
Kolumbiens Verschwundene: Medellíns Schuttberg
In Kolumbien suchen Frauen seit mehr als zwanzig Jahren nach ihren Kindern, die während der Paramilitärherrschaft verschwanden.
A n jenem Julitag, als sie das Mädchen in der Erde fanden, brach Margarita Restrepo zusammen. Ihre Gesichtszüge entglitten, der Kopf pochte vor Schmerz. „Ich weinte und weinte und weinte.“ Normalerweise ist Margarita Restrepo gut darin, stark zu sein. Wenn die anderen Frauen nicht mehr können, ist die kleine Frau da, reicht ihnen Kräutertee, umarmt sie in ihrer Trauer, in ihrer Verzweiflung.
An jenem Tag aber steht sie am Rand der Ausgrabungsstätte und betrachtete die Fundstücke aus dem Loch, eingetütet. Eine Bluse, die aussah wie eine, die ihre Tochter getragen hatte. Der BH, halb gepolstert, wie Carol Vanessa einen hatte. Eine blaue Perle, wie von der Kette, die sie so gerne trug. Und dann die Zähne im Schädel, einfach perfekt. „Sie hatte kein Karies, nicht eine einzige Füllung.“ Auch das Alter passt, zwischen 16 und 18 Jahren wohl.
Haben sie an diesem staubigen Ort, nach all den Jahren, endlich ihre Tochter gefunden? Margarita Restrepo hofft es. Und hat zugleich Angst.
Medellín, die zweitgrößte Stadt Kolumbiens, liegt längs in einem Tal. Rechts und links davon ist die Stadt die Berge hochgewachsen. In einem dieser Berge befindet sich das größte Massengrab des Landes: La Escombrera, auf deutsch etwa: Schuttabladeplatz. Seit Jahrzehnten wird hier der Bauschutt der Millionenstadt tonnenweise abgeladen. Auch auf die Körper von ermordeten Menschen.
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Das ist seit mehr als 20 Jahren ein offenes Geheimnis in Medellín. Wo heute der Eingang zum Steinbruch ist, befand sich mindestens zwischen Juni 2002 bis 2003 eine Basis von Paramilitärs. Nur etwa 200 Meter entfernt von Wohnhäusern.
„Es gab dieses Gerücht, dass sie in der Escombrera Menschen ermordeten und dort vergruben. Die Leute sagten das. Aber niemand sah es, denn sie ließen niemanden hinein“, sagt Gustavo Salazar. Er ist Richter des Sondergerichts für Frieden und leitet seit 2018 Ermittlungen.
Ehemalige Paramilitärs, allen voran Juan Carlos Villa Saldarriaga alias Móvil 8, berichteten, wie Bauarbeiter in die Verbrechen hineingezogen wurden: Auf Befehl mussten sie mit dem Bagger Gruben ausheben, in die die Täter die Leichen warfen und die sie zuschütten ließen – manchmal erst nach der Ermordung vor Ort.
Aktuelle Lage
Bis heute verschwinden in Kolumbien täglich Menschen – inmitten der noch immer aktiven bewaffneten Konflikte und in Gebieten, die von bewaffneten Gruppen kontrolliert werden. Besonders Kinder sind gefährdet, etwa durch Zwangsrekrutierung auf dem Schulweg. Viele Familien haben Angst vor Repressalien.
Zahlen
Zwischen 1958 und 2016 verschwanden in Kolumbien zwischen 122.000 und 210.000 Menschen. Verlässliche Angaben sind schwierig, da einheitliche Register fehlen und viele Fälle nicht angezeigt wurden.
Hintergrund
Im jahrzehntelangen Konflikt kämpften linke Guerillas, rechte Paramilitärs und staatliche Sicherheitskräfte gegeneinander. Ein entscheidender Schritt zur Beendigung war das Friedensabkommen von 2016 mit der Farc-Guerilla. Zwar demobilisierte sich die größte Guerilla des Kontinents, doch Farc-Splittergruppen sowie neue bewaffnete Akteure füllten das Machtvakuum. Heute hat sich die Sicherheitslage wieder verschlechtert.
