Ex-Bundesverfassungsrichterin: „Vielfalt führt zu besserer Rechtsprechung“
Susanne Baer war zwölf Jahre Richterin am Bundesverfassungsgericht. Ein Gespräch über Konsenssuche und das Scheitern von Frauke Brosius-Gersdorf.

taz: Vor der Sommerpause wurde die Wahl von zwei Richterinnen und einem Richter für das Bundesverfassungsgericht im Bundestag von der Tagesordnung gesetzt. Teile der Union waren nicht bereit, für Frauke Brosius-Gersdorf zu stimmen, obwohl dies fest zugesagt war. Jetzt steht ein neuer Anlauf mit der Bundesverwaltungsrichterin Sigrid Emmenegger als neuer Kandidatin an. Meinen Sie, diesmal geht alles glatt?
Baer: Ich hoffe doch sehr, dass alle Beteiligten aus dem Fiasko gelernt haben und so etwas nicht noch einmal passiert.
taz: Hatten Sie erwartet, dass die Wahl von Brosius-Gersdorf ein Problem werden könnte?
Susanne Baer: Nein. Ich habe darauf vertraut, dass es wie in den Jahrzehnten vorher funktioniert. Bisher waren sich diejenigen, die dafür Verantwortung tragen, vor allem einig, mit der erforderlichen – und wichtigen – Zweidrittelmehrheit auch Personen mitzuwählen, die man selbst nie vorschlagen würde, weil das Gericht von unterschiedlichen Positionen lebt, die dann zusammenkommen müssen.
61, ist Professorin für Öffentliches Recht und Gender Studies an der Humboldt-Universität in Berlin und war auf Vorschlag der Grünen von 2011 bis 2023 Richterin am Bundesverfassungsgericht. Gerade ist ihr Buch „Rote Linien. Wie das Bundesverfassungsgericht die Demokratie schützt“ erschienen
taz: Was haben Sie an jenem Freitag Anfang Juli gedacht, als die Wahl abgesetzt wurde?
Baer: Ich war beunruhigt und verärgert. Ärgerlich ist die schlichte Frauenfeindlichkeit, die da auch eine Rolle spielte. Beunruhigt war ich aber wegen der Fahrlässigkeit der Verantwortlichen. Und weil die Hetzkampagne, die Diffamierung, die Fehlinformationen in sehr organisierter, massiver Form so verfangen haben. Von denen, die als Abgeordnete Verantwortung tragen, müssen wir doch erwarten können, dass sie mit so etwas umgehen.
taz: Hat das Bundesverfassungsgericht, dem Sie selbst auf Vorschlag der Grünen zwölf Jahre lang angehört haben, durch die Diskussion der vergangenen Wochen Schaden genommen?
Baer: Ich sehe bislang keine Anzeichen dafür. Vielmehr hoffe ich eben, dass man so fahrlässig nicht mehr mit solchen Vorgängen rund um das Gericht umgehen wird. Dafür spricht, dass sich Ende letzten Jahres ja große Mehrheiten im Bundestag gefunden haben, um die Resilienz des Verfassungsgerichts zu stärken.
taz: Können Sie verstehen, wenn Unionsabgeordnete sagen, sie konnten aus einer Gewissensentscheidung heraus nicht für Brosius-Gersdorf stimmen – wegen deren Haltung zur Abtreibung?
Baer: Dass eine Partei sagt, eure Kandidatin akzeptieren wir nicht, weil sie an bestimmten Stellen, die für uns wichtig sind, zu weit geht – das gab es immer und das ist legitim. Hier irritiert der späte Zeitpunkt; das muss man viel früher klären. Problematisch ist aber auch, eine Richterwahl als Gewissensentscheidung zu bezeichnen. Hier geht es um eine Personalentscheidung für ein hohes Amt in diesem Staat, nicht weniger, aber auch nicht mehr.
taz: Gegen Frauke Brosius-Gersdorf wurde auch vorgebracht, dass ihre Haltung zur Abtreibung nicht vereinbar sei mit der geltenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Ist das ein Argument, das Sie gelten lassen?
Baer: Nein. Wenn das ein Kriterium wäre, dann wären viele berühmt gewordene Richter und Richterinnen nie gewählt worden. Sie hätten dann auch wissenschaftlich kaum kritisch gearbeitet, denn kritische Reflexion und innovative Ideen zeichnen ja Forschung aus. Und ein Verfassungsgericht ist dafür da, die Verfassung in der Zeit zu verstehen. Da sich Dinge stetig ändern, ist doch völlig klar, dass sich auch das Gericht immer wieder neu über bereits entschiedene Fragen beugt.
taz: Sie schreiben in Ihrem Buch „Rote Linien“, für ausgewogene Entscheidungen sei Vielfalt bei der Zusammensetzung sehr wichtig. Warum ist das so?
Baer: Vielfalt ist immer eine gute Idee, aber das gilt in besonderer Weise für das Bundesverfassungsgericht, wo wichtige Weichen für die gesamte Gesellschaft gestellt werden. In den beiden Senaten sitzen je acht Richter und Richterinnen, und sie haben ganz unterschiedliche Erfahrungen, kommen aus der Wissenschaft, von den Bundesgerichten oder aus der Anwaltschaft, oder auch aus der Politik. Es sind Männer und Frauen, sie haben unterschiedliche Erfahrungen, manche sind die ersten Akademiker in ihrer Familie. So können sie unterschiedliches Wissen einbringen und finden unterschiedliche Dinge „normal“. Das hilft, um möglichst viele Aspekte zu sehen, die für die Entscheidung eines Falles wichtig sind.
taz: Auch mit sehr diversen acht Personen in einem Senat kann man aber nicht die ganze Vielfalt der Gesellschaft einfangen.
