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Sein Lieblingstheater „Alkmini“ in Athen ist für Nikos Kapiris unerreichbar Foto: Ferry Batzoglou

Barriefreiheit in GriechenlandUnsichtbare Barrieren

2004 investierte Athen Milliarden in die Olympischen Spiele und Barrierefreiheit. Doch noch immer ist die Stadt ein Hindernisparcours.

Von Ferry Batzoglou aus Athen

M ichael Dittrich flucht leise. Von den meisten wird er Micha genannt. Die Bürgersteige sind eng, zugeparkt mit Autos und Scootern, die Stufen zu hoch und Rampen nirgendwo. Gleich hat er ein Interview im Athener Nobelviertel Kolonaki, und er will pünktlich sein. Dittrich dreht einen Film – die Olympischen Sommerspiele 2004 stehen bevor, kurz darauf folgen die Paralympics. „Zurück zur Geburtsstätte von Olympia“, lautet der stolze Slogan der Gastgeber, 108 Jahre nach den ersten Spielen der Neuzeit.

Für den gebürtigen Dortmunder ist der Dreh in Athen eine Qual. Dabei gilt er als einer, den so schnell nichts umhaut. Ohne seinen Kameramann, der ihn über Treppen hievt und durch enge Straßen schiebt, wäre er in dieser Stadt verloren.

Seit seinem 36. Lebensjahr leidet er an einer chronischen Entzündung des Zentralnervensystems. Sie führt zu starken Lähmungen. Der Befund: Multiple Sklerose. Dittrich braucht einen Rollstuhl. Er gibt nicht auf, produziert weiter Filme und Fernsehfeatures. Für Aufsehen sorgt 2015 sein autobiografischer Film „Reine Nervensache – Leben mit einer unheilbaren Krankheit“.

Der Bürgersteig ist für die Fußgänger – ob blind oder nicht. Nicht für Autos, Scooter oder E-Roller!


Dimitrios Sifakis

Bis zu seinem Tod im Jahr 2022 arbeitet er vom Krankenbett aus. Was ihn damals ausbremste, erschwert auch heute noch das Leben vieler Rollstuhlfahrer in Athen.

Die leere offene Hand

Zeitsprung in die Gegenwart: Es ist ein heißer Tag Ende August im südwestlichen Athener Vorort Renti. Eine Vielzahl von Gewerbebetrieben, große Lagerhallen, der zentrale Athener Gemüsemarkt: Renti gilt nicht als besonders schöner Wohnort, doch es gibt auch Flecken mit etwas Grün.

Nikos Kapiris, 45, sportlich, mit Pilotenbrille, rollt zu seinem schwarzen SUV. Seine Wohnung liegt im Erdgeschoss, der Hintereingang führt direkt zum Parkplatz. Kapiris braucht daher keine Hilfe, wenn er die Wohnung verlässt oder dorthin zurückkehrt. Das sei ihm sehr wichtig. „Ich will zu einhundert Prozent unabhängig sein, ohne irgendeine Hilfe.“

Kapiris steigt ein, klappt seinen Rollstuhl zusammen, verstaut ihn hinter dem Fahrersitz. Alles geht ruck, zuck. Damit alles reibungslos klappt, ist Kapiris’ Rollstuhl handgefertigt, maßgeschneidert, ultraleicht – und teuer. Rund 5.000 Euro kostet so ein Modell, sagt er. Die öffentliche Hand übernimmt davon nur 2.000 Euro – und das auch nur alle fünf Jahre. Immerhin: Bis vor Kurzem waren es lediglich 1.050 Euro, erzählt Kapiris. „Für die Erhöhung haben wir gekämpft“, fügt er hinzu.

Nikos Kapiris braucht in Athen ein Auto, öffentliche Verkehrsmittel würden für ihn nicht funktionieren Foto: Ferry Batzoglou

Nikos Kapiris gibt Gas. Das tut er, indem er mit der rechten Hand einen extra eingebauten Hebel in seinem Wagen betätigt. Die Fahrt führt an einer Bushaltestelle vorbei, Kapiris biegt sportlich in eine Kurve ein. „Ohne Auto ist es für Rollstuhlfahrer wie mich sehr schwierig, in Athen unterwegs zu sein.“ Die Busse seien keine Alternative.

