracht oder wären ganz verzweifelt.
Hernandez spielt „June’s Journey“, ein Wimmelbild-Handyspiel mit einer romantisch angehauchten Hintergrundgeschichte. Wer „JJ“ spielt, taucht in die 1920er Jahre ab und hilft der Hauptfigur, Hinweise zu finden und Rätsel zu lösen. Anfangs geht es noch darum, dass June den Mörder ihrer Schwester und deren Mannes finden will. Die Indizien dazu verstecken sich in den Suchbildern.
Im weiteren Verlauf reist June um die Welt: Es gibt Familienkonflikte durch Liebe, Verrat und Intrigen, Vermisste und noch mehr Tote, Waffen- und Drogenhandel, Sabotagen in Goldminen. Auch dabei muss Sabine Hernandez Dinge einsammeln und Aufgaben erfüllen. Denn was nach mittlerweile über 400 Kapiteln gleich bleibt: Es gilt, Münzen und Diamanten zu „gewinnen“ sowie Objekte wie Gebäude, Figuren und Pflanzen, die eine private Spielinsel aufhübschen. Je kniffliger die Aufgaben und je höher die Spielstufen, desto größer die Belohnung – und vielleicht auch das Ansehen in der Spielergemeinschaft.
Knapp acht Jahre ist Hobbydetektivin June schon den mysteriösen Geheimnissen ihrer Familie auf der Spur, und fast genauso lange ist auch Sabine Hernandez dabei. „Es hilft, jedes Wimmelbild vorher im Internet zu studieren“, rät sie.
Sabine Hernandez, „June’s Journey“-Spielerin
Auf der Website des Spiels und auf Facebook tauschen sich die SpielerInnen rege aus. Sie geben sich Tipps und spekulieren darüber, wie es auf Junes Reise weitergeht. „Und dann schön konzentriert von links nach rechts durcharbeiten.“ Leicht gesagt, mit derart geschulten Augen und der Übung von vielen hundert Wimmelbildern.
Sabine Hernandez ist von Beruf Chemikerin, sie lebt in Berlin-Hermsdorf, ist 45 Jahre alt – und braucht langsam mal ein neues Telefon. Das Display ihres alten iPhones ist zu klein und zu dunkel, das erschwert die Suche auf Junes Wimmelbildern unnötig. Davon erzählt Hernandez auf einer Dachterrasse nahe des Spreeufers – von Wooga, der Softwarefirma, die „June’s Journey“ entwickelt hat. Das Unternehmen lädt immer mal wieder Spieler:innen ein, auch für Termine mit Journalist:innen.
Neben Hernandez sitzen ihre beiden Töchter und schauen mit Kopfhörern gebannt einen Film auf dem Tablet. „Ich habe angefangen, weil ich nach einer Beschäftigung beim Stillen gesucht habe“, sagt Hernandez. „Danach hat mich das Spiel durch die Pandemie gerettet: Ich konnte mir auf meiner Insel die Zeit vertreiben, abschalten und habe über die Tauschbörse neue Leute kennengelernt, die genauso auf dem Sofa festsaßen wie ich. Über das Spiel habe ich mit anderen sprechen können, habe Freundschaften geschlossen. Diese Interaktion war so wichtig für mich.“
Wie ihr ging es zig Millionen Menschen. Corona hat der Computerspielindustrie einen irrwitzigen Schub verliehen. In den Lockdownmonaten vertrieben sich die Leute die Zeit mit Serien, Büchern und eben Spielen, während die Spieleentwickler mit Fördergeld unterstützt wurden. Weltweit schoss die Zahl der Gamingstudios und der Spieler:innen durch die Decke.
So ist die Branche längst zur größten Geldmaschine der Unterhaltungsindustrie aufgestiegen. Im Jahr 2024 betrug ihr weltweiter Umsatz über 180 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Die Filmbranche macht 125 Milliarden Euro Umsatz, der Buchmarkt 65 Milliarden, die Musikindustrie 30 Milliarden.
Dennoch haben auch die Spielestudios zu kämpfen. Zwar blieb der Gesamtumsatz in den vergangenen drei Jahren stabil und die Spieler:innenzahl stieg stetig. Nach dem Boom in der Pandemie schwappten jedoch Entlassungswellen durch die großen Firmen: 2023 und 2024 verloren jeweils um die 10.000 Beschäftigten ihren Job. Viele kleinere Unternehmen mussten gleich ganz schließen. In Deutschland sank der Umsatz 2024 um 6 Prozent auf knapp 10 Milliarden Euro.
