Tübinger OB diskutiert mit AfD-Politiker: Die Boris-Palmer-Show
Das Stadtoberhaupt hat sich am Freitag mit dem Spitzenkandidaten der Südwest-AfD Marcus Frohnmaier öffentlich duelliert. Dabei machte er Punkte, doch der Nutzen der Veranstaltung blieb fraglich.

Viel Wind also. Im Vorfeld und am Abend selbst. Mehrere Gegendemonstrationen mit 2000 Teilnehmern, ein großes Polizeiaufgebot. Die 800 Plätze in der Hermann-Hepper-Halle wurden nach strengen Regeln vergeben und waren schnell weg. Es gab sogar eine Liste mit Nachrückern. Trotzdem waren die Zuschauerreihen, so sah man’s im Stream, höchstens zu 70 Prozent besetzt und wurden, nachdem Protestierende von der Polizei aus der Halle hinausgeleitet worden waren, noch leerer.
Obwohl den meisten noch das Streitgespräch zwischen Mario Voigt und Björn Höcke in schlechter Erinnerung sein dürfte, sei das hier in Tübingen schrecklich innovativ, versicherte der Rhetorikprofessor Joachim Knape, der den Abend etwas unbeholfen moderierte. Und auch ein Verweis auf Habermas durfte nicht fehlen. Doch man musste schon sehr viel Leidenschaft für den zwanglosen Zwang des besseren Arguments aufbringen, um der Debatte vor einem merkwürdig fleischfarbenen Vorhang bis zum Ende zu folgen. Denn das Format mit lächerlichem Zeitstoppen per Wecker und ritualisierten Zufallsfragen aus dem Publikum hemmte die Diskussion, ebenso wie die Zwischenrufe aus beiden Lagern.
Palmer machte an dem Abend etwas, was selbst Anhänger der AfD nicht tun – und vielleicht nicht mal ihre Funktionäre: Er nahm das AfD-Parteiprogramm ernst. Er zeigte auf, dass damit Wohlstand vernichtet wird und den Kommunen massiv Steuereinnahmen wegbrechen. Dass Wohnraum für Normalverdiener unbezahlbar werde, wenn sozialer Wohnungsbau abgeschafft würde, wie es die AfD will. Und er rechnete vor, wie die Partei Millioneninvestitionen einer Stadt wie Tübingen in die Tonne treten würde, wenn sie Windräder und Solaranlagen abreißen wollte. Sein Refrain: Deshalb hat die AfD in Tübingen bisher nicht mehr als 6,5 Prozent der Wählerschaft erreicht – und das sei gut so.
Palmer schlug sich gut. Er nannte gute Gründe, warum sozial Schwache, Unternehmer und Migranten Angst vor der AfD haben müssen. Nagelte Frohnmaier auf sein Versprechen fest, dass er Rechtsextreme aus der Partei werfen wolle. Viele Antworten von Frohnmaier verloren sich dagegen im Ungefähren. Wo ihm Fakten fehlten, griff er zu rhetorischen Tricks. Fazit: Was Palmer an diesem Abend tut, können auch andere Politiker – aber sie tun es zu selten: der AfD die Regeln des demokratischen Diskurses aufzwingen.
Und immerhin hat Palmer seiner Stadt und den dort ansässigen Einwohnern und Ladenbesitzern mit der Debatte eine Demonstration der AfD erspart. Was auch auf der Antifa-Seite einige Enttäuschte zurückließ. Wie ein junger Mann am Mikrofon sagte: „Sie haben uns die Gelegenheit zum Protest genommen, hier im Saal wirken wir nur als Störer.“
Am Ende der großen Palmer-Show in Tübingen ist man trotzdem etwas ratlos. Denn der Zweifel, den Sozialbürgermeisterin Gundula Schäfer-Vogel im Vorfeld öffentlich formuliert hat, ist ja nicht von der Hand zu weisen: Sind die Anhänger der AfD überhaupt noch für Argumente erreichbar?
Vielleicht hat die Veranstaltung also weniger dazu gedient, die AfD zu entlarven, als der Vergewisserung, wo der Quartals-Populist Boris Palmer steht: vielleicht nicht da, wo ihn Linke gerne hätten, aber zumindest mit klarer Kante gegen die AfD.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wir Boomer
Menno, habt Ihr’s gut!
Tübinger OB diskutiert mit AfD-Politiker
Die Boris-Palmer-Show
Gespräch mit einem Polizisten
„Manchmal wird bewusst unsauber gearbeitet“
Umfrage zur Landtagswahl Sachsen-Anhalt
Spitzenwert für Rechtsextreme
Bully Herbigs aktuelle Winnetou-Parodie
Relativ unlustig
Angriff auf den Sozialstaat
Bloß keine Agenda 2030