Dass heute, nach mehr als 20 Jahren nach den Opfern gegraben wird, hat mit dem Friedensabkommen zwischen Farc-Guerilla und dem kolumbianischem Staat von 2016 zu tun. Es sah erstmals eine Sucheinheit für Verschwundene (UBPD) vor – was Opferorganisationen seit Jahrzehnten gefordert hatten – und das Sondergericht für den Frieden (JEP).
Es soll die strafrechtliche Verantwortung für schwere Verbrechen klären, die während mehr als 50 Jahren bewaffneten Konflikts in Kolumbien begangen wurden. In der Escombrera werden dabei Taten untersucht, an denen staatliche Sicherheitskräfte gemeinsam mit Paramilitärs oder zivilen Helfern beteiligt waren.
Doch noch bis 2020 wurde in der Escombrera Schutt abgeladen. Über Jahrzehnte hinweg erteilte die Stadtverwaltung Medellín, trotz der Beschwerden von Opfergruppen der Ombudsstelle und Menschenrechtsorganisationen, den Eigentümern immer wieder die Genehmigung dazu.
Seit 2024 laufen die Grabungen in La Escombrera
Seit Juli 2024 graben sie an diesem Berg, das Team des Sondergerichts für den Frieden, anfangs noch mit der Sucheinheit für Verschwundene. Anthropolog:innen, Topograf:innen, Arbeiter:innen. Um zur Wahrheit zu kommen, müssen sie wortwörtlich einen Berg versetzen. 43.000 Kubikmeter, 2.800 Lastwagen voller Schutt, Geröll, Erde und Müll haben sie bislang abgetragen.
An der höchsten Stelle waren es etwa 25 Meter, die sie in die Tiefe graben mussten. Gegen mögliche Erdrutsche leiten sie Wasser ab, verlegen Drainagen. Mit schweren Maschinen haben sie sich in etwa sechs Monaten bis zur Schicht des Jahres 2004 vorgearbeitet. Das Ziel ist jetzt, vorsichtiger weitere drei Meter abzutragen, bis zum Jahr 2002. Denn in diese Zeit fallen die meisten gewaltsam Verschwundenen aus der Comuna 13, die Margarita Restrepo und andere Mütter hier suchen.
Kolumbien-Reisende kennen nur einen kleinen Ausschnitt der riesigen Comuna 13 – zwischen der Metrostation und den elektrischen Rolltreppen. Hier erzählt die Stadt die Geschichte, die der rechte Bürgermeister Federico Gutiérrez so gern mag: Wie aus der einst gefährlichsten Stadt der Welt, Heimat des gleichnamigen Drogenkartells, die saubere, grüne, graffitiverschönte Top-Destination der Digitalnomad:innen wurde.

In den 1980ern galt die Comuna 13 als der Ort, aus dem Pablo Escobar unter den armen Jugendlichen seine Auftragsmörder rekrutierte. In den 90ern ließen sich dort die urbanen Milizen der Guerillas nieder, Farc, ELN und CAP. Danach kamen die Paramilitärs, um sie zu bekämpfen und sich den Drogenkorridor in den Bergen zu sichern.
Zwischen 2001 und 2004 führten die staatlichen Sicherheitskräfte 34 Militäroperationen in der Comuna 13 durch, mit dem Ziel, die Guerilla zu besiegen und die Stadt wieder sicher zu machen. Die bekannteste war die Operation Orion von Oktober 2002 bis September 2003. Mit 1.000 Soldaten, Geheimdienstmitarbeitern, der Staatsanwaltschaft und Vermummten. Paramilitärs hatten die Operation vorbereitet, arbeiteten mit Armee und Polizei zusammen, die Menschen willkürlich festnahmen, die dann verschwanden.
Auszug aus einem Gerichtsurteil in Medellín
Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat den kolumbianischen Staat deshalb verurteilt. Kampfhubschrauber schossen aus der Luft, Panzer drangen ins Viertel ein, in dem die Bewohner:innen eingekesselt waren. Am Ende war die Guerilla in der Comuna 13 vernichtet – aber die Herrschaft der Paramilitärs vom Bloque Cacique Nutibara begann.