Hierzulande will nun die Bundesregierung gegensteuern und die Entwicklung digitaler Spiele unterstützen. Bundestechnologieministerin Dorothee Bär (CSU) plant, die Fördermittel aus früheren Jahren kurzerhand zu verdreifachen, auf nun jährlich 125 Millionen Euro. Zudem sollen die Studios steuerliche Hilfen erhalten. Das soll die deutsche Wirtschaft ankurbeln und Fachkräfte anziehen. Denn bei der Zahl international erfolgreicher Studios ist Deutschland bei Weitem nicht Weltspitze.
Bär will das ändern. Sie hat Games von dem belächelten Spielzeugsektor auf die sogenannte Hightech Agenda ihres Ministeriums gehievt. Dieser Plan soll deutsche Unternehmen unter anderem in den Bereichen Mikroelektronik, Biotechnologie und klimaneutrale Energie nach vorn bringen. Und mit ihnen die Spielestudios plus ihren kreativen, programmierenden Fachkräften.
Aber wen oder was meint die Politik überhaupt mit der Gamingbranche? Und wer sind die Gamer:innen, die am Ende die Umsätze generieren sollen?
Das war früher noch etwas leichter zu überschauen. Als noch nicht jeder mit einem internetfähigen Computer in der Hosentasche – also einem Smartphone – herumlief, entwickelten die Hersteller ihre Videospiele für PCs und Konsolen. Die Studios hatten selten mehr als hundert Mitarbeiter:innen, die vor allem damit beschäftigt waren, ihre Spiele aufwändig mit selbst entwickelten Programmen zu animieren.
Die fertigen Produkte wurden dann auf CDs gepresst und über Magazine, Fernsehwerbung und Messen vermarktet. Verkauft wurden die Spiele vor allem an Jungen und Jugendliche sowie männliche Computernerds, deren Mütter verständnislos die Augen verdrehten, wenn ihre Söhne wieder stundenlang vor dem Bildschirm versackten.
Empfohlener externer Inhalt
Heute ist der Markt vielschichtiger. Spiele zu programmieren ist sehr viel einfacher geworden, die Technologie dafür teils frei verfügbar. Selbst Einzelpersonen können hochwertige Games entwickeln, und so ist der Markt der sogenannten Independent- oder Indie-Spiele stark gewachsen. Damit sind Games gemeint, die es unabhängig von großen Konzernen und ohne Rücksicht auf einen vermeintlichen Massengeschmack auf den Markt schaffen. Der globale Indie-Umsatz steigt seit der Pandemie mal um 10 Prozent, mal um 20 Prozent im Jahr, und mit ihm die Zahl jährlicher Veröffentlichungen.
Zeitgleich sind auch die großen Konzerne in mehreren Dimensionen gewachsen: Sogenannte AAA-Studios setzen mit ihren auf maximalen Verkaufserfolg getrimmten AAA-Spielen Qualitätsstandards. Für deren Entwicklung beschäftigen sie Tausende Mitarbeiter:innen, verteilt über etliche Standorte auf der Welt.

Diese Riesenstudios investieren Millionenbudgets und viele Jahre für ihre Produktionen, die sie dann mit groß angelegten Werbekampagnen über die sozialen Netzwerke vermarkten. Finanziert wird die Personal- und Kostenexplosion durch Bezahlmodelle, die neben dem anfänglichen Kaufpreis eines Spiels im weiteren Verlauf noch mehr Geld aus den Gamer:innen herauskitzelt: etwa über Abonnements oder kostenpflichtige Erweiterungen.
Den allergrößten Unterschied zwischen damals und heute machen jedoch die Gamer:innen selbst aus. Inzwischen zockt die breite Masse. Das liegt unter anderem am Einfallsreichtum der Indie-Entwickler, durch den die Spiele sehr viel diverser geworden sind – vor allem aber daran, dass man nicht mehr zwingend PCs oder Konsolen braucht. Das Smartphone und andere tragbare Endgeräte erleichtern den Eintritt in die virtuelle Spielewelt.