Kapiris betont: Nicht die Busse seien das Problem, sondern der Weg zur Haltestelle. Die Bürgersteige hätten keine Rampen, moniert er. Notgedrungen müsste er auf die Straße ausweichen. Das berge wegen der Autofahrer mit ihrem oftmals rüden Fahrstil große Gefahren. Für ihn heißt das: lieber mit dem Auto fahren – schon aus Sicherheitsgründen.

Fünf Fahrminuten später ist der Supermarkt erreicht. Hier erledigt Nikos Kapiris stets seine Einkäufe. Kapiris fährt auf einen für Behinderte markierten extrabreiten Parkplatz. Kapiris steigt bequem aus. Der Supermarkt hat eine automatische Schiebetür. Alles ist flach. Keine Barriere, kein Hindernis, ein ausreichend breiter Fahrstuhl führt in die erste Etage. Freie Bahn! Barrierefreiheit pur. „Das ist der gute Teil der Tour“, dämpft Kapiris die Erwartungen. Seine Augen funkeln, als er das sagt.

Kapiris’ Leben änderte sich vor gut zehn Jahren in Sekundenbruchteilen. Der gelernte Tänzer und Akrobat, ein Profi, will am späten Abend des 15. Mai 2015 in seiner Privatschule einer Besucherin aus England noch schnell einen Luftakrobatiktrick für ein Video zeigen. Der Sicherungsknoten löst sich. Kapiris stürzt aus sieben Metern Höhe auf den Boden. Der Aufprall ist zu heftig. Kapiris stürzt mit dem Kopf voran und zieht im letzten Moment den Körper in die Embryonalstellung, wie er später erzählt. Zwei Wirbel brechen.

Ohne Auto ist es für Rollstuhlfahrer wie mich sehr schwierig, in Athen unterwegs zu sein

Nikos Kapiris

Von einer Sekunde auf die andere ist er querschnittsgelähmt – unumkehrbar. Für Nikos Kapiris beginnt mit 35 ein neues Leben. Das intensive Körpertraining setzt er fort. Er hält sich viermal pro Woche mit Kallisthenik fit, ein Training mit dem eigenen Körpergewicht mit Liegestützen, Klimmzügen und Kniebeugen. Der Begriff leitet sich vom griechischen „kalos“ (schön) und „sthenos“(stärke) ab und bedeutet so viel wie „schöne Kraft“.

Die Tour mit Nikos Kapiris geht weiter. Er fährt zu seinem alten Wohnort, dem südlichen Athener Stadtteil Petralona. In diesem dicht besiedelten Viertel der griechischen Hauptstadt ist er aufgewachsen. Doch vor drei Jahren fasste Kapiris den Entschluss, gemeinsam mit seinen Eltern in die Wohnung nach Renti umzuziehen. Für ihn war Petralona ein Ort voller Barrieren. Er dachte sich: „Bloß weg hier!“

Parkplatzsuche in Petralona. „Da geht es. Schön im Schatten. Das passt doch wunderbar“, freut er sich. Er greift sich den Rollstuhl hinter dem Fahrersitz, macht die Tür auf und rasch ist er in seinem Rollstuhl auf der Straße. „Wir wohnten im sechsten Stock eines Mehrfamilienhauses. Bei Stromausfällen fiel der Aufzug aus. Ich konnte die Wohnung nicht mehr verlassen“, erklärt Kapiris. Bei Bränden oder Erdbeben, in Griechenland keine Seltenheit, hätte das hochgefährlich werden können.

Bei Stromausfällen fiel der Aufzug aus. Ich konnte die Wohnung nicht mehr verlassen

Nikos Kapiris

Das ist nicht alles. Kapiris befindet sich vor dem staatlichen Gesundheitszentrum in seinem alten Viertel. Graffiti prangt auf den Wänden. Kapiris zeigt auf die Rampe, die zum Eingang der Klinik führt. „Alles falsch!“, ätzt Kapiris. Die Rampe verlaufe in Kurven, sie sei viel zu steil gebaut. „Überschätze ich meine Kräfte, kann es sein, dass ich auf der Rampe vom Rollstuhl falle.“

An dieser Stelle der Tour mit Kapiris wird erstmals deutlich: Ausgerechnet öffentliche Einrichtungen wie Gesundheitszentren sind nicht barrierefrei. Zwar gibt es Rampen, doch oft sind sie unbrauchbar.

Eine unsägliche Barriereunfreiheit herrsche ebenso in den großen Krankenhäusern in Athen, wie Kapiris aus eigener Erfahrung wisse. Er wird konkret: Selbst in der Universitätsklinik Evangelismos in der Athener Innenstadt, dem größten Krankenhaus in ganz Südosteuropa, gibt es keinen Parkplatz für Autos von Behinderten, kritisiert Kapiris.

Dimitrios Sifakis unterwegs in Athen: Shops drängen sich an den markierten Weg für Blinde Foto: Ferry Batzoglou

Dabei seien gleich ein halbes Dutzend Parkplätze für die Leitung der Klinik reserviert, wie er moniert. Er zeigt auf einen Platz: „Ich wollte dort parken. Mich hat das Sicherheitspersonal verscheucht. Ein Ordnungshüter sagte mir: Geh woanders parken!'“ Kapiris ist enttäuscht. Er könne sich nicht ständig mit irgendwelchen Sicherheitsleuten streiten. Also fährt er seither erst gar nicht mehr hin.

Die Poststelle in Petralona, seinem alten Wohnort, sei ebenso für ihn unzugänglich, ergänzt Kapiris. Solange er in dem Viertel lebte, blieb er draußen und ließ sich von einem Postbeamten seine Sendungen abnehmen. Es geht weiter zu seiner alten Schule, ebenfalls in Petralona. Er könne zwar hinein – dank der vorhandenen Rampe. Doch dann ist Schluss! Zu den Klassenzimmern in den oberen Etagen führe kein Fahrstuhl, erklärt Kapiris.

Bei Parlaments-, Regional- und Kommunalwahlen, wenn seine alte Schule als Wahllokal dient, muss ein Wahlhelfer die Urne zu ihm ins Erdgeschoss bringen. Nur so kann Kapiris sein Wahlrecht wahrnehmen.

Kapiris sagt, er sei „verrückt nach Theater“. Theaterbegeistert sei er schon gewesen, bevor der Sturz aus sieben Meter Höhe sein Leben radikal veränderte. Er nähert sich mit seinem Rollstuhl dem Theater Alkmini. Klassiker der US-amerikanischen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Charlotte Perkins Gilman, moderne Stücke von griechischen Künstlern: Die Theateraufführungen im Alkimini bieten echte Qualität. Der Haken daran ist nur, dass gehbehinderte Besucher wie Nikos Kapiris draußen bleiben müssen.

Der simple Grund dafür sind die vier Stufen der Metalltreppe, die zum Eingang des Theaters führen. Wie bitte soll ein Rollstuhlfahrer diese Hürde bloß überwinden? Eine Rampe? Fehlanzeige!

Die Theaterleitung hat jedenfalls dafür gesorgt, dass zwei vor besagter Treppe aufgestellte bunte Fahrbahnteiler aus Kunststoff zweckentfremdet das ungewünschte Parken von Autos vor dem Eingang des Theaters verhindern. Fahrbahnteiler statt Rampen! Das kurzerhand auf ­eigene Faust verhängte Parkverbot für Autos ist offenbar wichtiger als die Barrierefreiheit für Behinderte.

Es schmerze ihn, dass er nicht das sehen könne, was er wolle, so Kapiris. „Ich suche nicht nach Theateraufführungen, die ich gerne besuchen würde, sondern nach geeigneten Theatern, die barrierefrei sind.“

Ich wollte dort parken. Mich hat das Sicherheitspersonal verscheucht

Nikos Kapiris

Im Großraum Athen seien dies gar nicht so viele, so Kapiris. In der Athener Innenstadt gebe es zwar barrierefreie Theater. Barrierefreiheit herrsche allerdings nicht in der ganzen Innenstadt. Er müsse sein Auto zunächst in teuren privaten Parkhäusern parken, so Kapiris. Denn in der ganzen Innenstadt gebe es nur etwa zwei Dutzend Behindertenparkplätze. Ein Tropfen auf den heißen Stein.

