Politisches Chaos in UK: Labour in der Krise, Reform UK auf Höhenflug
Die Labour-Regierung versucht mit einer Kabinettsumbildung, sich selbst zu retten. Derweil wird die rechte Reform UK in Umfragen stärkste Partei – und weiß das zu inszenieren.
Der Kontrast könnte kaum größer sein. Vor gut einem Jahr errang Großbritanniens Labour-Partei eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und setzte damit 14 Jahren zunehmend chaotischer konservativer Regierungszeit ein Ende. Doch nun macht die Regierung Starmer selbst einen verbrauchten Eindruck: Rückschläge bei den Regional- und Kommunalwahlen im Mai, eine heulende Finanzministerin Rachel Reeves auf der Regierungsbank im Unterhaus Anfang Juli, Abspaltung des linken Parteiflügels Ende Juli, neue rechte Straßenproteste im August, die spektakuläre Selbstzerstörung der Vizepremierministerin Rayner Anfang September. Und all das wird begleitet von einem unaufhaltsamen Abwärtstrend in den Umfragen – und einem nicht enden wollenden Höhenflug der neuen Partei des alten Populisten Farage.
Angela Rayner ist für die Labour-Regierung ein herber Verlust, das weiß niemand besser als Keir Starmer. Als der ehemalige britische Generalstaatsanwaltschaft 2020 die Wahl um die Nachfolge Corbyns als Labour-Chef gewann, verdankte er das nicht nur dem eigenen Ruf von Seriosität. Sondern auch dem gemeinsamen Ticket mit dieser rotzig-rothaarigen Maulheldin aus einfachsten Verhältnissen, die sich von der minderjährigen alleinerziehenden Mutter ohne Schulabschluss bis hinauf ins Parlament gekämpft hatte. Sie sollte Labour als „Partei, die für ehrliche arbeitende Menschen einsteht“ verkörpern.
Aber „ehrliche arbeitende Menschen“ nutzen nicht Entschädidungsgelder des staatlichen Gesundheitssystems, um die Anzahlung für eine Luxuswohnung in der Nähe des neuen Lebensgefährten zu leisten – und dabei auch noch 40.000 Pfund Steuern zu wenig zu zahlen. Die Entschädigungsgelder hatte Rayner für Fehler bei der Entbindung des von Geburt an schwerbehinderten 17jährigen Sohn erhalten. Die offizielle Bestätigung dieser Medienenthüllungen durch den Ethik-Beauftragten der Regierung kosteten Angela Rayner am Freitag ihre Glaubwürdigkeit und ihre Karriere. Ihre Ämter ist Angela Rayner nun alle los, mit Ausnahme ihres Direktmandats im Unterhaus. Vermutlich kommt außerdem ein Steuerverfahren auf sie zu.

Kabinettsumbildung als Schadensbegrenzung
Die britische Regierung ist im Chaos: Eine bereits angesetzte Kabinettsumbildung musste Premierminister Starmer am Freitag und Samstag vorziehen und ausweiten. Nachfolger Rayners als Vizepremier wird der bisherige Außenminister David Lammy, prominentester Schwarzer der Labour-Regierung. Zuletzt war er auffällig geworden durch seine kuriose Männerfreundschaft mit US-Vizepräsident J.D.Vance. Lammy ist nun nicht mehr Außenminister, sondern wurde auf den relativ einflusslosen Posten des Justizministers degradiert.
Die bisherige Justizministerin Shabana Mahmood – pakistanischstämmig und die prominenteste Muslimin in der Regierung – steigt zur viel mächtigeren Innenministerin auf. Damit wird sie für die Migrations- und Flüchtlingspolitik zuständig, das heißeste Streitthema zwischen Labour und Reform UK. Die bisherige Innenministerin Yvette Cooper, einzige Veteranin der Ära Tony Blait in der Regierung, wird neue Außenministerin.
