Michael Barenboim über Kulturboykott: „Es geht um Mitschuld“
Der Musiker Michael Barenboim wirft Israel einen Genozid vor und ruft zur Gaza-Demo auf. Ein Gespräch über Verantwortung, Schweigen – und rote Linien in der Kunst.
taz: Herr Barenboim, der israelische Dirigent Lahav Shani wurde jüngst von einem Musikfestival im belgischen Gent ausgeladen. Ihm wurde vorgeworfen, seine Haltung zur israelischen Regierung sei unklar. Wie bewerten Sie das als Musikerkollege?
Michael Barenboim: Ich habe mir die jeweiligen Statements angeschaut. Das sollte man immer tun. Das Festival hat die Absage damit begründet, dass sich Shani in seiner Funktion als Chef des Israel Philharmonic Orchestra nicht oder nicht genügend von der israelischen Regierung distanziert hat. Das ist so etwas wie ein Staatsorchester, auch wenn es formal eine gemeinnützige Organisation ist – es repräsentiert Israel und bekommt auch staatliche Zuschüsse.
Der Violinist und Bratschist Michael Barenboim lebt seit 1992 in Berlin. Er ist Konzertmeister des von seinem Vater Daniel Barenboim mitgegründeten West-Eastern Divan Orchestra.
Lahav Shani hat darauf geantwortet, er trete für Versöhnung zwischen „beiden Seiten“ ein. Er hat in seinem Statement die Seite, die in Gaza gerade vor ihrer Auslöschung steht, die Palästinenser, aber mit keinem Wort erwähnt. Das ist eine vertane Chance, denn damit hat er dem Festival alle Argumente für seine Ausladung geliefert. Das ist sehr schade. Denn er ist ein fantastischer Musiker – ich habe früher auch schon mit ihm gespielt. Aber darum geht es hier nicht.
taz: Worum geht es denn? Bundeskanzler Friedrich Merz, Kulturstaatsminister Wolfram Weimer und andere sprechen bei der Ausladung von Antisemitismus.
Barenboim: Entweder, sie haben alle das Statement des Festivals nicht gelesen, oder sie haben es absichtlich missverstanden. Da steht ja ganz deutlich, dass das nichts mit seiner jüdischen Identität zu tun hat. Das hätte auch seinen Vorgänger beim Israel Philharmonic Orchestra treffen können, Zubin Mehta – der ist nicht jüdisch. Das heißt, es hat mit Antisemitismus nichts zu tun, sondern mit dem Vorwurf der Mitschuld am Genozid.
taz: Sie sprechen von Genozid, andere aber bezweifeln, dass Israels Regierung in Gaza einen Völkermord begeht.
Barenboim: Mein Eindruck ist, dass darüber unter Experten, Menschenrechtsorganisationen und neuerdings auch im UN-Menschenrechtsrat weitgehend Konsens herrscht. Die deutsche Politik leugnet das, weil sie eine Mitschuld trägt. Aber ansonsten, glaube ich, ist das – jedenfalls außerhalb Deutschlands – nicht mehr umstritten.
taz: Einen Kulturboykott halten Sie in dieser Situation für das richtige Mittel?
Barenboim: Die Frage ist immer: Was erreiche ich damit? Das Ziel beim Kulturboyott ist, einem Staat, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder einen Völkermord begeht, die Legitimität zu entziehen. Hätten wir in den 1990er Jahren ein Ensemble aus Ruanda empfangen, welches das Regime der Hutus repräsentiert hätte? Oder ein Orchester, dessen Dirigent sich nicht vom Völkermord von Srebrenica distanziert hätte? Ich glaube nicht. Es gibt ja heute noch Leute, die den Genozid an den Bosniaken leugnen.
taz: Sie meinen Leute wie den Schriftsteller Peter Handke, der sogar den Literaturnobelpreis erhalten hat.
Barenboim: Das finde ich total krass. Ich meine, Völkermord ist der Versuch, eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe als solche auszulöschen. Das haben wir doch alle gelernt. Die Leugnung des Völkermords trägt zu dieser Auslöschung bei.
taz: Russlands und Israels Vorgehen lassen sich nicht direkt vergleichen. Doch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben die Münchner Philharmoniker dem russischen Dirigenten Waleri Gergijew wegen dessen Putin-Nähe die Zusammenarbeit aufgekündigt. Zu Recht?
