NRW-Kommunalwahlen in Münster: Ist die Welt hier noch in Ordnung?
Nein. Aber nirgendwo ist die AfD so schwach, sind die Grünen so stark wie in Münster. Lässt sich hier etwas lernen für den Rest der Republik?

4,5 Prozent hat die Partei bei der Wahl für den Stadtrat geholt, so wenig wie nirgendwo sonst. „Wir tragen das mit Fassung“, sagt Birke, der Kreisvorsitzende, und lächelt gequält.
Es ist ein Volkssport geworden, sich nach jeder Wahl mit sorgenvoller Miene über die Landkarte mit den Ergebnissen zu beugen und den blauesten Punkt zu suchen. Die AfD hat sich bei den Kommunalwahlen in NRW landesweit verdreifacht, am stärksten wurde sie mit fast 30 Prozent in Gelsenkirchen. Warum sind die da so, was fehlt dem Patienten? Die Frage ist berechtigt, aber vielleicht versuchen wir es mal andersrum. In Münster.
Bei der Wahl für den Stadtrat holten die Grünen über 30 Prozent, mehr als irgendwo sonst. Ihr Kandidat für den Posten des Oberbürgermeisters erhielt über 40 Prozent. Tilman Fuchs muss in die Stichwahl gegen den Kandidaten der CDU. Er wäre der erste grüne OB in der Geschichte der Stadt.
Lässt sich aus Münster etwas lernen für den Rest der Republik?
Es gibt die einfache Antwort, sie lautet: Nein. 60.000 Studierende leben hier, das ist jeder Fünfte. Münster ist wohlhabend, Gerichte, Versicherungen und Behörden haben ihren Sitz in der Stadt. Mehr Frauen als Männer leben hier, und die wählen seltener rechts. Und selbst im Döner-Imbiss im vermeintlichen Problemviertel sagt der Verkäufer zu einer Kundin den schönen Satz: „Welche Sauce? Entschuldigung, das habe ich akustisch nicht verstanden.“
Es gibt einfach zu wenig Probleme. Helmut Birke, der AfD-Mann mit dem Fahrrad, muss schieben, das Kopfsteinpflaster sei holprig, beschwert er sich. Klingt nicht nach einem Wahlkampfschlager. Birke sagt über seine Stadt, er sei umzingelt von Beamten, die sich fragten: „Was mache ich mit meinem Geld?“ Er gönne es denen ja, beteuert Birke. Und dass er auch nicht gern in einer Stadt leben würde, in der seine Partei schon erfolgreich ist.
Geld haben gegen rechts, damit könnte diese Geschichte schon vorbei sein.
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Aber es gibt Städte mit ähnlichen Voraussetzungen. Auch Aachen hat eine große Uni, auch Bonn hat viele Beamte. Trotzdem sind die AfD-Ergebnisse dort höher. Und es gibt Studien, die zeigen: Viele AfD-Wähler sind wohlhabend, haben ein Eigenheim, zwei Autos und viele Ängste. Gibt es doch etwas in Münster, das anders ist?
Darüber muss man mit Ruprecht Polenz sprechen, dem Elder Statesman der liberalen Union. Man hat sich noch nicht zu ihm an den Tisch der Bäckerei gesetzt, schon fängt er an, zu erzählen.
Polenz, der eine Jacke in Rentnerbeige trägt und Cola light trinkt, war lange in der Kommunalpolitik. Er hat einen Moment in der Stadtgeschichte identifiziert, der bis heute prägend sei. Anfang der 1990er Jahre war das, Jugoslawien zerfiel, und viele Menschen flohen, auch nach Münster. Manchmal kam am Freitagabend noch der Anruf: Es kommen noch zwei Busse. Polenz sagt, damals habe man sich mit allen Parteien zusammengesetzt und geschworen: Keine Politik auf dem Rücken von Minderheiten. In Köln gab es in diesem Jahr ein ähnliches Abkommen. Es war erfolgreich, auch wenn rechte Medien dagegen Sturm liefen.
In Münster hält die Abmachung zum Antikulturkampf bis heute. Zwar wird hier auch gestritten, vor allem über den Verkehr. „Aber die Stimmen, die Grünen würden das Auto komplett verbieten wollen, werden leiser.“
Die Grünen meistern hier den Spagat
So erzählt es der grüne Spitzenkandidat Tilman Fuchs, während er auf dem Wochenmarkt steht und die obligatorischen Sonnenblumen verteilt. Bis zur Stichwahl geht der Wahlkampf weiter. Aber immer wieder lehnen Passanten seinen Flyer ab. „Meine Stimme haben Sie schon“, sagt eine Passantin, „Wir schaffen das!“, eine andere. Wer vergangene Wahlkämpfe grüner Kandidaten vor Augen hat, denkt unweigerlich: Hier werden sie mit High Five abgeklatscht und nicht geboxt.