Für die Bewohner:innen bedeutete das: noch mehr Terror. Oder, in den Worten eines Gerichtsurteils von Medellín, das vor zehn Jahren im Zuge des Demobilisierungsgesetzes für Paramilitärs urteilte: „Die Mitglieder der Bloque Cacique Nutibara holten ihre Opfer aus ihren Häusern, fesselten sie, folterten und/oder erstickten sie mechanisch und zerstückelten, zerteilten und/oder enthaupteten sie. Anschließend begruben sie sie an Orten, die üblicherweise für diesen Zweck genutzt wurden, wie La Escombrera.“
Laut Berichten der Sucheinheit nach Verschwundenen sind in der Comuna 13 in den 40 Jahren vor dem Friedensabkommen rund 500 Menschen gewaltsam verschwunden – allein im Jahr 2002 rund 20 Prozent, mit Abstand die meisten. Laut Aussagen verschiedener Paramilitärs sollen rund 70 in der Escombrera begraben sein.
Seit über 20 Jahren nicht geschwiegen
Margarita Restrepo hat sich die Lippen rot geschminkt und ein buntes Oberteil mit Glitzer übergeworfen beim Hausbesuch im Stadtteil, der ungenannt bleiben soll. Mehrfach musste sie wegen Drohungen umziehen. Seit über 20 Jahren will sie dennoch nicht schweigen. Sie engagiert sich in der Gruppe Mujeres Caminando por la Verdad – Frauen marschieren für die Wahrheit.
In der haben sich Angehörige aus der Comuna 13 vereinigt, um die Wahrheit über die Verbrechen ans Licht zu bringen – von Vergewaltigungen bis Verschwindenlassen. Sie sind Mütter, Ehefrauen, Schwestern, Töchter von Verschwundenen – und mittlerweile sogar Enkel. Die Jüngste ist 13 Jahre alt.
Ihr immer noch mächtigster Gegner: Ex-Präsident Álvaro Uribe, der kurz vor der Operation Orion ins Amt kam, sie anordnete und sich auf die Fahnen schrieb, mit seiner „demokratischen Sicherheit“ die Ordnung im Land wieder herzustellen. Zu einem hohen Preis: Unter seiner Regierung ermordeten staatliche Sicherheitskräfte unter anderem Unschuldige und verkleideten sie als Guerilleros, um Erfolge vorzutäuschen, so genannte falsos positivos.
Margarita Restrepo ist mehrfaches Gewaltopfer. Ihr Mann wurde verschleppt und ermordet. Er hatte gesehen, wie Polizisten einen Jungen mitnahmen, der nie wieder auftauchte. Restrepo fand ihn auf einem Friedhof in Medellín. „Zumindest glaube ich das.“ Dann haben Kriminelle ihren Sohn Steven erschossen, mitten in der Stadt. Da war er 17.
Und schließlich Carol Vanessa. Am 25. Oktober 2002 war sie mit zwei Freunden für einen Besuch in die Comuna 13 gegangen, aus der die Familie zuvor geflohen war, und kam nie wieder. Margarita Restrepo suchte die Leichenhallen ab, reiste durchs Land. Bis Bewohner:innen der Comuna 13 ihr erzählten, sie hätten Carol Vanessa und ihre beiden Freunde hoch zur Escombrera gebracht. Von ihren sechs Kindern sind der 62-Jährigen vier geblieben – und ein Enkel, den sie wie ihr siebtes aufzog.
Die Fläche in der Escombrera, wo sie die Menschen zu finden hoffen, ist mittlerweile 7.000 Quadratmeter groß. Schräg oberhalb von ihr ist die Plattform der Angehörigen. Ein paar Container, ein offenes Zelt und ein Aussichtspunkt, von dem aus sie die Ausgrabung verfolgen können. Es sind fast ausschließlich Frauen. Jeden Tag fahren Autos mit Sondergenehmigung im Wechsel etwa zehn Frauen durch das Gelände der Baufirma hier hoch.
