Europäische Migrationspolitik: Eine Frage der Sicherheit
Die Ankunft der Flüchtlinge traf die EU 2015 unvorbereitet. Das löste politische Konflikte aus – bis heute.
S eit 2015 gehören Flucht, Vertreibung und Grenzschutz zu den wichtigsten Themen der globalen Sicherheitspolitik. Sie haben in den vergangenen zehn Jahren enorme Bedeutung erlangt und wirken sich heute auch in anderen Bereichen der Weltpolitik in der Wirtschaft, der Kultur aus. Heute prägen sie die soziale und politische Situation insgesamt.
Einige Staaten belasten die Ankünfte die Geflüchteten, während andere Länder sie ausnutzen, um Druck auf andere Staaten auszuüben und politische Prozesse zu beeinflussen. In mehreren Ländern nutzen radikale politische Gruppen die durch die Flüchtlingskrise entstandenen Spannungen für ihre eigenen Zwecke.
Die Folgen der Fluchtbewegungen und der mit ihr verbundenen Spannungen betreffen somit das Leben jedes Einzelnen von uns – und sie formten politische Prozesse neu: Es entstanden neue Diskussions- und Verhandlungsformate in internationalen Organisationen. Es kam zu Spannungen und Konflikten zwischen Staaten. Und es kam zu Konflikten in der Innenpolitik vieler Länder, die mit Radikalisierungstendenzen einhergingen.
Die große Zahl an Flüchtlingen insbesondere aus Syrien, Afghanistan und einer Reihe afrikanischer Länder, die seit 2015 nach Europa gekommen sind, haben eine Reihe systemischer Schwächen in der EU offenbart. Es wurde deutlich, dass es gravierende Mängel bei der Aufnahme von Flüchtlingen, dem Registrierungssystem und den Möglichkeiten zur Integration gab.

In der Kolumne ankommen schreiben monatlich Journalist:innen, die 2015 nach Deutschland geflüchtet sind, zum 10. Jahrestag des „Summer of Migration“. Begleitend zu den Kolumnen gibt es außerdem die Podcastreihe „Geschafft?! Zehn Jahre nach der Ankunft“ zu hören, die im Rahmen der Freie Rede Podcasts der taz Panter Stiftung erscheint.
Innenpolitische Konflikte und Protesten waren eine direkte Folge. Migration wurde innerhalb kurzer Zeit zu einem wichtigen Faktor, der die Innen- und Außenpolitik der Staaten sowie Wahlen beeinflusste und die Stärkung populistischer Parteien nach sich zog.
Migration als Instrument
1995 hatten die europäischen Staaten das Schengen-Abkommen unterzeichnet, das die Abschaffung der traditionellen Grenzen zwischen ihnen vorsah. Nach 2015 begannen sie zu erkennen, dass die Grenzpolitik von strategischer Bedeutung ist. In der Folge drängte die Verstärkung von Grenzkontrollen sowie gegebenenfalls die Schließung der Grenzen immer stärker auf die politische Tagesordnung.
hat in Aserbaidschan als Journalist gearbeitet. 2015 floh er nach Deutschland, absolvierte unter anderem ein Studium der Medienwissenschaften, arbeitete für den WDR und die Deutsche Welle. Er ist spezialisiert auf Sicherheitspolitik und veröffentlicht seine Recherchen auf dem Blog „Caspian Defense“.
2021 verschärften Flüchtlingsankünfte die Spannungen an den Grenzen von Belarus zur EU. Es zeigte sich, wie Migration als Instrument der Einflussnahme und zum Aufbau politischen Drucks benutzt werden kann. Im August 2021 hatte die belarussische Regierung begonnen, den Zustrom von Migranten, hauptsächlich aus dem Nahen Osten und Nordafrika, an die Grenzen zu Litauen, Polen und Lettland zu unterstützen.
Zwar bestritt Belarus seine Beteiligung daran, doch sowohl die EU als auch unabhängige Beobachter bewerteten die Vorgänge als „hybride Bedrohung“. Zuvor hatten sich die Beziehungen zwischen Belarus und der EU nach den belarussischen Präsidentschaftswahlen 2020 und den dortigen Protesten in den Jahren 2020 und 2021 verschlechtert. Die EU verhängte Sanktionen, Belarus reagierte mit Vergeltungsmaßnahmen.
Wichtige Neuregelungen und Fortschritte
Die Migrationsbewegungen haben auch die militärischen Planungen in einigen EU-Ländern verändert – sie wurden Teil der strategischen Erwägungen. Und auch das Recht hat sich weiter entwickelt. Zu den wichtigsten Neuregelungen gehört der 2024 verabschiedete Pakt für Migration und Asyl, bekannt als GEAS. Das Normenpaket regelt unter anderem Grenzkontrolle, Durchführung von Asylverfahren sowie die Koordination zwischen den EU-Mitgliedstaaten.
2022 zeigte sich, dass die EU-Länder nun im Vergleich zu 2015 besser auf die Ankunft von Flüchtlingen vorbereitet sind. Millionen Menschen retteten sich vor dem militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine. In der Fähigkeit, diese zu versorgen, hatten viele EU-Staaten erhebliche Fortschritte gemacht.
Es gab Pläne zur kurzfristigen Integration und die zeugten von der Bereitschaft einer Reihe von Ländern – insbesondere Deutschland – diese mit ihren wirtschaftlichen und demografischen Interessen in Einklang zu bringen. Dies war wichtig, um spätere Spannungen in der Gesellschaft zu verhindern.
Anders als viele 2015 dachten, ist Migration keine kurze, vorübergehende Krise, sondern ein langfristiges Phänomen. Die damaligen Ereignisse haben gezeigt, dass die innenpolitische Stabilität in direktem Zusammenhang mit den operativen und institutionellen Fähigkeiten des Staates steht, die Migration zu bewältigen.
Europa, ein Ort der Hoffnung
Dazu gehört auch, die Integration von Flüchtlingen als einen der Hauptbestandteile der Sicherheitspolitik zu begreifen. Die wirtschaftliche und soziale Integration von Flüchtlingen spielt eine wichtige Rolle bei der Verhinderung politischer Spannungen in der Gesellschaft.
Derweil kann die Verschärfung der Grenzkontrollen in der EU positive Folgen für die Sicherheit haben, sie bringt aber Probleme bei der Wahrung der Rechte von Flüchtlingen, die politisches Asyl suchen. Europa ist ein Ort der Hoffnung für politische Aktivisten und Journalisten aus vielen Ländern, etwa solche mit autoritären Regierungen wie Aserbaidschan.
Neben den Maßnahmen zur Kontrolle der Migration muss die Frage, wie die Rechte von Menschen geschützt werden können, die in ihren eigenen Ländern politischem Druck ausgesetzt sind und in Ländern der Europäischen Union Asyl suchen, gesondert diskutiert werden.
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