Zeitzeuge Stanisław Zalewski: Er sabotierte die Autos der Nazis
Der ehemalige Mechaniker Stanisław Zalewski überlebte drei Konzentrationslager. Nun wird er 100 und noch immer sucht er als Zeitzeuge das Gespräch.

Hunderte Schülerinnen und Schüler sind an diesem Septembertag ins Kino gekommen, um Żelaskos Dokumentarfilm „Botschafter des Erinnerns“ zu sehen und anschließend dem Mann zu begegnen, um dessen Leben es darin geht. Der Saal ist überfüllt, weitere Jugendliche strömen noch herein, während Zalewski bereits seine erste Antwort auf eine Zuschauerfrage formuliert. Einige Stunden später wird er im Rahmen der Verleihung des Wiesenthal-Preises im österreichischen Parlament ausgezeichnet – eine späte Anerkennung seines unermüdlichen Kampfes gegen das Vergessen.
Zalewski war nur 14 Jahre alt, als das Deutsche Reich im September 1939 sein Heimatland Polen überfiel. Der technisch begabte Jugendliche arbeitete in einer Autowerkstatt im jüdischen Viertel Warschaus und kam so früh in engen Kontakt mit der jüdischen Bevölkerung.
Als der Terror begann, schloss er sich dem Widerstand an. Seine Sabotageakte waren ebenso einfallsreich wie gefährlich: Er gab vor, deutsche Autos zu reparieren, manipulierte sie aber so, dass sie nach kurzer Zeit den Geist aufgaben. Diese Form des stillen Widerstands war charakteristisch für den katholischen Polen, der später sagen würde: „Ich bin Automechaniker und gehe sehr technisch an die Dinge heran. Ein Zentimeter ist ein Zentimeter. Ein Stift ist ein Stift.“
Im Oktober 1943 wurde das Schicksal des damals 18-Jährigen besiegelt. Beim Schmieren von Widerstandsparolen wurde er verhaftet. Es folgten 545 Tage in den Konzentrationslagern Auschwitz, Mauthausen und Gusen – Tage, die Zalewski „ganz genau mehrmals durchgezählt“ hat. In Gusen II arbeitete er täglich zwölf Stunden im unterirdischen Stollen „Bergkristall“, wo Teile für die ersten Düsenflugzeuge der Welt produziert wurden.
Stanisław Zalewski
„Weckruf um vier Uhr morgens, um fünf Uhr anziehen, dann zum Frühstück eine Tasse schwarzen, bitteren Kaffee“, schildert Zalewski den aufmerksam zuhörenden Schüler:innen. „Dann wurde man in die Waggons verfrachtet und zur Arbeitsstelle gebracht.“ Die Fahrt mit der Schmalspurbahn dauerte lange, weil sie laut Zalewski zu Fuß von den SS-Männern begleitet wurde.
Die Nummer, die ihm im Oktober 1943 auf den linken Unterarm tätowiert wurde, ist noch heute sichtbar. „Jeden Abend vor dem Schlafengehen sehe ich diese Nummer. Da werden die Erinnerungen wach“, erzählt er mit ruhiger Stimme. „Aber ich will mich nicht zurückerinnern. Ich will an die Zukunft denken, ich will positiv denken.“
Auf die Frage eines Schülers, wie er es mental geschafft habe weiterzuleben, antwortet Zalewski nach langem Nachdenken: „Das ist eine Frage, die man vergleichen könnte mit dem Studium des Kosmos.“ Er macht eine Pause, sammelt sich und erklärt dann: „Ich habe mir jeden Abend wie ein Mantra vorgesagt: Ich muss überleben. Ich muss zurück zu meiner Familie, zu meiner Stadt, zu meinen Freunden, denn ich habe noch eine Aufgabe zu erfüllen.“
Am 5. Mai 1945 wurde das Lager Mauthausen-Gusen schließlich von der US-Armee befreit. Zalewski kehrte am 22. Juli nach Warschau zurück, fand aber nur Trümmer vor. Mehr als 90 Prozent der Stadt waren zerstört worden. Seine ersten Schritte führten ihn über die einzige verfügbare Pontonbrücke in die Altstadt. „Ich stand dort und erstarrte förmlich. Soweit das Auge reichte: Schutt, Schutt, Schutt.“ Seine Mutter und sein Bruder hatten die Gefangenschaft nicht überlebt.
Die Zeit nach der Befreiung war nicht weniger schwierig. „Direkt nach den Nazis kamen ja die Kommunisten“, erklärt sein Sohn Hubert, der mit dem Zeitzeugen nach Wien gekommen ist, im Gespräch mit der taz. „Mein Vater musste lügen, dass er aus Auschwitz zurückgekehrt ist. Kein Wort über Österreich oder Mauthausen, sonst hätten sie ihn gleich verhaftet.“ Ein Foto zeigt Zalewski damals in amerikanischer Uniform: „Das war mein ganzer Besitz“, erinnert er sich. „Ich hatte sonst nichts, als ich nach Kriegsende nach Polen zurückkehrte.“
Jahrzehntelang sprach Stanislaw Zalewski nicht über das Erlebte – auch nicht in der eigenen Familie. „Meine Erinnerungen habe ich in eine wasserdichte Kiste eingepackt, mit einer Schnur umwickelt und im Wasser versenkt. Und ich ziehe sie gelegentlich hoch, werfe sie dann aber wieder weg“, beschreibt er seine Art, mit der Vergangenheit umzugehen. Diese mechanische und distanzierte Herangehensweise half ihm zu überleben.