Adriana Arboleda, Anwältin
Dort oben sitzen sie jetzt unterm Zeltdach und hantieren mit Heilkräutern. Eine Psychologin der Stadt Medellín und eine Psychologin der Corporación Jurídica Libertad begleiten sie. Auch ein Sanitäter ist immer dabei und misst vor der Abfahrt allen den Blutdruck. Das Warten, das Trauern, das Bangen geht an die Substanz.
„Für die Frauen ist das emotional und körperlich sehr anstrengend. Es ist für sie eine große Freude, die menschlichen Überreste zu finden – aber gleichzeitig sind es schockierende, sehr intensive Momente“, sagt Adriana Arboleda. Als in der Escombrera die ersten menschlichen Überreste gefunden wurden, überlebte eine alte Dame die Aufregung nicht. Sie war starb zwei Tage später.

Nach 146 Tagen Graben wurden sie fündig. Am 18. Dezember 2024 stießen sie auf den ersten Beweis für das, was die Mütter immer gesagt hatten: die Überreste zweier Menschen. Eine junge Frau, die auf dem Weg zum Treffen einer Jugendsportgruppe war und dort von Paramilitärs verschleppt wurde. Und ein 28-jähriger Mann, der geistig und körperlich behindert war.
Beide stammten aus armen Vierteln. „Keines der beiden Opfer hatte Vorstrafen, war Gegenstand von Ermittlungen oder Verurteilungen oder in Geheimdienstakten erfasst“, heißt es in der Pressemitteilung des Sondergerichts.
Das war Richter Gustavo Salazar wichtig: „Die extreme Rechte hat immer gesagt: Wenn sie dort begraben sind, dann aus einem bestimmten Grund. Das heißt, sie waren Kriminelle, Guerillakämpfer, Milizionäre oder Drogenabhängige. Aber wenn jemand körperlich und geistig behindert war, konnte er nicht am Krieg teilnehmen. So einfach ist das.“
Seither haben sie mindestens vier weitere Verschwundene hier gefunden. Im Januar 2025 zwei junge Männer, einfache Arbeiter. Und Mitte Juli noch einmal zwei Personen, den Körper der jungen Frau, die Carol Vanessa sein könnte, und einen Mann. Mindestens – denn beim jüngsten Fund ist noch nicht klar, zu wie vielen Menschen die Knochen gehören. Vier Opfer konnten bisher identifiziert werden. Drei von ihnen hat das Sondergericht bereits feierlich den Angehörigen übergeben.
Die bisherigen Funde und das Datum des Verschwindens belegen: „Seit Juli 2002 wurde hier gefoltert, gemordet und begraben“, sagt Richter Gustavo Salazar. Über die ersten vier identifizierten Menschen weiß man, dass sie an Schussverletzungen starben. „In mindestens einem Fall gibt es ausreichende Beweise dafür, dass das Opfer in einen Zustand völliger Wehrlosigkeit gebracht und misshandelt wurde, wobei auch Folter nicht ausgeschlossen werden kann.“ Mindestens zwei wurden an Ort und Stelle hingerichtet.
Der erste Fund in der Escombrera schlug in Kolumbien ein wie eine Bombe. Ein Spruch war plötzlich überall: „Las cuchas tienen razón“ – die alten Frauen haben Recht: Mütter wie Margarita Restrepo. An der Hauptstraße von Norden nach Süden malten Künstler:innen und Aktivist:innen den Spruch in Riesenbuchstaben auf eine Betonwand. Dazu Margarita Restrepo mit erhobener Faust und einem Bild ihrer Tochter – und ein Porträt von Kolumbiens Ex-Präsident Álvaro Uribe über Totenschädeln.
„Dieses Wandbild bekräftigte, dass wir nicht verrückt waren, nicht gelogen haben, dass es wirklich dort Tote gab“, sagt Margarita Restrepo. All das hatten sich die Mütter über Jahrzehnte anhören müssen von denen, die nicht wollten, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Bürgermeister Federico Gutiérrez, ein parteinaher Verbündeter des Ex-Präsidenten Uribe, ließ das Wandbild übermalen.
