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Weltraumbehörde über Amazonas„Das System erreicht seinen Kipppunkt“

Unter Präsident Lula hatte sich der brasilianische Amazonaswald erholt. Nun macht sich der schleichende Waldverlust bemerkbar, erklären zwei Forscher.

Absichtlich gelegte Brände schädigen den Amazonas seit Jahrzehnten Foto: Bruno Kelly/reuters
Niklas Franzen

Interview von

Niklas Franzen

taz: Die Weltraumbehörde INPE liefert seit Jahren verlässliche Zahlen über die Abholzung im Amazonasgebiet. Zuletzt war diese im brasilianischen Teil deutlich zurückgegangen. Wie erklären Sie das?

Cláudio Almeida: Das hängt mit der Zunahme an staatlicher Kontrolle und Strafverfolgung zusammen. Sprich: Die klassische Polizeiarbeit des Staates funktioniert nach dem letzten Regierungswechsel wieder. Das kann eine Geldstrafe sein oder die Sperrung eines Grundstücks aufgrund illegaler Aktivitäten.

Aber jetzt kommen wir in eine zweite Phase, in der Kontrollen allein nicht reichen. Wir brauchen zusätzlich wirtschaftliche Steuerungsinstrumente, zum Beispiel: Kein Kredit mehr für diejenigen, die illegal roden. Oder Förderung nachhaltiger Wirtschaftsketten, also Produktion mit möglichst geringem Umwelteinfluss.

taz: Das klang doch zunächst gut. Aber seit Mai zeigen die Daten nun wieder deutliche Waldverluste. Woher kommt das?

Im Interview: Cláudio Almeida

Cláudio Almeida ist Leiter des Amazonien-Projekts am INPE (Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais), das sich auf Umweltüberwachung spezialisiert hat und den Vegetationsverlust in allen sechs brasilianischen Biomen untersucht. Almeida ist Experte für Fernerkundung und Landnutzungswandel und maßgeblich an der Entwicklung von Satellitenprogrammen beteiligt, die die Abholzung des Amazonaswaldes in Echtzeit überwachen.

Im Interview: Miguel Monteiro

Miguel Monteiro ist Direktor des INPE. Monteiro hat einen Doktortitel in angewandter Informatik und arbeitet seit 1985 am INPE im Bereich Geoinformation und Fernerkundung.

Miguel Monteiro: Das hängt mit schleichenden Degradationsprozessen zusammen. Ein Beispiel: An einem bestimmten Tag beginnt dieser Prozess, etwa durch selektiven Holzeinschlag oder ein Feuer in einem bestimmten Gebiet.

Trotzdem behält der Wald dort zunächst noch seine ökologischen Funktionen. Er bleibt also funktional ein Wald. Das Messsystem erkennt in diesem Fall eine Degradation, aber noch keinen vollständigen Waldverlust.

Im zweiten Jahr passiert wieder etwas, im dritten Jahr auch – und so weiter. Irgendwann erreicht dieser Prozess aber einen Kipppunkt: Die Schädigung ist so weit fortgeschritten, dass man nicht mehr sagen kann, hier steht noch ein Wald. Erst dann spricht das System von „Abholzung“ – obwohl dieser Zustand schon Jahre vorher begonnen hatte.

Genau das ist im Mai passiert: Viele Gebiete, die sich über Jahre hinweg schleichend verschlechtert hatten, erreichten nun den Punkt, an dem wir sie offiziell als „abgeholzt“ klassifizieren mussten.

taz: Spielen dabei auch klimatische Veränderungen eine Rolle?

Almeida: Ja, in den letzten zehn Jahren hat Amazonien drei schwere Dürreperioden erlebt, die den Wald zusätzlich geschwächt haben. Diese extreme Trockenheit macht den Wald anfälliger für weitere Schäden. Die Dürre ist nicht nur eine natürliche Erscheinung, sondern steht auch im Zusammenhang mit dem Klimawandel.

Das sind also menschlich beeinflusste Prozesse auf globaler Ebene – mit lokalen Folgen. Wenn dann noch Feuer dazukommt – ob durch kulturelle Praktiken, durch illegale Brandrodung oder Fahrlässigkeit – entsteht eine hochgefährliche Situation: Hitze, Trockenheit, jede Menge brennbares Material. Feuer ist einer der wichtigsten Faktoren der Walddegradation.

taz: Sie können immer relativ genau sagen, wo gerodet wurde. Woher haben Sie Ihre Daten?