So lag laut Zahlen des Verbands der deutschen Games-Branche 2024 der Altersdurchschnitt in der Gruppe der spielenden Menschen bei knapp 40 Jahren. Jede:r Fünfte von ihnen ist über 65, Frauen und Männer spielen ungefähr gleich viel. Trotzdem würden sich die meisten Gamer:innen gar nicht als solche bezeichnen. Weil sie eben nicht auf ergonomisch gepolsterten Gamingsesseln mit Headset auf dem Kopf vor einem Hochleistungsrechner mit Riesenbildschirm sitzen.
Die von Technologieenthusiast:innen erwartete Zukunft von der hyperrealistischen und immersiven Spieleerfahrung, bei der wir in virtuelle Welten eintauchen wie in die echte, ist nicht eingetreten. Statt mit der Videobrille auf dem Kopf herumzulaufen, sitzen die meisten Leute mit ihrem Smartphone auf der Couch, im Bus, im Büro oder auf dem Klo und drücken auf bunte Kästchen. Wir sind den sogenannten Casual Games verfallen: dem leichten, kurzweiligen Zeitvertreib, bei dem wir Karten spielen, Wörter suchen, Gemüse farmen, Candy crushen, Waisenkindern beim Aufräumen helfen – oder eben Freizeitdetektivin June auf ihrer Retroreise beim Rätseln unterstützen.
Hire-and-Fire-Mentalität bei großen Studios
Ben O’Donnell ist Game Director bei Wooga. Er gehört zu den Leuten, die die kreative Verantwortung für „June’s Journey“ tragen – in etwa so wie ein Regisseur im Film. O’Donnell arbeitete früher bei Electronic Arts, dann bei Crytek, beides Softwarefirmen, die AAA-Spiele für PCs und Konsolen entwickeln. Dann schloss er sich „June’s Journey“ an.
Dort bastelt O’Donnell nicht mehr wie früher an hochkomplexen Game-Mechaniken herum. Seine Aufgabe ist es nun, ein nicht zu aufreibendes Handyspiel für möglichst lange Zeit interessant genug zu halten, damit die Spielgemeinde Tag für Tag emsig auf ihre kleinen Bildschirme klickt.
„Der Job macht genauso viel Spaß wie bei den großen Playern“, sagt Ben O’Donnell, „Nur bin ich mir hier sicher, auch über Jahre arbeiten zu können.“ Bei den Studios mit Tausenden von MitarbeiterInnen hingegen verbreite sich derweil die Hire-and-Fire-Mentalität: Man bekommt den Job nur für ein bestimmtes Projekt, danach sitzt man wieder auf der Straße.
„Wir arbeiten ständig daran, unseren Spielern ein gutes Gefühl zu geben“, sagt O’Donnell beim Gang durch das Wooga-Großraumbüro, in dem seine Mitarbeiter:innen in schalldichten Konferenzräumen sitzen, an ihren Schreibtischen Figuren zeichnen, sich im Spielebereich an der Playstation zerstreuen oder in einer der Schlafkabinen ein Nickerchen halten. „Dafür muss die Spielerfahrung angenehm sein. Wir müssen ein intuitives Interface bieten.“
O’Donnell meint damit die bedienbare Oberfläche des Spiels: Wenn eine Spielerin ohne große Erklärung, Anleitung und Übung sofort weiß oder zumindest erahnen kann, was sie in einem Spiel tun muss, steigen die Chancen, dass sie auch dabeibleibt.
Ist ein Spiel oder Computerprogramm intuitiv, wird es gern und viel gespielt oder genutzt. Das war schon vor 40 Jahren so, als mit Super Mario eine der bekanntesten Videospielfiguren die virtuelle Welt betrat: Hindernisse wurden überhüpft, Münzen eingesammelt, herannahenden Gnomen ausgewichen, das verstand jede:r. Und auch „June’s Journey“ leuchtet sofort ein. Die Suche nach Gegenständen auf den handgemalten Bildern ebenso wie die Dekoration der eigenen Insel.
„Das Spiel darf außerdem weder zu leicht sein noch zu sehr anstrengen“, erklärt O’Donnell. „Anstrengend ist ein Spiel schon dann, wenn die Oberfläche mit zu vielen Infos und Angeboten überfrachtet ist.“ Blinkende Anzeigen, Countdowns und Hinweise am Bildschirmrand nerven.
