Demokratie in Ostdeutschland: Sie können auch anders
Sind die Ostdeutschen wirklich so demokratieresistent, wie gern behauptet wird? Oder hören Westdeutsche ihnen einfach nicht richtig zu? Ein Erklärungsversuch.
E s wirkt rätselhaft: Nach vierzig Jahren SED-Herrschaft mit einer recht kläglichen Simulation von Demokratie sind die Ostdeutschen seit 1990 Bürger der Bundesrepublik, ihre politischen Präferenzen fließen selbstverständlich in die Wahlergebnisse ein – von der lokalen bis zur bundespolitischen Ebene. Woher kommen dann Unmut und das Gefühl des Übergangenwerdens, ja einer neuen Unterdrückung?
Zur Erklärung werden meist psychologische Faktoren herangezogen. Unter anderem eine Art Veränderungsüberforderung, als es aus der DDR-Gemütlichkeit hinausging in rauere Wirklichkeiten. Ebenso spielt die Kränkung eine Rolle, dass Ostdeutsche in den ostdeutschen Bundesländern bis heute – von DAX-Vorständen bis zu Professuren – deutlich unterrepräsentiert sind.
Kaum je rückt der Gedanke in den Blick, dass der ostdeutschen Empfindung des Missachtetwerdens eine tiefere – und sehr reale – Erfahrung zugrunde liegen könnte: die Erfahrung, dass man, Wahlen hin oder her, mit zentralen Anliegen nicht gehört wird. Zwei Beispiele.
Ein Schlüsselerlebnis war der Umgang mit Migration. Die wurde in weiten Teilen Ostdeutschlands anders wahrgenommen als im Westen: Es gab mehr Bedenken, mehr Zweifel an der Integrationsfähigkeit, mehr Sorgen, wohin ein starker Zustrom führen könnte. Inzwischen sind diese Fragen Teil des gesamtdeutschen politischen Diskurses geworden.
Abgekanzelt von Westdeutschen
Bei den Ostdeutschen blieb aber vor allem hängen, dass sie über Jahre von routinierten, sich progressiv gerierenden Westdeutschen abgekanzelt wurden. Kaum ein Kommentar zu diesem Thema ohne den herablassenden Zusatz, die (ostdeutsche) Skepsis komme ausgerechnet aus Regionen mit dem geringsten Migrantenanteil. Subtext: Die Leute dort sind irgendwie dumm, das ist „Dunkeldeutschland“, politisch unzurechnungsfähig.
Das sitzt. Dass manche Ostdeutsche vielleicht etwas gesehen oder antizipiert haben könnten, das vielen Westdeutschen erst später aufging, wird bis heute nicht anerkannt. Geblieben ist die Erfahrung, mit einem relevanten Gesichtspunkt verkannt und massiv abgewertet zu werden.
Zweites Beispiel: Ukrainekonflikt. Auch in Ostdeutschland wissen die meisten, dass dies ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg von Seiten Putin-Russlands ist. Nur sehen hier viele noch andere Aspekte. Darunter jene, dass die westliche Erzählung vom ständig weiter vordringenden Russland nicht so recht plausibel erscheint, wenn die Nato-Grenze bis 1990 nicht weit von Hamburg verlief, heute aber nicht weit von St. Petersburg. Aus guten Gründen natürlich, wenn man die Sorgen und das Selbstbestimmungsrecht insbesondere der baltischen Staaten ernst nimmt.
Ostdeutsche sind nicht sämtlich „Putinversteher“
Nur dass der „Westen“ andererseits, wo es ihm weniger gelegen kommt, Selbstbestimmungs- und Völkerrecht bricht: Vietnamkrieg, Einmarsch in den Irak, israelische Siedlungspolitik, die ohne die Rückendeckung insbesondere der USA unmöglich wäre. Viele Ostdeutsche sehen diese Inkonsequenzen, die blinden Flecken der dominierenden politischen Lesart. Dadurch werden sie aber nicht gleich zu „Putinverstehern“, wenngleich sie so abgefertigt werden.
Jenseits aller Details bei diesen Debatten, über die man trefflich streiten kann, bleibt als Kernbefund: Die ostdeutsche Optik könnte etwas Relevantes zur politischen Urteilsbildung beitragen. Aber das kommt den selbstgewissen Westdeutschen kaum je in den Sinn. Es ist, als hätten Menschen mit DDR-Hintergrund von Hause aus nur Erfahrungen zweiter Klasse zu bieten. Maßstab bleibt also das alte bundesdeutsche Koordinatensystem, in das sich die Ostdeutschen bitteschön doch endlich mal hineinfinden sollten.
Bezeichnend dafür ist eine Aussage von Friedrich Merz im Wahlkampf 2024: „Man muss im Osten mehr erklären als im Westen, das ist wahr, aber ich tue es gern.“ Da ist es wieder, das herablassende Framing: Ihr seid ganz okay, ihr braucht nur etwas länger. Das ist eine Beleidigung.

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.
Selbstverständlich – muss man es betonen? – gibt es auch jede Menge ostdeutscher Inkonsequenzen. Man kann sich nur wundern über Leute, die mit vierzig Jahren DDR-Politikversagen kein übermäßiges Problem hatten, aber jetzt jeden etwas mühsameren demokratischen Aushandlungsprozess als „Affentheater“ bezeichnen. Oder der Zulauf zu Parteien im Osten, die die unterbelichteten Aspekte in der Migrations- oder Ukrainefrage aufgreifen – es ist deprimierend, wie groß die Bereitschaft ist, sich damit in ein aggressives und nationalistisches Fahrwasser zu begeben, statt die Dinge auf kühle und freiheitliche Weise zu thematisieren.
Die große Frage ist nun: Wie kommt man aus dieser Verschanzung heraus? Sicher nicht durch hastige Demokratieförderprogramme, denen der Geschmack von Nachhilfe anhängt. Auch nicht, indem man fieberhaft nach Wegen sucht, um auf den von der AfD erfolgreich bewirtschafteten politischen Brachflächen doch noch einen Fuß auf den Boden zu bekommen. Solche Manöver durchschauen inzwischen alle.
Es gibt nur eine Option: Jene Themen, die bislang nur selektiv und lediglich mit westlicher Optik beleuchtet wurden, müssen Teil einer umfassenden und ernsthaften Diskussion werden. Oder anders gesagt: Es geht um einen Diskurs, der diesen Namen auch verdient und nicht einem Versuch einer medial gestützten Volksbelehrung gleichkommt.
Es wäre die Chance für ein öffentliches Gespräch, eines, in dem die bisherigen Ost-West-Konturen auf wundersame Weise in den Hintergrund treten könnten. Und eines, in dem die gewohnte westdeutsche Diskurshoheit an ihr Ende käme. Kein Grund zum Weinen. Wenn west- und ostdeutsche Perspektiven gar nicht mehr recht identifizierbar wären, dann wäre das ein stiller Erfolg. Es wäre ein Anflug dessen, was mit der vielbeschworenen inneren Einheit des Landes gemeint sein könnte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert