Kriegsgefahr in Europa: Begrabt den letzten Sommer in Frieden
Die Angriffe auf den Nato-Luftraum fühlen sich an, als würden wir nicht nur die warmen Sonnenstrahlen verabschieden. Provokationen werden Alltag.

Dieser Sommer war der des Frauenfußballs, des Regens, der Labubus. War 2025 auch der letzte Sommer in Frieden? 19 russische Drohnen verletzen Anfang September den polnischen Luftraum. Zu diesem Zeitpunkt ist es der schwerwiegendste Vorfall dieser Art seit dem Beginn von Russlands Angriffskrieg in der Ukraine. Beunruhigt? Es geht noch weiter:
Drohnensichtungen im Donaudelta in Rumänien an der ukrainischen Grenze, über Regierungsgebäuden in Warschau, den Flughäfen in Oslo und Kopenhagen und weiteren Flughäfen Dänemarks. Dazu kommen drei russische Jets, die in den estnischen Luftraum eindringen.
Polen und Estland suchen Unterstützung: Zweimal kommt die Nato zu Beratungen nach Artikel 4 zusammen, wo über weitere Schritte der Bündnispartner beraten wird. Das letzte Mal ist das kurz nach dem Beginn der Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022 passiert. Insgesamt neunmal kam es seit der Gründung 1949 zu Beratungen. Das passiert, wenn die „Unversehrtheit des Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht“ ist. Das war zweimal in den vergangenen zwei Wochen der Fall.
Kein Wunder, dass das mindestens ein mulmiges Gefühl, wenn nicht Angst auslöst. Wie werden sich die russischen Provokationen in den kommenden Tagen bis Monaten entwickeln, und was bedeutet es für uns? Klar ist: Nach dem Ausruf der Scholz’schen Zeitenwende hat sich im Jahr 2025 die Sicherheitslage massiv verschärft. Und doch sind Prophezeiungen, wann denn der Frieden in Europa enden würde, fehl am Platz. Denn der Frieden endet nicht mit der Schwimmbadsaison.
Wir waren gewarnt
Doch woher kommt die Angst vor dem letzten unbeschwerten Sommer? Geprägt hat die Schwarzmalerei der Militärhistoriker Sönke Neitzel in einer Diskussionsrunde Anfang März. Für viele Sicherheitsexperten waren die zwei folgenden Faktoren ausschlaggebend für einen alarmierenden Blick auf die Sicherheitslage in Europa: Zum einen machte die neue US-Regierung unter Präsident Donald Trump klar, dass die Zeit der engen Zusammenarbeit zwischen den USA und Europa vorbei ist. Die Weltordnung, wie wir sie kannten, veränderte sich mit der Rede des US-Vizepräsidenten J. D. Vance auf der Münchener Sicherheitskonferenz, in der es nicht um die anhaltenden Krieg in der Ukraine ging, sondern Vance die angeblich fehlende Meinungsfreiheit in Westeuropa beklagte.
Dazu kam die öffentliche Bloßstellung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei seinem Besuch im Weißen Haus Ende Februar. Ausschlaggebend für die „Letzter Sommer“-Panik war auch das angekündigte Militärmanöver von Belarus und Russland im Herbst 2025. Vor vier Jahren nutzte Russland das Manöver „Zapad“ – russisch für Westen –, um Truppen an der ukrainischen Grenze zu stationieren und ein halbes Jahr später anzugreifen. Auch Selenskyj warnte im Februar in München vor der Militärübung. „Vielleicht sind die Truppen in Belarus für uns bestimmt, vielleicht auch für euch.“ Das solche Warnungen das Kriegs-Kopfkino anschmeißen, ist menschlich. Denn Angst ist menschlich.
Nicht alle gehen damit gleich um. Auf Tiktok und Instagram fragen Memes, ob deine neuen trendy Puma-Ballerinasneaker auch für den Schützengraben taugen. Neitzel versuchte die Angst zu transformieren: Er habe mit seiner Aussage damals „einen Weckruf“ leisten wollen, sagte er. Doch wach müssten wir bereits seit Februar 2022 sein. Denn wer denkt, Europa verabschiede noch müde die letzten Sommerstrahlen und den Frieden, nimmt eine egoistische mittel- und südeuropäische Haltung ein. Egal ob an die Ukraine grenzend oder nicht: Der Krieg hat Europa erreicht und die Bedrohungslage verschärft.
Ein Krieg beginnt nicht erst mit dem ersten Panzer, der über die Landesgrenze rollt. Die Gefahren durch russische Spionage, Sabotage und Desinformation sind mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine seit 2022 stark gestiegen. Dänemark warnt nach den vergangenen Drohnensichtungen vor einem „hybriden Angriff“. „Das sagt etwas darüber aus, in was für einer Zeit wir leben und worauf wir als Gesellschaft vorbereitet sein müssen“, so die dänische Regierungschefin. Auch in Deutschland komme es immer wieder zu Drohnensichtungen und Versuchen russischer Einflussnahme, Freibad
warnte der Verfassungsschutz im Mai 2025. Bereits im November 2024 informierte das Amt über fremde Staaten, die die Bundestagswahl beeinflussen wollten. Laut Correctiv-Recherchen versuchte Russland während des Wahlkampfs durch eine russische Einflussoperation mit dem Namen „Storm-1516“, Desinformation und Deepfakes auf Fake-Nachrichtenseiten zu streuen.
Low-Level-Agenten
Darunter: Missbrauchsvorwürfe gegen Robert Habeck, Korruptionsvorwürfe gegen Annalena Baerbock und Nachrichten über Militäreinsätze der Bundeswehr in Osteuropa. Wir erinnern uns auch an die Spiegel-Recherche zu sogenannten Low-Level-Agenten, die, getarnt als Klimaaktivist*innen, Autos mit grünen Stickern beklebten und Bauschaum in Auspuffe sprühten.
Nun töten Desinformationskampagnen normalerweise keine Menschen, doch sie verbreiten Misstrauen unter der Bevölkerung und gefährden die Demokratie. Erst in dieser Woche gab eine Bertelsmann-Studie bekannt, dass mehr als 70 Prozent der Befragten von 15 bis 27 Jahren sich über soziale Medien informieren: die kommenden Generationen also, die sich mit einer neuen Weltordnung und multipolaren Krisen auseinandersetzen müssen.
Besonders die Nutzung von Wegwerfagenten ist noch relativ neu und wird seit dem Beginn der Vollinvasion häufiger beobachtet. Der wohl bisher bekannteste Fall war der missglückte Anschlag vergangenen Sommer am Flughafen Leipzig/Halle. Das brennende Paket geht in der Welle der besorgniserregenden Nachrichten fast schon unter. Doch nur eine zufällige Verspätung verhinderte damals laut Verfassungsschutz einen Flugzeugabsturz.
Was also tun mit der aktuellen Bedrohungslage? Angst und Panik sind die schlechtesten Gefährten. Es braucht mehr Aufklärung, ein Bewusstsein dafür, dass Angriffe auf die Demokratie in Deutschland und Europa nun zu unserem Alltag gehören. In den baltischen und skandinavischen Staaten weiß man das schon. Begrabt also den Sommer in Frieden, ruft lieber den Herbst des Katastrophenschutzes aus, der kritischen Infrastruktur, der Cybersicherheit. Das ist zwar weniger catchy und romantisch, doch bringt uns weiter.
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