Die Empörung darüber war riesig, zumindest bei einem Teil der Gesellschaft. „Die Mutter ist eine Respektsperson. Niemand legt sich mit der Mutter an“, so Richter Salazar. Nun wurde der Spruch erneut gemalt. Diesmal nicht nur in Medellín, sondern auch in anderen kolumbianischen Städten, im Ausland, ja sogar in Berlin.
„Das gewaltsame Verschwindenlassen war nie ein bedeutendes Verbrechen in Kolumbien, anders als die Entführungen“, erklärt Adriana Arboleda. Entführungen wurden traditionell von der Guerilla begangen, Menschen verschwinden lassen war die Handschrift der Paramilitärs. Und die arbeiteten im bewaffneten Konflikt mit den Reichen und Mächtigen und dem Staat zusammen.

„Warum hat die Staatsanwaltschaft nicht nach den Verschwundenen der Comuna 13 gesucht?“, fragt Arboleda. „Weil sie nicht wollte. Weil dahinter mächtige Personen steckten, weil wir hier Militäroperationen angeprangert haben, die vom Präsidenten Álvaro Uribe angeordnet worden waren; weil Mario Montoya Uribe, der sie befehligte, später Generalbefehlshaber der Armee wurde.“
Die Menschen sollten sterben – und sie mussten verschwinden, damit die Mär von der neuen demokratischen Sicherheit und vor allem der verbesserten Mordstatistik in Medellín keinen Knacks bekam. So sagte ein Gericht in Medellin schon 2015, dass es Beweise dafür gebe, dass „das Verschwindenlassen von Personen ein Mittel war, um die Mordrate in der Stadt nicht weiter ansteigen zu lassen … da die Verschwundenen nicht gezählt wurden, die Leichen hingegen schon.“
Die Knochen der Leichen werden untersucht
Auf der mittlerweile bloßgelegten Fläche steht der Kleinbagger und zieht seine Schaufel in einem der abgemessenen Rechtecke zu sich. Daneben, unberührt vom irren Panorama der Stadt im Tal, steht ein Anthropologe und schaut in das Rechteck, bis auf die Augen vermummt gegen die brennende Tropensonne.
Am blauen Himmel kreist ein Geier so nah, dass die weißen Flügelspitzen zu erkennen sind. Die Zacken des Baggers sind abgedeckt, die Kante gerade. Das Team ist auf einem Niveau, wo Vorsicht angebracht ist. Jedes Stück Plastik kann ein Hinweis sein – etwa Verpackungen mit Haltbarkeitsdatum, alte Telefon- oder Kreditkarten oder Süßigkeiten, die es nur in einer bestimmten Zeit gab.
Unter den Augen der Angehörigen arbeitet Carlos Bacigalupo, 59 Jahre alt, kurz rasierte Haare unter der Schiebemütze, tiefer Bass. Der Peruaner ist seit mehr als 25 Jahren in der forensischen Anthropologie tätig, zum Beispiel bei der Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien.
Seit 2014, als die Friedensgespräche mit der Farc-Guerilla begannen, ist er in Kolumbien. Auf dem Balkan verliebte er sich in eine kolumbianische forensische Anthropologin. In der Escombrera übernimmt er Aufgaben der Kriminalpolizei als der Fachmann der Forensischen Technischen Unterstützungsgruppe (Gatef) der Ermittlungs- und Anklageeinheit des Sondergerichts.
Bacigalupo klickt sich durch Folien auf seinem Laptop. Fotos, Diagramme mit einem Gewirr aus farbigen Linien, Querschnitte. Aus topografischer Dokumentation, Satellitenbildern, Positionsbestimmung mit einem globalen Navigationssatellitensystem – aus all dem haben die Fachleute rekonstruiert, wie es hier aussah, als hier Menschen begraben wurden. Sie waren mit ehemaligen Paramilitärs vor Ort.
Gustavo Salazar, Richter des Sondergerichts für Frieden
Eiskalt seien die gewesen, sagt Bacigalupo, hätten ohne Emotionen gesprochen. Er klickt durch Satellitenbilder. „Hier ist das Grün auf einmal heller, was auf weniger Vegetation hindeutet. Das ist uns direkt aufgefallen.“ Da hat sich also der Boden verändert. Es könnte ein Hinweis sein, dass hier jemand vergraben wurde. Wann immer der Bagger auf etwas stößt, das ein Mensch gewesen sein könnte, steht alles sofort still.