Sobald er geparkt hat, beginnt für ihn ein Gang nach Canossa. Bis zum Theater stößt Kapiris wieder auf das gleiche unsägliche Quartett der Barrieren wie überall in Athen: enge und zugeparkte Bürgersteige, hohe Stufen, fehlende Rampen. Er habe keine andere Wahl, erklärt Kapiris.

„Ich meide das Zentrum von Athen.“ Es belaste ihn mental, den Weg vorab bis ins letzte Detail planen zu müssen. Die Ausgehviertel zu Füßen der Akropolis mit ihren vielen Cafés, Bars, Restaurants, Tavernen, Kinos, Theatern und Museen sind für Kapiris faktisch ein riesiges Sperrgebiet, eine weitläufige No-go-Zone. Traurig mache ihn das, sagt er. Früher genoss er die Abende in Athen, ob allein oder mit Freunden. Das ist vorbei.

Dimitrios Sifakis ist oft unterwegs in die Athener Innenstadt. Sein Ziel: die Arbeit. Er ist blind. Den ersten Teil seiner Strecke legt er mit dem Blindenstock zurück: von seiner Wohnung im südlichen Athener Vorort Kallithea bis zur nahegelegenen Elektrobahnstation Tavros. Schnell wird klar: der 48-Jährige kennt jeden Zentimeter seines Weges. Mit all seinen Tücken.

Die Stadt Athen hat eine Mülltonne aufgestellt, ausgerechnet auf der Spur für Behinderte Foto: Ferry Batzoglou

„Da, gucken Sie!“ Die Spitze des Stocks bleibt an der ersten Stufe der Treppe hängen – die Kante ist abgeschiefert. „Passe ich nicht auf, rutsche ich aus“, sagt Sifakis. Er geht weiter. Für Blinde wie ihn ist eine Leitspur unerlässlich. Das ist ein taktiles Bodensystem mit Rillen- und Noppenstrukturen. Sie hilft blinden und sehbehinderten Menschen, sich im öffentlichen Raum selbstständig zu orientieren und Hindernissen auszuweichen – dank ihrem Blindenstock.

Das geht so: Leitstreifen mit Rippen dienen der Führung, Noppenfelder signalisieren Gefahrenstellen wie Kreuzungen oder Treppen. Hinzu kommen Aufmerksamkeitsfelder, die den Weg zu Eingängen oder Haltestellen aufzeigen.

Sifakis befindet sich nun in der Leitspur für Blinde der Elektrobahnstation Tavros. Routiniert schwenkt er seinen Blindenstock, der stets den Boden berührt, in einem Radius von 180 Grad. Von rechts nach links, von links nach rechts. Abermals von rechts nach links. Und so weiter. So will Sifakis Hindernisse aller Art ausfindig machen, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Er fährt die Rolltreppe hinunter zur Plattform, die Bahn kommt sofort. Bis jetzt läuft alles prima.

Die Leitspur ist vollgeparkt

Sobald er die Station Omonia am Platz der Eintracht mitten in Athen verlässt, warten die Fallen auf ihn. Wo früher ein billiges Hotel stand, steht jetzt ein großes Einkaufszentrum mit Kosmetikartikeln und Accessoires. Laster stehen am Seiteneingang zum Entladen der neuen Ware – direkt auf der Leitspur für Blinde.

Proteste und Interventionen seitens der Blinden fruchten nichts, sagt Sifakis. Das liege, wie er erklärt, nicht zuletzt an der Kompetenzverteilung zwischen der Stadtverwaltung Athen und der Regionalverwaltung Attika im Großraum Athen.

Die Hauptstraßen und deren Bürgersteige in der Athener Innenstadt seien Sache der Regionalverwaltung, für die Nebenstraßen samt den Bürgersteigen sei indes die Stadt Athen zuständig, so Sifakis. „Bei Kreuzungen ist unklar, wer für sie zuständig ist.“ Mache man auf Probleme aufmerksam, werfe die eine Behörde der Stadt der anderen Behörde der Regionalverwaltung den Ball zu – und umgekehrt. Das Ergebnis: Alles bleibt beim Alten.

Dimitrios Sifakis wuchs in einem Dorf auf Kreta auf. Er kam schon früh nach Kallithea, um die dortige Förderschule für Sehbehinderte zu besuchen. So wurde der Kreter zum Athener. Eine richtige Entscheidung, wie er sagt. Fünfzehn Jahre lang arbeitete er als Telefonist in einer Athener Klinik, er lernte Gitarre und spielte in Tavernen. Die Lebensqualität sei in der Großstadt zwar schlechter, die Dinge teurer, die Gefahren seien größer, findet Sifakis. Dennoch seien „das Leben und die Chancen besser als im Dorf“.

Die Tour mit dem blinden Sifakis durch die Athener Innenstadt geht weiter. An vielen Stellen sind die Leitspuren für Blinde auf den Bürgersteigen von rechtswidrig abgestellten Motorrädern, Scootern sowie fliegenden Kleinhändlern mit ihren Ständen blockiert. Hinzu komme eine neue Plage in Athen, wie Sifakis betont: die E-Roller. Alles veritable Hindernisse. „Der Bürgersteig ist für die Fußgänger – ob blind oder nicht. Nicht für Autos, Scooter oder E-Roller!“, ätzt Sifakis.

Der Bürgersteig ist für die Fußgänger – ob blind oder nicht

Jannis Vardakastanis

„Die Stadtpolizei tut nichts“, klagt er. Zudem zeigt sich: Leitspuren für Blinde sind vielfach abgenutzt, hören plötzlich auf oder vereinen gleich beide Mängel. In einer Nebenstraße nahe dem Omoniaplatz endet die Leitspur für Blinde auf dem Bürgersteig abrupt in offenen Baulöchern. Passt er an dieser Stelle nicht auf, riskiert er, ins Loch zu fallen, ärgert sich Sifakis.

Schon steht ihm die nächste Herausforderung bevor. Sifakis will eine stark befahrene Straße am Omoniaplatz, Griechenlands zentralstem Platz, überqueren. Ohne Blindenampel. Ein Härtetest für seinen Hörsinn. Noch komplizierter wird es, als just in diesem Moment ein Taxi vor der Ampel stoppt. Der Taxifahrer steigt aus, öffnet den Kofferraum, den Motor lässt er weiterlaufen.

Kaum Blindenampel vorhanden

Die Ampel schaltet für die Autos auf Grün. Das Taxi steht aber weiter an gleicher Stelle. Blinde hören nur den Motor. Sie könnten fälschlicherweise glauben, dass die Ampel für die Fußgänger auf Grün geschaltet ist. Sifakis geht auf Nummer sicher. „Ich höre genau hin, ob heranfahrende Autos wirklich bremsen, um an der Ampel zu halten.“ Erst dann überquert er die Straße.

Stichwort Blindenampeln: Athen hat fast keine. Am Verfassungsplatz vor dem Athener Parlament steht so eine. Schaltet sie auf Grün, zeigen akustische Signale den Wechsel an. Sifakis sagt, früher seien im Athener Zentrum zwar „fast an jeder Ecke“ Blindenampeln in Betrieb gewesen. Sie seien aber nicht gewartet worden – und gingen nach und nach kaputt. In einzelnen Wohnvierteln hätten sie wiederum aufgebrachte Bewohner zerstört. Sie wollten nicht ständig die Signale der Ampel hören.

Dimitrios Sifakis biegt in die Athinasstraße ein. Schnell führt sie zum Monastirakiplatz im Touristenviertel Plaka. Die Straße ist voller Urlauber aus aller Welt. Sifakis’ Weg führt am zentralen Athener Fleisch- und Fischmarkt vorbei. E-Roller rasen haarscharf an ihm vorbei.

Inzwischen angekommen in der Ermoustraße, einer anderthalb Kilometer langen Einkaufsmeile, sieht eine aufgetakelte Frau mittleren Alters Sifakis mit seinem Blindenstock, bevor sie in einem Kaufhaus verschwindet. Gut hörbar sagt sie auf Griechisch: „Όχ, ο καημένος“ („Ach, der Arme“). So etwas höre er nicht zum ersten Mal, sagt Sifakis.

Zeit für einen leckeren Frappé. Ein schönes Café in einer schattigen Nebenstraße der Ermou-Einkaufsmeile lädt dazu ein. Dimitrios Sifakis nimmt einen Schluck und lässt seinem Frust über die Behörden und die real existierende Barriereunfreiheit freien Lauf. In Griechenland gebe es durchaus die nötigen Institutionen und Gesetze, aber keine Kontrolle.

