Sinan Selen: Der Verfassungsschutz bekommt einen Vermittler als Chef
Der gebürtige Istanbuler Sinan Selen wird der erste nicht in Deutschland geborene Verfassungsschutzpräsident. Er will den Dienst gegen hybride Bedrohungen rüsten.
Eine wirkliche Überraschung ist das nicht. Selen ist seit 2019 Vizepräsident des Verfassungsschutzes. Nach dem Abschied von Thomas Haldenwang im Dezember, der für die CDU in den Bundestag wechselte, leitete Selen das Amt kommissarisch zusammen mit Silke Willems.
Trotzdem dauerte es nun neun Monate, bis Selen offiziell das Amt übernimmt. Am Montag sollte die Personalie den rund 4.200 Mitarbeitenden des Bundesamt verkündet werden, am Mittwoch könnte der offizielle Beschluss der schwarz-rote Bundesregierung folgen.
Die Hängepartie lag am Wechsel im Innenministerium: Nancy Faeser, SPD, übergab an Alexander Dobrindt von der CSU. Faeser hätte sich durchaus auch eine Frau an der Spitze vorstellen können, Dobrindt war zunächst verschnupft wegen der Einstufung der AfD als gesichert rechtsextrem, die noch schnell durch den Verfassungschutz unter Faeser erfolgte.
Sogar Union und SPD sind sich einig in einer Personal-Frage
Nun wird es doch Selen. In der Union und SPD zeigt man sich damit zufrieden, auch bei den oppositionellen Grünen. Dort wird betont, dass Selen ein Sicherheitsexperte durch und durch ist, der seit Beginn seiner Karriere in diesem Bereich arbeitet. Für den Verfassungsschutz ist seine Ernennung ein Novum: Erstmals steht nun jemand an der Spitze, der nicht gebürtiger Deutscher ist.
Selen wurde in Istanbul geboren, zog aber schon als Vierjähriger mit seinen Eltern – zwei Journalisten – nach Köln. Dort studierte er Jura, befasst sich schon früh mit Rechtsfragen in der Sicherheitspolitik. Im Anschluss landete er beim Bundeskriminalamt, zuständig für Personenschutz und Terrorermittlungen. Selens Fokus galt hier vor allem dem Islamismus: Er ermittelte zu den deutschen Beteiligten an den 9/11-Terroranschlägen in den USA oder den Kofferbombern von Köln im Jahr 2006.
Im selben Jahr wechselte Selen ins Innenministerium, wo er ebenfalls für die Terrorismusbekämpfung zuständig war. 2016 entsandte ihn die Bundesregierung als „Sherpa“ in die Türkei, um Antiterrormaßnahmen zu verhandeln. Forderungen der türkischen Regierung, Oppositionelle auszuliefern, wies er zurück. Später machte Selen einen Abstecher in die Privatwirtschaft: Bei Tui verantwortete er die Konzernsicherheit. 2019 holte ihn ein CSU-Staatssekretär unter Innenminister Horst Seehofer zurück in den Verfassungsschutz.
Zu seinem Amtsantritt als Vizepräsident gab es Kritik von Rechtsaußen-Blogs, die ihm unterstellten, für die Türkei zu arbeiten. Doch Selen hatte die türkische Staatsbürgerschaft längst abgelegt. Als Vizepräsident unterstützte er die Einstufung der AfD als rechtsextreme Vereinigung. Er warf der Partei eine „migranten- und muslimfeindliche Haltung“ vor, sie werte ganze Bevölkerungsgruppen ab. Die AfD-Einstufung wird ihn und sein Amt noch mehrere Jahre begleiten: im Rechtskampf der AfD gegen diese Entscheidung.
Selen gilt als Vermittler und Erklärer
Selen wird das, wie bisher, in ruhiger Beharrlichkeit verfolgen. Er gilt als Vermittler und Erklärer. Ob das so bleibt, wird man sehen: Auch sein Vorgänger Haldenwang galt einst als bürokratischer Typ, bevor er mit deutlichen Warnungen vor der AfD Schlagzeilen machte.
Selen wird den Verfassungsschutz vor allem auf hybride Bedrohungen ausrichten. Schon zuletzt betonte er die politische Neuordnung der Welt, bei der „unsere Gegner immer aggressiver und komplexer vorgehen“. Allen voran gelte das für Russland. Selen warnte aber auch vor Iran und China. Es gehe um Sabotage, Cyberangriffe, Desinformation und „Low Level Agenten“ – Kleinkriminelle, die für ausländische Geheimdienste arbeiten. Auch die digitale Radikalisierung und Vernetzung würden rasant voranschreiten.
Selen plant, flexibler zu reagieren, etwa mit Taskforces, die dort eingreifen, wo es brennt. Zudem forderte er zuletzt mehr Personal und neue Befugnisse für den Verfassungsschutz. Innenminister Dobrindt hat beides bereits zugesagt. Sinan Selens gute Laune dürfte also anhalten.
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