Baer: Zum einen ist da natürlich Luft nach oben. Zum anderen sorgt das Verfassungsgericht aber auf vielen Wegen dafür, möglichst gut zu verstehen, worüber es zu entscheiden hat. Dazu gehört die umfangreiche Arbeit hinter den Kulissen – und die Vielfalt der Richter und Richterinnen sorgt natürlich auch für eine größere Vielfalt bei der Einladung von Sachverständigen, die dann gezielt Auskunft geben können.
taz: Die pluralistische Zusammensetzung des Gerichts ist also nicht nur für die Akzeptanz der Urteile wichtig?
Baer: Vielfalt trägt auch darüber hinaus. Sie führt auch zu besserer Rechtsprechung. Denn die langen Diskussionen zu acht im Beratungszimmer leben gerade von der Unterschiedlichkeit, um dann einen Konsens zu finden. Sogar wenn sich eine Mehrheit abzeichnete, wurde im Senat deshalb weiter beraten, bis eine Lösung gefunden war, die alle mittragen können. Deshalb ist die abweichende Meinung bestenfalls selten. Der Ausgleich ist wichtig.
taz: Ist das nicht etwas idealisiert?
Baer: Als kritische Rechtswissenschaftlerin hätte ich das vor meiner Zeit in Karlsruhe auch gefragt. Umso eindrücklicher ist die Erfahrung dieser zwölf Jahre. Und ein Kronzeuge ist Jürgen Habermas, der bei seinem Besuch im Gericht wenn auch ein wenig scherzhaft sagte, es gebe wenig Orte, die seiner Vorstellung von kommunikativer Deliberation so nahe kämen wie das Bundesverfassungsgericht.
taz: Es gab aber auch Phasen, in denen das Verfassungsgericht oft mit knappen 5- zu-3-Mehrheiten entschieden hat.
Baer: Ich hatte wohl auch Glück. Aber ich habe das Verfassungsgericht als Ort erlebt, in dem alles getan wird für den Konsens. Er ist für die Akzeptanz wichtig. Und auch der Wille, zu einem Ausgleich zu kommen, gehört bei den Richterinnen und Richtern dazu.
taz: Muss bei der Wahl von Verfassungsrichter:innen also auch darauf geachtet werden, dass sie kompromissfähig sind?
Baer: Unbedingt. Manches gibt der Gesetzgeber vor, wie das Mindestalter und die Qualifikation, aber daneben sind mehrere Sekundärtugenden wichtig. Karlsruhe ist kein Ort für Egos oder für Glamour. Das Amt bedeutet zwölf Jahre Kärrnerarbeit und die Bereitschaft zuzuhören, die anderen verstehen zu wollen, immer im Gespräch zu bleiben.
taz: Wie war das bei Ihnen, als Sie 2010 von den Grünen vorgeschlagen worden sind?
Baer: Ich nehme an, ich bin wie andere auch über einen längeren Zeitraum beobachtet worden und über mich wurden Erkundigungen eingezogen. Dann kam der berühmte Anruf, dann Berichte in den Medien, dann die Wahl.
taz: Und es gab Vorgespräche, auch mit einem Teil der Unionsfraktion.
Baer: Ja, da waren auch viele Skeptiker dabei und sehr gut vorbereitet. Es ging unter anderem um die Frage, ob die Ehe eine rein heterosexuelle Veranstaltung sein muss und auch um mein Verhältnis zur Religion.
taz: Auch um den Paragrafen 218?
Baer: Nein. Damals war das nicht hoch auf der Agenda, nicht absehbar, dass dazu eine Frage anhängig werden würde, und wenn dann nicht im Senat, für den ich zu wählen war.
taz: Bei der Homo-Ehe hatten Sie vermutlich eine andere Einschätzung als die meisten Abgeordneten der Union. Warum sind Sie am Ende doch gewählt worden – mit deren Stimmen?
Baer: Da müssen Sie die Abgeordneten fragen. Später hat mir jemand erzählt, dass sie die Offenheit, mit der ich auf schwierige Fragen geantwortet hatte, glaubwürdig fanden, und sie hätten meine Achtung vor der Politik gespürt, vor dem Parlament. Es erschien ihnen vertretbar, mich mit zu wählen. Ihnen war wohl klar, dass es nicht um die eigene Präferenz geht, sondern eben um die Vielfalt der Personen, manche progressiv und manche konservativ. Allerdings war die Stimmung vor 15 Jahren in Sachen Gleichberechtigung, Frauen, Diversität und sexueller Orientierung auch eine andere als heute.
taz: Meinen Sie, Sie würden heute noch mal gewählt?
Baer: Ich hoffe jedenfalls, dass das damals nicht nur ein glücklicher Ausnahmemoment war.
taz: Als lesbische Frau, als Feministin, als Gender-Studies-Professorin wären Sie heute vermutlich ein Ziel für eine Kampagne, wie es sie auch bei Brosius-Gersdorf gegeben hat. Würden Sie dieses Risiko überhaupt eingehen?
Baer: Die Risiken unterscheiden sich, und es ist wichtig, genau hinzusehen. Eine Genderverschwörung im Bundesverfassungsgericht wurde ja auch schon behauptet, und als Verfassungsrichterin bin ich auch persönlich angegangen worden. Aber es ist ein großartiges Amt. Ich würde das also tun.
taz: Ist es überhaupt richtig, dass die Politik über die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts entscheidet?
Baer: Ich kenne keine bessere Alternative. Ein Verfassungsgericht, das juristisch entscheidet, aber doch in die Politik interveniert, braucht politische Rückendeckung. Es wäre sonst schwächer legitimiert. Und wie das deutsche Verfassungsgericht gebaut ist und funktioniert, genießt ja auch weltweit einen guten Ruf.
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