Streik bei TikTok in Berlin: Innovation Ausbeutung
Wie KI die Arbeitswelt „revolutioniert“, zeigt sich bei Tiktok. Unternehmen wollen durch Outsourcing sparen. Hoffnung weckt der Widerstand dagegen.

M. ist von der rund 150 Beschäftigten der sogenannte „Trust and Safety“-Abteilung, verantwortlich für die Moderation von Inhalten, der deutschen Tiktok-Niederlassung in Berlin, die ihren Job verlieren sollen. Gegen die Kündigungen wehren sich die Beschäftigten erneut mit einem viertägigen, bis Freitag andauernden Streik.
Auch die Politik und die Öffentlichkeit versuchen die Beschäftigten zu mobilisieren. Auf einer Podiumsdiskussion in der Verdi-Zentrale am Dienstagabend, diskutierte Lena M. zusammen mit Expert:innen und Politiker:innen, welche gesellschaftlichen Auswirkungen die Entlassungen bei Tiktok und der gewerkschaftliche Widerstand dagegen haben werden.
Das chinesische Social-Media-Unternehmen will die gesamte für die Moderation der Inhalte verantwortliche Abteilung auflösen. Die Aufgaben sollen zum Teil in Subunternehmen ausgelagert werden. Vor allem soll aber ein Großteil durch KI-Algorithmen ersetzt werden, den die Beschäftigten zuvor selbst trainiert haben. Es ist die erste Massenentlassung in Deutschland, die explizit durch den Einsatz künstlicher Intelligenz begründet wird.
Nicht weniger Arbeit, nur schlechter bezahlt
Doch die Annahme, dass künstliche Intelligenz Arbeit „überflüssig“ machen würde, sei nicht ganz korrekt, erklärt Moritz Altenried, der an der Humboldt-Universität zu digitaler Arbeit forscht: „KI-Technologien sind Auslagerungstechnologien. Arbeit, die an einer Stelle rationalisiert wird, taucht an anderer wieder auf.“ Das sei auch bei Tiktok zu beobachten, erklärt Altenried. So müssten die Algorithmen immer wieder neu trainiert werden, um in neuen Kontexten zurechtzukommen – eine Aufgabe, die nun schlechter bezahlte Arbeiter:innen bei Drittfirmen übernehmen sollen. Und auch der Bau und Betrieb eines Rechenzentrums erfordere viel Arbeit.
Vor allem bedeuten weniger menschliche Inhaltsmoderator:innen einen Qualitätsverlust, der eine politische Entscheidung sei. Denn eine KI mit weniger menschlicher Kontrolle sei immer schlechter als eine mit mehr von dieser. Eine stärkere Verbreitung von Verschwörungstheorien, extremistischen, pornografischen und gewalttätigen Inhalten sind die Folge. „Plattformen wie Tiktok fühlen sich nicht mehr daran gebunden, Verantwortung für ihre Inhalte zu übernehmen“, sagt Altenried, letztendlich gehe es um „Outsourcing und Vernachlässigung von Aufgaben“.
Eine Beobachtung, die Contentmoderatorin Lena M. bestätigen kann, ist, dass Arbeit, wenn sie woanders wieder auftaucht, schlechter bezahlt wird. Sie habe mit Kolleg:innen gesprochen, die bei den Drittfirmen angestellt sind, in die Tiktok die Aufgaben auslagern will. „Nach der Art und Weise, wie viel sie moderieren, wird ihr Gehalt angepasst. Bei Fehlern werden sie direkt herausgeschmissen“, auch seien die Gehälter deutlich geringer als noch bei Tiktok.
Ist die Arbeitsrevolution, die künstliche Intelligenz bringen soll, also nur schnödes Outsourcing in neuen Gewändern? „Tiktoks Strategie ist Profitmaximierung“, sagt Camella Serent Wagner, die am Weizenbaum Insitut forscht. „Tech-Konzerne machen eine große Wette, dass KI Profite bringt“, dazu müssten aber möglichst viele Arbeiter:innen ersetzt werden, da die Technologien extrem teuer sind. Gewerkschaftsaktivist Daniel Gutiérrez ergänzt, dass in den USA bereits viele Einstiegsjobs in der Techbranche durch KI wegrationalisiert worden sind.
Regulierungsbedarf
„Wir sind ethisch, moralisch und regulativ nicht darauf vorbereitet“, gibt Arbeitssenatorin Cansel Kiziltepe zu. Umso wichtiger ist der gewerkschaftliche Widerstand, der wiederum am einfachsten durch einen Betriebsrat möglich sei. In der Techbranche sei das nicht einfach. „Da gibt es eine Menge Beispiele von Unionbusting“, sagt Kiziltepe.
Kathlen Eggerling, Verdi
Regulativ schlägt Kiziltepe ein Direktanstellungsgebot wie in der Fleischindustrie vor, das Outsourcing an Drittunternehmen verhindert. Allerdings seien die Möglichkeiten auf Landesebene begrenzt. Auch benötige es „digitale Zugangsrechte für Gewerkschaften“, sagt Kiziltepe, durch die Gewerkschafter:innen auch über die digitalen Kommunikationskanäle von Unternehmen werben können.
Ein erster Erfolg ist, dass sich die Tiktok-Beschäftigten überhaupt wehren. Tatsächlich ist der Arbeitskampf der erste Ausstand bei einem Social-Media-Unternehmen weltweit. „Der Tiktok-Streik wird international mit einer riesigen Aufmerksamkeit verfolgt“, sagt Verdi-Gewerkschaftssekretärin Kathlen Eggerling, man habe bereits etliche Kontaktanfragen von Gewerkschaftsgruppen aus dem Ausland bekommen, berichtet Eggerling. So organisierten sich gerade ebenso von Kündigungen bedrohte Tiktok-Beschäftigte in London.
Verdi fordert eine Kündigungsfrist von einem Jahr und eine Abfindung von drei Jahresgehältern. Bislang aber weigert sich das Unternehmen, mit der Gewerkschaft zu reden. Am Donnerstag entscheidet ein Gericht über das Einsetzen einer Einigungsstelle. Hat das Unternehmen Erfolg – was wahrscheinlich ist –, kann es die Beschäftigten ohne Einbindung der Gewerkschaft kündigen. Trotz der düsteren Aussichten bleibt Eggerling kämpferisch: „Wir werden die Beschäftigten bis zum letzten Tag unterstützen.“
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