Die forensischen Anthropolog:innen legen die gefundenen Knochen zusammen und bestimmen: Wie viele Menschen waren das einmal? Sie interpretieren, was sie an der Fundstelle sehen. In der Rechtsmedizin suchen sie mittels Autopsie nach der möglichen Todesursache, nach Spuren an den Knochen, was den Menschen angetan wurde.
Parallel dazu werden die Zähne studiert und das Erbgut mit den gesammelten DNS-Proben der Angehörigen verglichen. Am wertvollsten sind die der Mütter. „Die Mütter erinnern sich an absolut alles. Es ist beeindruckend. Ihm fehlte da unten ein Zahn. Oder: Er hatte ein wunderschönes Lächeln“, sagt Richter Gustavo Salazar.
Wenn sie etwas finden, müssen sie die menschlichen Überreste am selben Tag bergen und in die Rechtsmedizin bringen und wenn es bis spät in die Nacht dauert. „Wir haben große Angst, dass jemand die Beweise stiehlt“, sagt Margarita Restrepo. Der Baufirma Condor, der heute das Terrain gehört, misstrauen die Frauen. „Das war eine der Firmen, die ihre Tore öffnete und erlaubte, dass hier Körper hingebracht wurden. Condor hat uns Schaden zugefügt.“

Bacigalupo sagt, dass neben der Bürokratie und der Feinarbeit bei der Ausgrabung an sich die emotionale Seite schwierig sei. „Wir arbeiten permanent mit den Opfern. Die Frauen passen immer auf, was wir tun, was wir nicht tun.“ Jeden Tag bringt er sie auf den neuesten Stand, erklärt. Die Frauen hören zu, fragen nach. Und notieren fürs tägliche Protokoll. Beobachten später genau, wo die Arbeiter langgehen.
„Man muss ihre Angst verstehen“, sagt Bacigalupo. „Und für uns ist es auch schwierig, weil wir auch diese Beklemmung spüren, dass wir bloß alles richtig machen – und gleichzeitig finden müssen, was wir suchen.“ Seit dem jüngsten Fund kann er wieder nicht schlafen. Es ist die Sorge, nichts zu finden, sagt er.
Margarita Restrepo kommt unbegleitet zur Escombrera. Ihre Kinder würden am liebsten alles vergessen. „Es tut ihnen weh. Sie sagen, dass sie es nicht aushalten, mich weinen zu sehen. Und sie haben Angst um mich“.
Zwischen Angst und Hoffnung
Wenn sie nicht mehr kann, legt sie sich auf das Sofa in dem fensterlosen Zimmer, das sie zu einem Schrein aus Erinnerungen ihrer Suche, ihres Kampfes gemacht hat, mit Fotos und Urkunden und einer riesigen selbstbestickten Decke an der Wand, die all die Grausamkeiten in der Comuna 13 zeigt, den Hubschrauber der Armee, die Toten, die Menschen, die mit Lastwagen ihre Habe wegschaffen, die Paramilitärs, ihre Tochter. Dann weint sie, bis der Schlaf sie überwältigt.
Sie hat für ihre Tochter Gedichte geschrieben. Eins lautet: „Ich weiß, dass du dort bist und ich kann dich nicht sehen. Aber die Erinnerung daran lebt noch, wie die Trümmer dein Bild auslöschen könnten hinter den Tränen, die meine Augen bedecken.“
Margarita Restrepo weiß noch nicht, was passieren wird, wenn die Überreste der Leiche wirklich zu Carol Vanessa gehören. Sie hat Angst. Und gleichzeitig hofft sie fieberhaft, dass sie es ist. Und dass Gott ihr die Kraft und Gesundheit gibt, das auszuhalten. „Das Verschwindenlassen verändert dich als Menschen. Ich suche heute nicht nur nach Carol, sondern nach allen Verschwundenen.“
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