Damit June eben nicht nervt, zuverlässig neue Kapitel erzählt und die SpielerInnen regelmäßig mit neuen Kampagnen überrascht, arbeiten an die 300 Leute bei Wooga – zwar nicht nur an diesem einen Spiel, aber vor allem. „Es ist ein bisschen so als würde ich in einem Freizeitpark arbeiten“, sagt O’Donnell. „Den muss man ja auch nicht jeden Tag neu erfinden. Man hält die Fahrgeschäfte im Betrieb.“
Unaufgeregt, niedrigschwellig, wenig anstrengend: In Zeiten von Krieg und Krise scheinen die Spieler:innen gemütliche Unterhaltung zu wollen, die sie die Sorgen des Alltags für einen kurzen Moment vergessen lassen. Und wenn’s geht, soll die möglichst billig oder am besten gleich gratis sein.
Bei Wooga sitzt ein Dutzend Grafiker:innen vor ihren digitalen Zeichenbrettern. Auf einem Bildschirm wird ein virtuelles Restaurant mit Möbeln und Gästen bestückt, auf einem weiteren platziert jemand in liebevoller Millimeterarbeit grüne Efeupixel auf einem Hausdach. Daneben erscheinen die Gesichter etlicher Wooga-Mitarbeiter:innen auf einer Leinwand, sie haben sich aus anderen Teilen der Welt zu einer Videokonferenz zugeschaltet.
Dieses riesige Team für Design, Geschichte, Produktion und Vermarktung muss doch irgendwie bezahlt werden? „ ‚June’s Journey‘ ist ein Live Service Game“, erklärt Ben O’Donnell. Das bedeutet: „Es spielt Profit ein, indem es kontinuierlich erweitert wird und über einen möglichst langen Zeitraum Kleinbeträge generiert. Im besten Fall hört es damit niemals auf.“ Im schlechtesten Fall spielt es nicht mehr genug Geld ein, um die Personalkosten zu decken, wird nicht länger erweitert und durch ein neues Spiel ersetzt.
Damit das nicht passiert, gibt es bei Wooga eine eigene Arbeitsgruppe, die sich darum bemüht, dass SpielerInnen immer wieder etwas in der App kaufen, ohne dabei den Spaß zu verlieren. Dann gibt’s für 9,99 Euro eine kleine Tasche mit 200 Diamanten, wovon man sich fast schon ein Pferd auf seine Privatinsel stellen kann.
Mit dem Tresor mit 2.500 Diamanten für 99,99 Euro hingegen könnte man schon locker ein spektakuläres Stadttor bauen. Ob einzelne SpielerInnen auf die Angebote eingehen oder nicht: Je mehr Zeit sie alle zusammen mit dem Spiel verbringen, desto mehr wird am Ende gekauft.
Diese Art und Weise, mit der sich die meisten der 200.000 Handyspiele finanzieren, verleiht dem gesamten Zweig einen etwas schmuddeligen Ruf. Die Spiele-Apps kommen nicht nur mit einfach gestrickten Ideen, simpler Grafik und überschaubarer Steuerung daher, viele verführen eben auch noch zu In-Game-Käufen. Das bedeutet, die Spiele können zunächst gratis heruntergeladen werden, verlangen dann aber echtes Geld für Münzen, Diamanten und Objekte, die man zum Weiterspielen braucht.
Und wer nicht zahlen will, wird mit einer Überdosis Werbung geflutet. „Auch wir bieten in unserem spielinternen Shop Sonderangebote an“, räumt Ben O’Donnell ein. „Aber es gibt kaum Beschwerden. Wahrscheinlich ist unsere Community einfach reif genug und weiß, wie sie mit Geld umgeht.“
Eine treue Fanbase
Hobbydetektivin Sabine Hernandez hat Wooga kaum Geld geschickt. „Vielleicht ein paar Euro ganz am Anfang“, sagt sie. Danach hatte sie den Bogen raus und wusste, wie man effektiv und ohne echte Kosten spielt.