Barenboim: Die Münchner Philharmoniker haben ihren Schritt mit dem Argument begründet, dass sich Gergijew auf Nachfrage nicht von dem Regime in Russland distanziert hat. Das ist in der Tat das gleiche Argument wie das des Festivals in Gent – insofern kann man nicht das eine gut finden und das andere schlecht. Ich finde aber, ein Kulturboykott macht nur Sinn, wenn er sich gegen Institutionen richtet. Das trifft dann natürlich Individuen. Aber so ist das Leben: Jeder trifft seine Entscheidungen und trägt seine Verantwortung. Man muss ja nicht für Israel beim ESC antreten, zum Beispiel. Deswegen sollte die Frage sein: Repräsentiert eine Person die Institution eines Landes? Bei Gergijew kann man argumentieren, dass durch seine Leitung des Mariinsky Theaters in Sankt Petersburg eine institutionelle Verbindung besteht, ähnlich wie bei Lahav Shani und dem Israeli Philharmonic Orchestra. Aber Individuen als Individuen zu boykottieren finde ich ein bisschen albern.
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taz: Sie sind gegen den Boykott von Individuen, aber für den Boykott von staatlichen Institutionen.
Barenboim: Es gibt sogar israelische Künstler und Wissenschaftler, die einen Boykott ihres Landes fordern – weil sie sagen: Wir alleine können nichts ändern. Wir brauchen eure Unterstützung. Die wollen ja nicht, dass man nicht mehr mit ihnen redet, sondern sie wollen alles dafür tun, dass der Genozid in Gaza endet. Und was wäre die Alternative? Wollen wir sagen: Künstler sollen ihre Kunst machen und es ist uns egal, was sie sagen und denken? Ziehen wir irgendwo eine rote Linie? Ich finde, bei Völkermord sollte man eine rote Linie ziehen.
taz: Wäre es richtig, deutsche Künstler auszuladen, weil Deutschland Israels Krieg in Gaza unterstützt?
Barenboim: Es geht nicht um die Herkunft, sondern um Institutionen. Es gibt ja jetzt schon Bewegungen wie Strike Germany, die ausländischen Künstlerinnen und Künstlern freundlich abraten, nach Deutschland zu kommen. Der Vorwurf, Mitschuld an einem Völkermord zu tragen, wiegt schwer. Der frühere UN-Botschafter Christoph Heusgen hat kürzlich richtigerweise gesagt, Deutschland könnte wegen Beihilfe zum Genozid in Gaza verurteilt werden. Das hätte massive Konsequenzen für uns alle.
taz: Sie sind seit 2003 Konzertmeister des West-Eastern Divan Orchestra, das zu gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musikern besteht. Ist das nicht ein Gegenmodell zum Kulturboykott?
Barenboim: Es ist etwas anderes. Die Idee ist, dass man nicht nur gemeinsam probt und Musik macht und ansonsten seiner Wege geht, sondern dass ein größerer Austausch stattfindet. Das ist in dieser Form schon einzigartig. Wir haben jetzt neuerdings auch ein gewähltes Orchesterkomitee, das solche Diskussionsformate mitorganisieren soll. Wenn die Probe aufhört und die Diskussion beginnt, dann hat die Bratsche am letzten Pult genauso viel zu sagen wie die Solo-Oboe – da sind alle gleich.
taz: Wie steht die BDS-Bewegung, die für einen Israel-Boykott eintritt, zum West-Eastern Divan Orchestra? Wird das Orchester auch boykottiert, weil dort israelische Musiker mitspielen?
Barenboim: Ich glaube nicht, denn wir sprechen uns ja klar gegen die Besatzung aus. 2005 haben wir ein Konzert in Ramallah gegeben, das sehr viel Aufsehen erregt hat. Aber die Situation ist heute eine andere. Wir sind schon länger nicht mehr im Nahen Osten und in Nordafrika aufgetreten. Wir hatten einige Zeit eine Art Residenz in Buenos Aires, wo wir sehr viel gespielt haben. Ansonsten waren wir zuletzt hauptsächlich in Europa und in den USA unterwegs.
taz: Sie lehren an der Barenboim-Said-Akademie, und waren von 2020 bis 2024 deren Dekan. Wie ist die Stimmung dort seit dem Angriff der Hamas und dem Krieg in Gaza? Welche Diskussionen gibt es?