Sifakis nennt ein Beispiel. „Ein Platz soll behindertengerecht neugestaltet werden. Wird er aber nicht. Vielleicht wird nur die halbe Arbeit getan. Dann wird alles kaputt gemacht und von vorne angefangen, anstatt von Anfang an alles richtig zu bauen.“

Was gut für Behinderte ist, ist gut für alle

Nikos Kapiris

Im Jahr 1997 wurden die Olympischen Sommerspiele 2004 an Athen vergeben, erinnert sich Sifakis. Mit Blick auf Olympia 2004 habe Hellas sehr viel Geld für die Athener Infrastruktur ausgegeben. Seither seien jedoch zweieinhalb Jahrzehnte verstrichen, merkt Sifakis an. Halte man die Infrastruktur nicht instand, dann verrotte sie. Heute habe Athen zudem mehr Einwohner als damals, die Stadt habe sich ausgedehnt.

Eine neue, barrierefreie Infrastruktur sei nötig. Der Athener Flughafen sei zwar völlig barrierefrei, so Sifakis. Doch: „Das ist die Vitrine, das Schaufenster.“ Entferne man sich vom Airport und erreiche das Betonmeer Athen, dann stoße man rasch auf viele Barrieren. Es gebe keine einwandfreie Barrierefreiheit, um sich in Athen fortzubewegen, unterstreicht Sifakis unverblümt.

„Oasen“ der Barrierefreiheit

Schätzungen zufolge machen Behinderte etwa 10 Prozent der hiesigen Bevölkerung in Griechenland aus. Das seien rund 1 Million Menschen, teilt der Präsident des Griechischen Behindertenverbandes ESAMEA, Jannis Vardakastanis, auf Anfrage der taz mit. Der Umstand, wonach die Barrierefreiheit in Athen eingeschränkt ist, steht ebenso für Vardakastanis außer Frage.

In Athen gebe es zwar „Oasen“ der Barrierefreiheit, so Vardakastanis zur taz. Einige öffentliche Verkehrsmittel, archäologische Stätten und die meisten Museen seien barrierefrei, aber nur wenige Restaurants und Cafés. Vardakastanis bestätigt: „Die Gehwege sind kaputt, die Rampen voll mit geparkten Autos, Busse und Straßenbahnen nicht immer frei zugänglich, akustische Signale für Blinde fehlen.“

Doch damit nicht genug: „Hinzu kommt oft ein mangelndes Einfühlungsvermögen seitens der nichtbehinderten Mit­bürger, Politiker inbegriffen, gegenüber Behinderten“, fügt Vardakastanis hinzu.

Nikos Kapiris, Dimitrios Sifakis und Jannis Vardakastanis sind sich einig: Eine „Kette“ der Barrierefreiheit im Großraum Athen fehle, ein Konzept, das in seiner Gesamtheit umgesetzt werde und es so behinderten Menschen ermögliche, sich ohne Mühe von Punkt A nach B und von dort nach C zu bewegen.

Gäbe es eine möglichst umfassende Barrierefreiheit, würde dies doch auch der übrigen Bevölkerung wie Frauen mit Kinderwagen oder Senioren nützen, hebt Kapiris hervor. „Was gut für uns (Behinderte) ist, ist gut für alle“, sagt er mit fester Stimme.

Sifakis legt nach. Sein so trauriges wie niederschmetterndes Urteil lautet: Athen sei in Sachen Barrierefreiheit „sehr weit“ hinter dem ob der großen nationalen Vision Olympia erreichten Stand von 2004 zurückgefallen, anstatt seither Fortschritte zu machen.

Hellas hinkt, täuscht aber vor, dass es tanzt

Irini Papas, eine begnadete Schauspielerin

Wie sagte die mittlerweile verstorbene Irini Papas, eine begnadete Schauspielerin, Griechenlands wohl großartigste Tragödiendarstellerin, über ihre Heimat: „Hellas hinkt, täuscht aber vor, dass es tanzt.“ Micha Ditt­richs leise Flüche würden wohl auch heute in Athen zu hören sein.

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