Dann bleibt eine ältere Dame stehen, teurer Steppmantel, in der ersten Runde hat sie den Kandidaten der SPD gewählt. Mehr „Law and Order“, wünscht sie sich, gegen rasende Radfahrer und herumstehende E-Roller. „Das werd’ ich gleich mit dem Ordnungsamt angehen“, sagt Fuchs.
Auch das ist etwas, das Linke aus der Zivilgesellschaft erzählen. Die Polizeipräsenz ist hoch in der Stadt, was daran liegen mag, dass hier Polizisten fürs ganze Land ausgebildet werden. Auch zur Befriedung im Bahnhofsviertel haben Masten mit Videokameras beigetragen. In der liberalen Hochburg ist die Polizei nie weit weg.
Ob sich die Grünen im Rest des Landes etwas vom Erfolg in Münster abschauen können? Tilman Fuchs, der jetzt neben dem Stand mit Räucherfisch an einem Stehtisch lehnt, windet sich bei der Antwort wie ein Aal. Klar, er will niemandem ans Bein pinkeln. Aber später erzählt er, wie er im Wahlkampf „Ich bin Pro Asyl“ postete und dafür nur Zustimmung bekam. Auch aus der grünen Bundesspitze heißt es, für den Erfolg in Köln und Münster sei der klare Kurs vor Ort verantwortlich. Bei der Bundestagswahl war der nicht immer erkennbar, vor allem beim Thema Asyl. Tatsächlich meistern die Grünen hier den Spagat, an dem sie im Bund scheiterten – linke und konservative Bürger zu erreichen. Die Linkspartei schnitt jedenfalls schlechter ab als bei der Bundestagswahl.
Der Glaubwürdigkeit helfe zudem, dass die Grünen seit über zehn Jahren im Stadtrat an der Koalition beteiligt seien. „Wir sind kein Schreckgespenst“, sagt Fuchs. Die Grünen könnten kommunal zeigen, was sie bewegten, das sei in der Landesregierung und der Ampel nicht immer gelungen.
Jeder Zehnte spendet Blut
Auch Ruprecht Polenz hofft, dass seine CDU sich das Ergebnis der Kommunalwahl genau anschaut. Für ihn ist klar: Wo die Union liberal auftritt, ist sie erfolgreich. In Münster wirbt ihr Kandidat mit „Vielfalt und Zusammenhalt“. Er bekam dafür 37, seine Partei 31 Prozent. In ganz NRW liegt die Union über dem Bundesschnitt.
Um zu verstehen, was in Münster anders läuft, hilft es, gedanklich einmal herauszuzoomen aus der Innenstadt. Von oben betrachtet ist Münster ein bisschen wie Berlin: Ein innerer Ring, in dem linksgrün gewählt wird. Und ein äußerer, in dem schwarz dominiert. Doch auch hier kriegt die AfD keinen Fuß auf den Boden.
Es ist auch der Katholizismus, der Münster so liberal macht, davon ist nicht nur Polenz überzeugt. Schon die Nazis taten sich im Münsterland anfangs schwer. Eine „Immunitätsreserve“ gegen die Verlockungen des Rechtsextremismus, so nennt ein Politikwissenschaftler der Uni Münster den Glauben.
Heute geht man zwar nicht mehr jeden Sonntag in die Kirche, dafür in den Schützenverein und zur Feuerwehr. Der Politikwissenschaftler nennt Studien, die zeigen, wie anderswo der Rückgang von Engagement mit dem Aufstieg der Rechten einhergehe. Er zitiert eine Erhebung des Roten Kreuzes, nach der im Ruhrgebiet kaum noch jemand Blut spende, während es im Münsterland jeder Zehnte sei.
„Antifaschistische Schnitzeljagd“
Und dann gibt es noch ein Ereignis in der Stadtgeschichte, bis heute werden die Münsteraner jeden Tag daran erinnert. 1533 übernahm eine religiöse Sekte kurzzeitig die Macht in der Stadt. Sie gründete das sogenannte Täuferreich. Doch der Bischof und seine Truppen schlugen zurück und machten mit den Anführern der Sekte kurzen Prozess. Noch heute hängen an der St.-Lamberti-Kirche die Käfige, in denen ihre Leichen zur Abschreckung ausgestellt wurden.
Leg dich nicht mit der Kirche an, das erzählt diese Geschichte.
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In einen Käfig sperren sie ihn nicht, aber auch Helmut Birke fühlt sich verfolgt. Ständig muss er ein neues Lokal finden, wenn er sich mit Parteifreunden treffen will. Bei zwei chinesischen Restaurants hatten sie ihren Stammtisch, bis die Antifa kam und die Wirte merkten, dass die AfD schlecht fürs Geschäft ist.
Auch im Stadtbild ist die Partei unsichtbar, nirgendwo hängt ein Wahlplakat. Es gibt eine Website, auf der kann man eintragen, wenn man eines an der Laterne hängen sieht. „Antifaschistische Schnitzeljagd“, nennt das ein Gesprächspartner. Man hat sich eben noch nicht gewöhnt an die AfD.