Indem diese eigentlich sinnvolle Dreierrochade Teil der allgemeinen Schadensbegrenzung nach dem Fall Angela Rayners wird, verpufft der gewünschte Effekt, einer strauchelnden Regierung neuen Schwung zu verleihen. „Dies ist kein Chaos“, wehrte Starmers Chefkabinettsberater Darren Jones am Samstag Journalistenfragen ab. Der Eindruck blieb.
Quo vadis Labour – nach links oder rechts?
Offen ist, was das alles für die Wahl eines neuen stellvertretenden Parteichefs bedeutet. Diese dürfte zu einer Schlammschlacht werden. Das Dilemma: Wenn Labour den linken Flügel verprellt, steht die noch nicht offiziell gegründete neue Linkspartei von Jeremy Corbyn und Zarah Sultana als Auffangbecken bereit. Aber wenn der linke Flügel sich durchsetzt, ist das noch mehr Wasser auf die Mühlen der rechten Opposition.
Schon fordern die Linken, dass die neue Innenministerin Mahmood den Beschluss ihrer Vorgängerin Cooper kippt, die militante Palästina-Soliguppe „Palestine Action“ als „terroristische Vereinigung“ einzustufen. Cooper hatte auch die laufende rechte Kampagne gebilligt, überall im Land britische Flaggen zu hissen – für Linke ein Graus.
Reform UK zelebriert sich beim Parteitag selbst
Bei Reform UK freut man sich über die patriotische Welle, die große Teile der britischen Gesellschaft erfasst hat. 4.000 „Reformer“ sind am Wochenende ins Messezentrum von Birmingham gekommen, um gemeinsam zwei Tage lang zu feiern – in einer Inszenierung irgendwo zwischen TV-Show und Erweckungsgottesdienst, mit eingesprenkelten Simulationen von Debatte, bei denen alle einer Meinung sind.
Reform UK hat hier schon früher getagt, aber dieses Jahr ist das Klima ernsthafter, bestätigen erfahrene Beobachter. Die Partei setzt die politische Agenda Großbritanniens. Im Durchschnitt der Meinungsumfragen steht Reform UK aktuell bei 31 Prozent, Labour bei 20, dahinter Konservative, Liberale und Grüne. Zur Erinnerung: die Wahlen 2024 gewann Labour mit 34 Prozent gegen 24 für die Konservativen und 14 für Reform UK.
Allmählich gewöhnt sich Großbritannien an den Gedanken, dass die traditionelle Zweiparteienlandschaft sich verschiebt. Etablierte politische Think-Tanks halten jetzt bei Reform UK Veranstaltungen ab. Unternehmen stehen Schlange. Selbst traditionelle Spender der Konservativen sind vertreten. Konservative Politiker wie der frühere Minister Jacob Rees-Mogg schnuppern herum, man weiß ja nie. Seine einstige Ministerkollegin Nadine Dorries wird ganz offiziell von Farage mitten in seiner Parteitagsrede als Überraschungsgast auf die Bühne geholt. Mit den Worten „Ich bin so erleichtert“ setzt sie zu einer langen Grußadresse an.
Reform UK feiert einen Erfolg nach dem nächsten
Lange Reden sind bei Reform UK weniger erwünscht als kurze Schnipsel mit dem immergleichen Dreiklang: Großbritannien geht den Bach runter, wir können es retten, wir werden es retten! Die Erfolge sind real: erster Platz in den Meinungsumfragen seit Monaten; 10 mit absoluter Mehrheit gewonnene Distriktverwaltungen im Mai; mittlerweile über 240.000 Mitglieder, doppelt so viele wie die Konservativen; ein möglicher Sieg bei den Regionalwahlen in Wales 2026. Wenn das gelingt und auch weitere Erfolge folgen, steht dem Sieg bei der nächsten Parlamentswahl nichts mehr im Wege, so die Analyse.