Widerwilliges Gedenken in Österreich
Erst 1998, auf Initiative seines Sohnes Hubert, kehrte Zalewski erstmals nach Österreich zurück. „In der Familie wurde über das Thema nicht geredet“, erinnert sich Hubert Zalewski. „Als ich als Schüler ein KZ besuchte und zu Hause darüber reden wollte, sagte meine Mutter: Schluss damit. Mein Vater saß dabei und sagte nichts.“
Der Sohn fuhr zunächst allein nach Mauthausen und Gusen, um zu sehen, was seinen Vater dort erwarten würde. Was er antraf, schockierte ihn: Während Mauthausen als Gedenkstätte erhalten war, fand sich in Gusen nichts, was an die KZ-Zeit erinnerte. „Da waren überall Villen, Häuser, schöne Blumenbeete“, erzählt Hubert Zalewski. Später kam er dann zusammen mit seinem Vater. „Ich habe ihn gefragt: Papa, wo ist der Appellplatz? Wo ist das Krematorium? Wo die Todeswand? Und er wusste es nicht.“ Alle Spuren kamen im Lauf der Jahre abhanden.
Erst durch jahrelangen Druck polnischer Überlebender und ihrer Angehörigen entstand in Gusen eine Gedenkstätte. Die polnische Regierung hatte gedroht, das Gelände zu kaufen, falls sich Österreich nicht um ein würdiges Gedenken kümmere. Erst daraufhin kam Bewegung in die Sache. Viel zu spät, wie Stanisław Zalewski betont: „Für die, die es erlebt haben und sich erinnern, ist das nicht mehr wichtig. Aber für die Nachgeborenen.“ Im Vergleich zu Deutschland sei die Aufarbeitung in Österreich lange unzureichend gewesen. Trotz mittlerweile zahlreicher Empfänge und Ehrungen hat Zalewski bis heute keine offizielle Entschuldigung Österreichs erhalten.
Die Wiener Regisseurin Magdalena Żelasko, gebürtig aus Krakau, hatte Zalewski vor fünf Jahren kennengelernt. Sie konnte nicht glauben, dass noch niemand einen Film über ihn gemacht hat. „Er hat eine Biografie, die für fünf Menschenleben reicht“, sagt sie. Ihr im Vorjahr erschienener Dokumentarfilm „Botschafter des Erinnerns“ behandelt nicht nur die Zeit in den Konzentrationslagern, sondern auch Zalewskis Widerstandstätigkeiten im Ghetto und seine heutige Arbeit als Zeitzeuge. Der Film ist derzeit nur im Rahmen von Schulvorführungen zu sehen, soll demnächst aber auch als Stream verfügbar sein.
Stanisław Zalewski
Seit seiner Pensionierung engagiert sich Zalewski intensiv in der Erinnerungsarbeit. 2008 übernahm er die Polnische Vereinigung der ehemaligen Häftlinge politischer Gefängnisse und Konzentrationslager Hitlers und wurde Vizepräsident des Auschwitz-Komitees. Unermüdlich besucht er Schulen und Gedenkveranstaltungen. Zu aktuellen politischen Fragen äußert sich Zalewski nicht, ihm geht es um die Vergangenheit und was man daraus lernen soll – auf einer persönlichen Ebene. Seine Botschaft ist stets dieselbe: Nur mit Verständnis und Respekt den Mitmenschen gegenüber habe die Menschheit eine Zukunft.
Was ihm nach dem Krieg die Kraft gab, weiterzuleben? „Das ist die 1-Millionen-Euro-Frage“, antwortet er schmunzelnd. „Ich muss wieder als Mechaniker antworten: Damit das Auto losfährt, braucht es den richtigen Treibstoff. Und mein Treibstoff war Hubert, mein Sohn.“ In seinem Leben habe er gelernt, dass das Glück nicht vom Himmel kommt. Man müsse dafür arbeiten. „Glück kann nur ein anderer Mensch geben. Nicht Schlösser, nicht Brillanten, nicht Boote, nicht Autos. Nur ein anderer Mensch.“
Obwohl die Zeitzeugen immer weniger werden, sieht Zalewski seine Mission noch lange nicht beendet. Mit bald 100 Jahren plant er bereits weitere Gespräche mit österreichischen Schülern – diesmal online aus Warschau. Seine Energie scheint unerschöpflich, wenn es darum geht, die Erinnerung wachzuhalten. Den Jugendlichen im Kino ruft er am Ende zu: „Ihr seid die Zukunft. Es ist eure Aufgabe, dass das nicht wieder passiert. Der Mensch muss für den Mitmenschen immer ein Mensch sein.“ Und dann fügt der gläubige Mann noch ein „Amen“ hinzu: „Es geschehe.“
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