Ist hier also die Welt noch in Ordnung? Man kann die Geschichte auch anders erzählen. Denn die Partei hat sich bei der Wahl auf niedrigem Niveau verdoppelt und sitzt zum ersten Mal als Fraktion im Stadtrat, das bringt Geld.
Und dann ist da noch das Vorfeld. Die Partei mag schwach sein, doch die Stadt spielt für die Vernetzung der Rechten eine Rolle. Hört man sich unter Experten um, zählen diese auf: Drei Nazidemos gab es allein in den letzten Wochen. Der Hayek-Club sei für den Rechtslibertarismus wichtig, hier wurde die Influencerin Naomi Seibt sozialisiert, die von Elon Musk hofiert wird. Und Jahr für Jahr ziehen Abtreibungsgegner durch die Stadt.
Katja Usunov hat sich extra frei genommen
Auch Helmut Birke ist nur auf den ersten Blick ein harmloser Rentner mit Fahrrad. Er war schon bei Götz Kubitschek in Schnellroda und beim Kyffhäuser Treffen des Flügels, erzählt er freimütig. Seinen Parteifreund Höcke verteidigt er, es komme doch darauf an, was mit Remigration gemeint sei.
In Münster wird sich zeigen, ob sich der Stadtrat durch die AfD-Fraktion verändern wird. Ob die Strategie, mit der die Partei bundesweit erfolgreich die CDU spaltet, auch hier funktioniert. Mit einem Ratsmitglied der Union spielt er schon Doppelkopf, verrät Birke noch.
Zurück auf dem Wochenmarkt setzt der Spitzenkandidat Tilman Fuchs jetzt seinen grünen Fahrradhelm auf und radelt los. Sein nächster Termin führt ihn in ein runtergerocktes Bootshaus am Kanal. Bis vor ein paar Jahren wurde hier gerudert, dann übernahm ein Tangoverein, renovierte die Räume und öffnete sie für einen bunten Strauß von Vereinen. Heute wird hier Tango getanzt, spielen Menschen mit Parkinson Tischtennis, lernen andere Ukrainisch und Flamenco. Das bunte Leben, auf das Münster stolz ist.
Doch wie lange noch? Das Gebäude gehört der Stadt, der spottbillige Mietvertrag läuft aus. Seit Jahren sollen hier Wohnungen mit Wasserblick entstehen, 12.000 Euro der Quadratmeter, so das Gerücht.
Katja Usunov vom Verein Tango Pasión hat sich extra frei genommen, um den möglichen neuen OB zu überzeugen: Wir müssen hier bleiben. Sie hat eine Powerpoint-Präsentation mit etwas zu vielen Fotos vorbereitet und zählt die Vereine auf, die sich in dem Haus treffen. „Ehrenamt ist ein harter Job“, sagt sie, es klingt nicht, als wollte sie sich beklagen. Aber: „Es braucht einen Ort, an dem man ohne den Druck des Marktes sein kann.“
Usunov und ihr italienischer Mann haben einige Jahre auf Sizilien gewohnt. Als die Kinder kamen, mussten sie sich entscheiden: Palermo oder Münster? „Klar, wir haben uns für Münster entschieden.“ Die Lebensqualität sei hoch, schwärmen sie. Und das Wetter, naja, der Klimawandel mache es erträglich, haha. Da kann der grüne Kandidat nur müde lächeln.
Keine falschen Versprechen
Es ist ein Konflikt, der einem öfter begegnet in Münster und der bedroht, was die Stadt ausmacht. Was geht vor – günstige Räume für Kultur oder Platz für neue Wohnungen? Auch Münsters Kassen sind nicht mehr prall gefüllt. Das Geld aus dem Verkauf des Grundstücks könnte man gut gebrauchen.
Fuchs weiß, dass er der Zivilgesellschaft viel zu verdanken hat. Dass es Menschen wie Usunov sind, die die Stadtgesellschaft tragen. Er hört sich den Power-Point-Vortrag mit verschränkten Armen an. Fuchs hat sich vorgenommen, im Wahlkampf keine Versprechen zu machen, die er nicht halten kann. Über die Zukunft dieses Ortes entscheidet nicht er, sondern der Stadtrat.
Als die Tangotänzerin fertig ist mit ihrem Vortrag und ihn erwartungsvoll anschaut, kratzt sich Fuchs am Hals. Von einem „Zielkonflikt“ spricht er etwas umständlich, dann rät er: „Ihr müsst ganz klar und deutlich machen, was ihr hier für tolle Arbeit macht“.
Das muss auch Fuchs in den nächsten Tagen, bis zur Stichwahl am 28. September. Die Verhältnisse wird er nicht zum Tanzen bringen, aber ein bisschen Tango tanzen kann er schon.
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