5.000 gute Kandidaten brauche man beim britischen Regionalwahlmarathon 2026, dann dürfte das Labour-Chaos zu vorgezogenen Parlamentswahlen 2027 führen. Und dann ist Nigel Farage Premierminister in 10 Downing Street. Handsignierte Farage-Fußballtrikots mit der Zahl „10“ auf dem Rücken gibt es für 100 Pfund zu erstehen.
„Unser Land ist zweifellos in der gefährlichsten Phase meines Lebens!“ ruft der 61jährige Farage. „Die Leute sagen mir: Du bist die letzte Chance, die unser Land hat“. Und natürlich haben die Leute recht, fügt er hinzu. Bei Reform UK haben die Leute immer recht. Sie wollen ja bloß „ein schönes Leben und eine Zukunft für die Kinder“, wie es eine der Delegierten sagt, als ein Showmaster ihr das Mikrofon vor die Nase hält.
Man habe ja nichts gegen Ausländer
Besonders viel Applaus vom Publikum erhält am Samstag Lucy Connolly. Die Britin hatte im Juli 2024 auf X „Massenabschiebungen jetzt, zündet von mir aus alle verdammten Hotels voller Bastarde an“ gepostet. Das ereignete sich einen Tag nach der Ermordung von drei Mädchen bei einem Messerangriff in Southport, dem folgten Unruhen und Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Sie löschte ihren Beitrag schnell wieder – wurde aber verhaftet, verurteilt und saß 380 Tage im Gefängnis. Eine „politische Gefangene“, sagt Reform UK.
Staunend erfährt das Publikum, jeden Tag würden in Großbritannien 30 Menschen wegen Äußerungen auf sozialen Medien festgenommen, 10.000 pro Jahr. „Ich will nicht in einem Land leben, wo Leute verhaftet werden, weil sie ihre Meinung online sagen“, erklärt die biedere Frau. Sie sagt, sie habe nichts gegen Ausländer, es gehe ihr einfach um die Sicherheit ihrer Kinder.

Bei Reform UK gehört alles weg, was stört. Nigel Farage zählt in seiner Rede sein Programm auf: Null Toleranz bei der Polizei, ausländische Straftäter deportieren, Ende der illegalen Bootsanlandungen, alle Illegalen festsetzen und deportieren, alle Organisationen mit Terrorverbindungen verbieten, Klimaneutralität beenden, Energie verbilligen, Großbritannien reindustrialisieren, Verschwendung von Steuergeldern beenden, arbeitende Menschen schützen, London zum globalen Führer in der digitalen Ökonomie und Kryptowährungen machen, die Superreichen im Land halten, mehr praktische Bildung einführen. Ein Parteitagsbeschluss fordert, nach der Regierungsübernahme alle bestehenden Asylbeschlüsse neu zu prüfen.
Labour als Häuflein verlorener Aufrechter
Es ist Populismus pur, sehr selbstbewusst mit der Machtperspektive kombiniert. Farages Stellvertrter und Vorgänger Richard Tice zerpflückt nicht nur die Wirtschaftsbilanz der Labour-Regierung, er spricht von fruchtbaren Kontakten zur Zentralbank und warnt Unternehmer, ihre Verträge mit der derzeitigen Regierung seien bald Geschichte.
Der frischgekürte Reform-Programmchef Zia Yusuf spricht in Bezug auf die illegale Migration von einem „nationalen Sicherheitsnotstand“, zieht den Vergleich zum Zweiten Weltkrieg, verkündet das bevorstehende „Ende einer tragischen Ära“ und prophezeit, in 100 Jahren werde man bewundernd auf diese Zeit zurückblicken.
Nigel Farage muss da gar nicht viel selber sagen. Es genügt, dass eine Rede nach dere anderen ihren Höhepunkt mit dem Hinweis findet, Nigel Farage sei bald Premierminister. Und wenn Labour so weitermacht, als Häuflein verlorener Aufrechter im ratlosen Abwehrkampf gegen die rechte Welle, wird er es auch.
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