Stattdessen investiert sie immer wieder ein bisschen Zeit: Hernandez ist in den Fangruppen auf Facebook und im Club ihres Lieblingsspiels aktiv. Dort kämpft sie im Team um Punkte und hohe Rankings und tauscht Gegenstände mit anderen Leuten.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Im Oktober feiert „June’s Journey“ achten Geburtstag. Das Wooga-Team lässt sich zu solchen Anlässen immer etwas für sein Millionenpublikum einfallen. Sabine Hernandez kann es kaum erwarten. „Vielleicht gibt es eine große Party im Haus, die auch als Stream übertragen wird. Vielleicht wird ein neues Rätsel im Spiel präsentiert“, sagt sie. „Oder es werden neue Dekoobjekte veröffentlicht. Da würde ich wahrscheinlich sogar auch mal eins kaufen.“
Live-Service-Game-Institutionen wie Wooga genießen den über Jahre erwirtschafteten Luxus, auf eine treue Fanbase bauen zu können. Millionen aktive SpielerInnen starten „June’s Journey“ täglich und durchsuchen die Wimmelbilder. Seit dem Start 2017 hat das Spiel bereits weit über 1 Milliarde Euro Umsatz durch Werbung und In-App-Käufe eingespielt.
Andere Entwickler versuchen mit anderen Methoden, so schnell wie möglich Geld mit ihrem Produkt zu machen. Etwa mit Werbetrailern für ihr Spiel, die nach grandioser Unterhaltung aussehen, aber gar nichts mit dem tatsächlichen Spielprinzip zu tun haben.
Oder mit Sparangeboten, die angeblich nur für ganz kurze Zeit und exklusiv zu haben sind, oder Glücksrädern, die anfangs Gewinne ausspucken und im weiteren Spielverlauf nur noch Nieten abwerfen. Und alle hoffen, dass ihnen ein sogenannter Wal ins Netz geht. Damit ist eine einzelne Person gemeint, die bereit ist Tausende Euro im Monat für das eine Spiel auszugeben. Einige dieser Wale können schon ein kleines Entwicklungsteam gegenfinanzieren.
Ashe Foltin, Spieleentwicklerin
Ashe Foltin hat so gar keine Lust, auf diese Art Geld zu verdienen. „In den seltensten Fällen sind diese Wale tatsächlich so reich, um so viel Kohle zu verprassen. Meistens sind es einfach suchtgefährdete Leute, die von den Mechanismen des Glücksspiels ausgenommen werden.“
Die 22-Jährige sitzt in ihrem Zimmer, das so aussieht, als hätte mal jemand viel Geld in eine Sammelleidenschaft gesteckt: An kleineren und größeren Monitoren sind mehrere Spielkonsolen angeschlossen, in den Regalen stehen Hunderte Videospiele und in der Mitte des Raums ein mannhohes Ungetüm. Es ist ein Spielautomat aus lange vergangenen Zeiten, als die Kids noch in den Spielhöllen für ein paar Minuten „Pacman“, „Space Invaders“ oder „Street Fighter“ anstanden.
Foltin sitzt dort nicht allein. Zu acht arbeiten sie und ihre Kommiliton:innen schon den ganzen Vormittag an der neuesten Version ihres Videospiels. Ein Handyspiel entwickelt die Gruppe schon mal nicht. „Das sind Glücksspiele, auf die auch Kinder hereinfallen“, sagt Foltin.
„Da möchten wir nicht mitmachen.“ Darüber hinaus hätten einzelne Entwickler auf dem Markt der Mobile Games keine Chance gegen die Großen. Stattdessen versucht es das kleine Team auf der Indie-Schiene, wo hin und wieder gute Geschichten und gute Ideen wertgeschätzt werden.
Die Gruppe entwickelt das Jump ’n’ Run „Dung Slinger“. Darin ist ein kleiner Käfer an eine Kugel Mist gekettet, was das herkömmliche Hüpfen und Rennen eines typischen Plattformspiels vor neue Herausforderungen stellt. Zunächst ist der Haufen Scheiße einfach nur lästig, später verwandelt er sich aber in ein energetisches Gegengewicht, das dem Mistkäfer die nötige Kraft verleiht, um die Level zu meistern.