Barenboim: Innerhalb des Orchesters und an der Akademie gibt es sehr kontroverse Diskussionen. Ich bewundere unsere Studierenden. Die leben ja übers ganze Jahr zusammen, studieren zusammen und schaffen es, diese kontroversen Gespräche zu führen und zugleich ihr Studium zu absolvieren. Die Stimmung ist natürlich sehr bedrückt und die Situation ist schwierig. Aber sie machen das toll.
taz: Welche Rolle spielt Politik – und speziell der Gaza-Krieg – in der klassischen Musikszene?
Barenboim: Angesichts des russischen Einmarschs in der Ukraine haben viele klassische Musiker und Institutionen gezeigt, dass sie sich gerne für Menschenrechte einsetzen wollen. Aber angesichts des Genozids in Gaza und der Massenvertreibung in der Westbank ist es immer noch sehr still. Wenn man sich für die Ukraine einsetzt, dann hat man Rückenwind. Wenn man sich für Palästina einsetzt, bläst einem der Wind direkt ins Gesicht, weil man sich da auch gegen die eigene Regierung stellen muss. Das erfordert viel Kraft, viel Zeitaufwand, und man muss sich ein bisschen etwas trauen. Das tun wirklich nicht viele.
taz: Unter dem Motto „Make Freedom Ring“ organisieren sie mit anderen Künstlerinnen und Künstlern bundesweit Solidaritätskonzerte für Gaza. Warum?
Barenboim: Wir haben die Benefizkonzerte auch deswegen ins Leben gerufen, weil wir von diesem sehr lauten Schweigen in unserer Branche konsterniert waren. Viele Kollegen, die sonst sehr laut sind, hielten sich plötzlich sehr bedeckt. Daran hat sich bis heute wenig geändert, und das ist eigentlich ein Skandal.
taz: Sie rufen auch zur Kundgebung am 27. September in Berlin auf, die von Medico, Amnesty und Eye 4 Palestine organisiert wird. Haben Sie keine Sorge, dass da die falschen Leute mitlaufen?
Barenboim: Was heißt denn die falschen Leute? Ich wurde schon mal gefragt, ab wann es denn zu weit ginge. Ich finde, man darf einen Völkermord einfach nicht unterstützen. Das gilt für Staaten und auch für Individuen.
taz: An früheren Demonstrationen gab es Kritik, weil vereinzelt iranische Fahnen auftauchten oder fragwürdige Slogans gerufen wurden.
Barenboim: Das kann man nicht vollständig ausschließen. Ich stelle es mir schwierig vor, bei so vielen Tausenden Menschen zu garantieren, dass da nicht jemand so eine Fahne schwenkt. Aber was man kontrollieren kann, das ist die Botschaft einer Kundgebung oder Demo. Und diese Botschaft ist klar: Stoppt den Völkermord. Der deutsche Kurs muss geändert werden. Keine Waffen, keine diplomatische Unterstützung, keine juristische Unterstützung, darum geht es. Man muss alles versuchen. Ich versuche hier irgendwie alles. Das Einzige, das ich mir persönlich vorwerfe, ist, dass ich nicht schon früher aktiv geworden bin. Ich hätte viel früher und viel deutlicher gegen Apartheid und Besatzung aktiv sein müssen.
taz: Können Sie die Ängste vor einem wachsendem Antisemitismus nachvollziehen?
Barenboim: Die Sorge kann ich verstehen, aber nur bedingt. Wenn Menschen ein Ende des Genozids und ein Ende der Apartheid fordern, hat das mit Antisemitismus nichts zu tun. Diese Forderungen sind legitim und vom Völkerrecht gedeckt.
taz: Haben Sie selbst Antisemitismus erlebt, und wenn ja, in welcher Form?
Barenboim: Nein, ich kann mich glücklich schätzen, dass ich nie für mein Jüdischsein angegriffen wurde. Ich bin nicht gläubig und praktiziere die Religion nicht, deswegen ist es für mich eher ein kultureller Aspekt meiner Identität. Die Hasskommentare, die mir vorwerfen, ein „sich selbst hassender Jude“ zu sein, kommen ja lustigerweise oft nicht von Juden, sondern von irgendwelchen anderen Leuten.
taz: Sind Sie selbst schon mal ausgeladen worden?
Barenboim: Nein. Aber was ich nicht ausschließen kann, ist, dass ich an manchen Orten nicht mehr eingeladen werde. Es ist natürlich sehr blöd, jemanden einzuladen und wieder auszuladen, wie das in Deutschland oft der Fall war. Klügere Leute machen das nicht so plump, sondern laden bestimmte Leute wie mich einfach nicht mehr ein.
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