Monteiro: Brasilien besitzt vollständig selbst entwickelte Satelliten. Außerdem haben wir ein wichtiges Kooperationsprogramm mit China, seit vielen Jahren arbeiten wir auch mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt DLR zusammen. Aktuell entwickeln für einen neuen Satellit, der CO₂-Emissionen mit sehr hoher Auflösung messen soll.

taz: Wie kann man mithilfe von Satellitendaten die Abholzung von Wäldern nachweisen?

Almeida: Wir arbeiten mit Satellitenbildern, die auf der Reflexion des Sonnenlichts beruhen. Das Sonnenlicht trifft auf die Erdoberfläche, auf Bäume, Boden oder Gebäude, und wird zurückgeworfen. Der Satellit erfasst dieses reflektierte Licht. Durch Veränderungen in dieser Reflexion und speziell entwickelte Algorithmen können wir erkennen, welche Waldflächen zerstört oder degradiert wurden.

taz: Ihre jährliche Entwaldungsrate ist über die Grenzen hinaus bekannt.

Monteiro: Genau, das ist eine Kennziffer, die in der politischen Debatte und in internationalen Verhandlungen eine wichtige Rolle spielt. Wir können feststellen, wo besonders viel oder wenig abgeholzt wurde – das ist entscheidend für gezielte Maßnahmen.

taz: Sind die Hauptursachen der Abholzung natürlich oder menschengemacht?

Almeida: Sie sind anthropogen – also vom Menschen verursacht. Natürliche Ereignisse wie Stürme oder Blitzeinschläge spielen eine sehr geringe Rolle.

taz: Die Abholzungszahlen sind regional sehr unterschiedlich. In den Feuchtsavannen des Cerrado etwa steigen sie teilweise schon länger stark an, während es im Amazonasgebiet ja bis vor kurzem noch gut aussah. Gibt es da einen Zusammenhang?

Almeida: Ja, die zunehmende Kontrolle und Überwachung im Amazonasgebiet wirkt sich auf andere Regionen aus. Dort, wo stärker kontrolliert wird, ziehen sich Landbesetzer oder illegale Akteure zurück und weichen auf weniger überwachte Regionen aus, wie etwa den Cerrado. Nur etwa sechs Prozent des Cerrado stehen unter strengem Schutz. Das ist deutlich weniger als im Amazonasgebiet.

Außerdem ist die Gesetzgebung für den Cerrado deutlich lockerer: Auf privaten Grundstücken darf bis zu 80 Prozent der Fläche legal gerodet werden. In Amazonien dagegen müssen 80 Prozent der Fläche erhalten bleiben. Deshalb ist ein großer Teil der Entwaldung im Cerrado legal, weil er innerhalb der zulässigen Grenzen stattfindet. Zudem wächst dort die landwirtschaftliche Nutzung stark. Die Böden sind sehr günstig, leicht zu erschließen und gut mechanisierbar.

taz: Während der Amtszeit von Präsident Bolsonaro kam es zu Konflikten mit dem INPE, er entließ sogar Ihren damaligen Chef. Wie hat sich die Situation unter Präsident Lula verändert?

Monteiro: Was wir damals erlebt haben, war eine Ausnahmesituation. Jetzt kehren wir zu normalen Arbeitsbeziehungen zurück – so wie sie früher üblich waren. Wir befinden uns in einer Phase des Wiederaufbaus, weil unter Bolsonaro viele Dinge verloren gingen, etwa gesetzliche Regelungen. Sowohl das Umweltministerium als auch das Ministerium für Wissenschaft und Technologie arbeiten nun daran, das Monitoring-System wieder zu stärken.

taz: Präsident Lula fordert mehr Verantwortung, vor allem finanzieller Natur, der reichen Länder beim Schutz des Amazonasgebiets. Wie sehen Sie das?

Almeida: Das ist nicht nur seine persönliche Meinung, diese Haltung ist seit Langem Bestandteil der internationalen Verhandlungen, insbesondere auf den UN-Klimakonferenzen. Für uns gilt das Prinzip der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung. Bedeutet: Alle Länder tragen Verantwortung, aber reiche Länder haben aufgrund ihrer Vergangenheit eine größere Last zu tragen.

Wenn man berechnet, wie viel jedes Land historisch an Emissionen verursacht hat, sieht man, dass die Industrieländer durch ihre Emissionen zugleich wirtschaftlich stark profitiert haben. Deshalb muss die Verantwortung zwar formal gleich sein, aber in der praktischen Umsetzung unterschiedlich gewichtet – eben differenziert.

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