„Der Käfer an der Mistkugel ist gewissermaßen die Metapher für unsere Generation“, sagt Ashe Foltin. „Die meiste Zeit schleppen wir unsere Sorgen und Zweifel als Ballast mit uns mit. Dabei könnten wir das alles vielleicht zu unserem Vorteil nutzen.“ Ihre Last, die sie schleppt, mache sie immerhin hochfunktional, meint Foltin. Ohne die ganze Scheiße hätte sie das Spiel vermutlich nie entwickelt. Auf der anderen Seite sei die Mistkugel aber auch einfach nur eine Mistkugel, was die ganze Sache so witzig macht.
Weltweit größte Computerspielemesse
Im Spiel wird der arme Mistkäfer in einem Ameisenstaat gefangengenommen und eingekerkert, weil er anders ist als das Kollektiv. Also muss er sich aus seinem Gefängnis herauskämpfen und es mit den gleichgeschalteten Ameisen aufnehmen. Die Geschichte steht, die Spielmechanik ist klar, jetzt müssen ein paar schöne Level designt und das Gesamtpaket schließlich schlüssig vermarktet werden. Dazu hat Ashe Foltin ihrer Gruppe noch eine Neuigkeit zu verkünden: „Wir bekommen einen Stand auf der Gamescom!“
Eine Woche später versammeln sich 1.500 AusstellerInnen und über 350.000 BesucherInnen auf der weltweit größten Computerspielemesse in Köln. In der Halle für Indie-Games tritt Ashe Foltin mit ihrem Spiel gegen die Konkurrenz an. Ohne eine Hundertschaft Fachkräfte im Rücken, die ein Videospiel jahrelang plant, schreibt, designt, programmiert, produziert, bewirbt und betreut, muss „Dung Slinger“ mit Kreativität, Witz und Innovation punkten.
In der Nachbarhalle stehen PC- und Konsolenfans vor den Bühnen der AAA-Aussteller Schlange. Mehrere Stunden Wartezeit nehmen sie in Kauf, um für ein paar Minuten das neue „Call of Duty“, das neue „World of Warcraft“, das neue „Resident Evil“ antesten zu dürfen. Cosplayerinnen posieren in ihren aufwändigen Kostümen für die Livestreams, die Influencer:innen für ihr Publikum aufnehmen. Comicfans plündern die Merchandiseshops und ziehen mit ihren erbeuteten Plüschtieren, Actionfiguren und Spielzeugschwertern davon. Livekommentatoren rasten aus, weil sich zwei E-Sportler mit ihren virtuellen Kartendecks ein Kopf-an-Kopf-Finale liefern.
Hinter all den bunten Welten und Spielfiguren ist Wirtschaftskraft das, was wirklich auf der Gamescom zählt. Von den knapp 10 Milliarden Euro, die im Jahr 2024 umgesetzt wurden, profitierten vor allem die großen Digitalkonzerne. Vor ihnen verkündet Technologieministerin Dorothee Bär während der Gamescom die millionenschwere Finanzspritze und die noch nicht näher benannten Steuererleichterungen.
Keine extra Förderung für Handyspiele
Die Branche habe sich längst als Innovations- und Wachstumsfaktor ausgezeichnet und müsse deshalb unterstützt werden, erklärt sie. Eine gesonderte Förderung für Mobile Games sieht ihr Ministerium hingegen nicht vor.
Vielleicht ja, weil AAA-Entwickler:innen, Spieler:innen und Politiker:innen die Nasen rümpfen, wenn es um Handyspiele geht. Sie haben zwar die meisten Spieler:innen, doch sie gewinnen keine Computerspielpreise, treten nicht in der Fachpresse auf, und auch nicht auf der Gamescom.
Mit ausladenden Ständen präsentieren sich Entwickler:innen von Spielen, von Geräten, vom ganzen Drumherum. Entwickler:innen, die ausschließlich Mobile Games machen: Fehlanzeige. Dass ihnen die Zukunft gehört, ist zwar auch den AAA-Studios klar. Aber sowohl die Art und Weise, wie ihre Spiele und die Mobile Games entwickelt werden, als auch die Wege, mit ihnen Geld zu verdienen, unterscheidet sich enorm.
Gleichzeitig brauchen die Studios für Handyspiele keine teuren Messestände und Großbildleinwände, um ihre Arbeit zu zeigen. Dafür reichen ein Werbeclip und der App-Store.
Starthilfe vom Bund wäre hilfreich
Für Ashe Foltin sieht die Sache noch mal anders aus: Im Indiebereich werden Spiele vorwiegend als Einmalzahlung beim Erwerb vergütet. Bis es „Dung Slinger“ aber auf den Markt schafft, brauchen die Schöpfer:innen des Mistkäfers Unterstützung.
