Migration nach Deutschland: Willkommen in der deutschen Realität
Gern gesehen hierzulande war immer nur, wer sich anpasst und nützlich ist. Das galt für die Gastarbeitergeneration wie für die Geflüchteten nach 2015.

W enn heute von „Willkommenskultur“ die Rede ist, denkt man unweigerlich an 2015 – an Merkels „Wir schaffen das!“, an Applaus in überfüllten Bahnhöfen, wo Menschen ankommende Geflüchtete mit Teddybären und selbst gemachtem Essen empfingen. Bilder, die zu Ikonen wurden, fast wie Werbeplakate eines neuen Deutschlands.
Doch die Willkommenskultur war selten bedingungslos. Sie zeigte stets ein instrumentelles Verhältnis: Willkommen war fast immer, wer gebraucht wurde – und willkommen blieb nur, wer nützlich erschien. Der Aufstieg der AfD hat diesen Widerspruch nicht geschaffen, aber sichtbar gemacht.
Schon 1955, mitten im Wirtschaftswunder, unterschrieb die Bundesrepublik ihr erstes Anwerbeabkommen mit Italien. Bald folgten Spanien, Griechenland und die Türkei. Und schon damals war klar: Willkommen galt nur unter Vorbehalt. Gebraucht in der Fabrik, benötigt am Fließband – aber eben nur als „Gastarbeiter“. Der Name allein verriet die Haltung: Gäste sollten irgendwann wieder gehen.
1973, in der Ölkrise, stoppte die Regierung die Anwerbung. Doch die Realität hatte sich längst geändert. Die Gastarbeiter blieben, gründeten Familien, schickten ihre Kinder in deutsche Schulen, bauten ein Leben auf. Die Politik aber tat so, als sei ihre Anwesenheit nur vorübergehend. Der türkische Musiker Cem Karaca, der 1979 ins Exil nach Deutschland kam, weil er in seiner Heimat politisch verfolgt wurde, sang dieses Paradox 1984 in einer ARD-Sendung: „Es wurden Arbeiter gerufen, doch es kamen Menschen.“
Zehn Jahre Flüchtlingssommer 2015: Die großen Fragen von damals sind die großen Fragen von heute – ganz egal, ob es um Grenzkontrollen, Integration oder die AfD geht. Die taz sucht in einem Sonderprojekt Antworten.
Und so klingt sein Satz bis heute wie ein Echo: Erinnerung daran, dass jedes „Welcome“ mehr meint als eine Lücke im Arbeitsmarkt. Und doch dauerte es Jahrzehnte, bis diese Realität offen anerkannt wurde. Erst 2015 sprach Angela Merkel aus, was längst offensichtlich war: „Wir sind im Grunde genommen schon ein Einwanderungsland.“ Eine Feststellung, schlicht, überfällig – und doch grotesk verspätet.
Schon in den 1980er und frühen 90er Jahren zeigte sich, wohin die Verdrängung führte. Seit 1949 garantierte das Grundgesetz: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Doch als die Zahl der Schutzsuchenden stieg – aus dem Libanon, Kurdistan, Jugoslawien – kippte die Stimmung. Die Umbrüche nach der DDR verschärften die Lage: Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und ein Machtvakuum, in dem rassistische Gewalt offen eskalieren konnte.
Im August 1992 brannte in Rostock-Lichterhagen das Sonnenblumenhaus, ein Wohnheim für Asylbewerber:innen und vietnamesische Vertragsarbeiter:innen. Tagelang belagerten rechte Gruppen das Gebäude, warfen Steine, schleuderten Molotowcocktails. Auf den Balkonen schrien Menschen um ihr Leben, während unten Hunderte Anwohner:innen Beifall klatschten. Die Bilder gingen um die Welt – ein Land, das seine Schwächsten nicht schützte.
Zwar regte sich im Nachgang Protest: Zehntausende gingen bundesweit gegen rechte Gewalt auf die Straße, lokale Initiativen gründeten sich, Nachbarschaften organisierten Solidarität. Doch Rostock war nur der bekannteste Schauplatz einer Gewaltwelle: Hoyerswerda, Mölln, Solingen – Orte, die bis heute für Brandanschläge und Pogrome stehen, für einen Hass, der ganze Straßenzüge elektrisierte.
Der Schock führte nicht zu mehr Schutz, sondern zu weniger Recht. Schon 1993 einigten sich CDU/CSU, SPD und FDP auf den sogenannten Asylkompromiss. Artikel 16, bis dahin der klarste Satz der Nachkriegsverfassung – „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ –, wurde entkernt. Wer über „sichere Drittstaaten“ kam – praktisch jede:r, der Deutschland auf dem Landweg erreichte –, verlor sein Recht auf Asyl. Zugleich definierte man „sichere Herkunftsstaaten“, aus denen Anträge pauschal abgelehnt wurden.
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Willkommen war nun kein offenes Versprechen mehr, sondern ein verschlossener Korridor mit wenigen Durchlässen: erlaubt war, wer unauffällig blieb, sich anpasste – und eben wirtschaftlich nützlich war. Damit verschob sich die Debatte: weg von der Frage, wer überhaupt einreisen darf, hin zu der, wie die bleiben sollen, die schon hier sind. Das Willkommen hatte wieder eine Bedingung: Du darfst bleiben – aber nur, wenn du dich anpasst.
Zu Beginn der 2000er Jahre bekam die Debatte über Zugehörigkeit einen neuen Namen: „Leitkultur“. Ursprünglich hatte der Politikwissenschaftler Bassam Tibi damit ein europäisches Wertefundament gemeint – Demokratie, Menschenrechte, Pluralismus. Doch CDU-Politiker Friedrich Merz, damals Fraktionsvorsitzender der Union im Bundestag, machte daraus die Forderung nach einer spezifisch „deutschen Leitkultur“, an der sich Einwanderer zu orientieren hätten. Nach den Anschlägen vom 11. September verschärfte sich der Ton: Integration wurde nicht mehr als wechselseitiger Prozess verstanden, sondern als einseitige Pflicht.
Währenddessen zeigte sich, wie brüchig das deutsche Willkommensnarrativ in Wahrheit immer noch war. Zwischen 2000 und 2007 ermordete die rechtsextreme Terrorgruppe NSU zehn Menschen, fast alle mit Migrationshintergrund. Doch anstatt die Opfer zu schützen und den Terror klar zu benennen, verdächtigten die Ermittlungsbehörden jahrelang die Familien selbst. Willkommen hieß hier nicht Anerkennung, sondern Misstrauen – selbst im Angesicht von Mord.
Als 2015 schließlich Hunderttausende syrische Geflüchtete nach Deutschland kamen, brach all das hervor, was lange verdrängt worden war. Auf der einen Seite eine beeindruckende Bewegung: Die Zivilgesellschaft gründete Vereine, schuf Netzwerke, organisierte Sprachkurse, Wohnraum, Hilfe im Alltag. Politik und Verwaltung hinkten oft hinterher, während Bahnhöfe zu Symbolen einer spontanen Solidarität wurden, die weltweit Aufsehen erregte. Für einen Moment schien Willkommenskultur mehr zu sein als ein Schlagwort – sie wurde gelebte Praxis.
Doch die Euphorie der einen konnte die Ressentiments der anderen nicht in Luft auflösen. Die Silvesternacht 2015/16 in Köln, mit Berichten über Übergriffe und der Formel „Ihr belästigt unsere Frauen“, wurde zum Kristallisationspunkt der neuen rechten Verachtung gegenüber Geflüchteten und Angela Merkels „Wir schaffen das“-Politik.
Plötzlich verschob sich die Perspektive: Aus Schutzbedürftigen wurden Bedrohungen, aus Geflüchteten Täter. Die AfD griff die Ängste auf, forderte Grenzschließungen und Obergrenzen und wuchs von einer kleinen Anti-Euro-Partei zur dominanten Stimme der neuen Rechten. Der Straßenrand mit johlenden Randalierern war zum Parlamentsplatz geworden. Willkommen hieß jetzt: Willkommen in einer Debatte, die das Wort in sein Gegenteil verkehrte.
„refugees“ als Hype für Links-Liberale
Auch die Willkommenskultur blieb ambivalent. Aus der Welle der Solidarität wurde mancherorts geradezu ein Hype, bei dem es darum zu gehen schien, sich für das eigene Engagement für und Interesse an Geflüchteten auf die Schulter zu klopfen. Heute kaum vorstellbar, war in links-liberalen und sogar liberal-konservativen Kreisen alles, was mit „refugees“ zu tun hatte, gefragt. Museen inszenierten Ausstellungen mit „syrischer Kunst“, Literaturhäuser starteten Reihen mit „Flüchtlingsliteratur“, Klubs luden „Refugee-Rockbands“ ein und Oriental Techno durfte bei keiner guten Party mehr fehlen.
Was erst einmal nach einer netten Umarmung neuer Kultur klang, hatte auch Schattenseiten. Aktivist:innen wie Mariana Karkoutly erinnern sich daran, dass sich das Rampenlicht fast ausschließlich auf Syrer:innen richtete, während viele andere Geflüchtete unsichtbar blieben. Künstler wie Anas Maghrebi berichteten, dass der Applaus nicht ihrer Musik galt, sondern ihrer Rolle als „Flüchtlingsband“.
Der syrisch-palästinensische Dichter Ramy al-Asheq beklagte, dass er nicht einfach Literatur machen durfte, sondern Erwartungen bedienen musste: Krieg, Flucht vor dem Assad-Regime, Trauma – genau das, was das deutsche Publikum hören wollte. Solidarität verwandelte sich so in Selbstinszenierung, ein Spiegel, in dem Deutschland sich selbst gefiel.
Die Willkommenskultur brachte einen „neuen deutschen Orientalismus“ hervor, der aus Geflüchteten eine Projektionsfläche machte: romantisiert als „authentische Stimme aus dem Krieg“ oder „bereichernde Exotik“, reduziert zu hilflosen Opfern, die erst durch deutsche Hilfe sichtbar und handlungsfähig würden. Die beiden Extreme der damaligen Zeit – das Fetischisieren von Geflüchteten durch Anhänger der Willkommenskultur und die rassistische Abwertung durch ihre Gegner – können durchaus als zwei Seiten einer Medaille verstanden werden. Für beide Seiten dienten Geflüchtete als identitätsstiftende „andere“.
Als das Thema Syrien medial in den Hintergrund rückte, nahm auch langsam der Willkommenskultur-Hype ab und mit ihm die Solidarität. Im Januar 2021 hob der damalige Innenminister Horst Seehofer den Abschiebestopp für Syrien auf. Zur Demonstration dagegen in Berlin tauchten nicht mehr als 50 Menschen auf – etwa die Hälfte von ihnen waren Syrer:innen.
Gerade hier zeigt sich die Brüchigkeit der deutschen Willkommenskultur. Solidarität erwies sich als Stimmung, nicht als Haltung – und verschwand, sobald der öffentliche Blick weiterzog. Das „andere Deutschland“ der Hilfsbereitschaft mag sichtbar bleiben, doch es ändert nichts an der Grundlogik: Willkommen ist in Deutschland fast nie eine Haltung, sondern ein Vorbehalt. Darin liegt die eigentliche Konstante der deutschen Willkommenskultur: kein Versprechen, sondern ein Vertrag auf Zeit.
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