Im vergangenen Jahr hat Foltin schon eine Entwicklungsförderung vom Medienboard Berlin Brandenburg erhalten und war für den Deutschen Entwicklerpreis nominiert. Eine zuverlässige Starthilfe vom Bund wäre darüber hinaus ebenfalls hilfreich. Bei Foltin würde das Geld wenigstens in Deutschland bleiben, denn ihr Team sitzt hier – was nicht garantiert ist, wenn die Regierung in die internationalen Riesen mit deutschen Standorten investiert.
Sicherlich könnte Ashe Foltin auch die noch nicht wirklich ausformulierte Steuererleichterung helfen. Das sagt auch der Großteil der Entwickler:innen in Deutschland in einer Befragung über die Zufriedenheit in der Branche. Frankreich, Kanada und das Vereinigte Königreich haben solche Modelle seit Langem und sind vielleicht deshalb attraktivere Standorte als Deutschland bislang.
Laut dem deutschen Bundesverband Game haben die hiesigen Spielehersteller im direkten Vergleich einen Kostennachteil von 30 Prozent. Die Spieleindustrie jedenfalls sucht nach einer nachhaltigen, zuverlässigen Unterstützung, weil ihre Games Zeit brauchen. Studios müssen langfristig planen können, anstatt von Jahr zu Jahr auf den nächsten Geldtopf zu warten.
Noch mehr Chancen auf die Förderung des Bunds hätte Ashe Foltin außerdem, wenn sie auf der Messe entsprechend wahrgenommen würde. Ohne das Tamtam aus Kinoleinwänden, Laserlicht, Höllenlärm, Models und Pappaufstellern droht ihr kleiner Stand neben den großen Firmen unterzugehen.
Sie muss sich mit zwei von der Messe zur Verfügung gestellten Rechnern begnügen. „Große Messen sind für große Spiele“, sagt Foltin. „Ich hoffe einfach, dass uns ein Influencer mit großer Reichweite wahrnimmt – oder ein Milliardär, der uns Geld schenken will.“
Finanzierung über Crowdfunding
Die Fachbesucher:innen jedenfalls stehen auf „Dung Slinger“. „Supercoole Mechanik“, sagt einer, der ein paar Minuten gespielt hat. „I love it!“, ruft ein anderer. „Das ist echt mal ein Highlight“, sagt ein Kollege von Crytek und gibt Foltin ein paar Tipps, wie sie ihr Spiel noch verbessern könnte. Und die Mitarbeiterin vom Futurium in Berlin überlegt, ob der süße Mistkäfer etwas für ihre nächste Ausstellung wäre. Ashe Foltin verteilt Visitenkarten.
Falls es als Indie-Einzelkämpferin gegen die AAA-Ameisen nicht klappt, würde sie vielleicht bei einer großen Firma arbeiten. Auch Wooga wäre da gar nicht schlecht, findet Foltin. „Man kann ein Spiel entwickeln, dass man liebt, und sich damit selbst eine Freude machen“, sagt sie. „Man kann aber auch einem Beruf nachgehen, den man liebt, und damit Millionen anderer Leute eine Freude machen.“
Für die nächsten Monate ist Ashe Foltin nicht auf die Gunst und das Geld der Gamer:innen angewiesen. Sie wurde mit 90.000 Euro gefördert und kann ihr kleines Team erst einmal bezahlen. In dieser Zeit geht ihre Firma Klinken putzen. Gegen die AAA-Blockbuster der globalen Branche wird es „Dung Slinger“ zwar schwer haben. Trotzdem können Indiegames auf dem Markt bestehen.
2017 entwickelte ein Studio aus Australien ein ähnliches Jump ’n’ Run, ebenfalls mit Insekten in den Hauptrollen. Das Spiel wurde per Crowdfunding finanziert. „Hollow Knight“ wurde ein Riesenerfolg. Für seine Fortsetzung standen die Leute selbst auf der Gamescom Schlange. Vielleicht geht „Dung Slinger“ ja viral. Dann wäre es ausgerechnet eine Kugel Mist, die die deutsche Computerspielbranche an die Weltspitze katapultiert.
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