Proteste in Frankreich: „Ob Lecornu oder ein anderer…“
Während der neue französische Premier Lecornu sein Amt antritt, wird im ganzen Land demonstriert. Es ist vielleicht die erste Runde einer Eskalation.

Die daran Beteiligten sind erfahrene Aktivisten und bescheiden gekleidete Leute, es verbinden sie der Zorn und manchmal auch die Angst in ihren Gesichtern. Beides sind Bilder des gleichen Tages in Frankreich, und doch zwei verschiedene Welten, die sich nicht verstehen und nicht mehr miteinander reden. Es sind zwei Hälften desselben Landes, die sich nicht ergänzen, sondern gegenüberstehen.
„Le 10 septembre, bloquons tout!“ („Legen wir alles lahm am 10. September!“) lautete die Parole für den Aktionstag. Eine sehr ehrgeizige Zielsetzung für eine Mobilisierung, über die zunächst nur vereinzelt in den Sozialen Netzwerken geplaudert wurde. Doch dann nahm die Idee, der Unzufriedenheit Luft zu machen, plötzlich Formen an. Linke Parteien und einige Gewerkschaftsverbände sprangen auf den anfahrenden Zug auf. Die Medien interessierten sich für die Aussicht auf eine Neuauflage einer Revolte im Stil der „Gilets jaunes“, der „Gelbwesten“, die 2018/2019 die Staatsmacht erzittern ließen.
Mehr als ein Strohfeuer
Das Land wurde am 10. September nicht lahmgelegt. Aber was ablief, war mehr als ein Strohfeuer, vielleicht eine erste Runde vor einer Eskalation. Für den darauffolgenden Donnerstag kündigten dieses Mal die großen Gewerkschaftsverbände landesweite Streiks an. Der polizeiliche Nachrichtendienst hatte im Vornherein der Regierung versichert, der Aufruf werde nicht mehr als 100.000 Menschen auf die Straße bringen, die Ordnungskräfte hätten das im Griff.
Am Mittwochabend räumte das Innenministerium ein, dass sich nahezu doppelt so viele Menschen beteiligt hätten. Die Gewerkschaft (CGT) schätzt, dass 250.000 Menschen mitgemacht haben. Viele von ihnen haben sich erstmals auch an Aktionen des zivilen Ungehorsams beteiligt, bei denen es zum Teil zu harten Zusammenstößen mit der Polizei kam.
Polizei und Gendarmerie rückten mit dem fast bürgerkriegsähnlichen Aufgebot von 80.000 Angehörigen an, hinzu kamen Drohnen, Hubschrauber, Wasserwerfer und das übliche Arsenal an Tränengasgranaten. Doch auch die zum Teil brutalen Interventionen vermochten nicht zu verhindern, dass an mehr als 800 Orten im Land diverse Aktionen und improvisierte Demonstrationen ohne behördliche Bewilligung und trotz des Risikos, mit Tränengas angegriffen zu werden, stattfinden konnten.

Vor dem Matignon-Palast reichten sich am selben Tag der abtretende Premierminister François Bayrou und sein Nachfolger Sébastien Lecornu feierlich die Hand zur Amtsübergabe vor den Kameras. Wird der neue Regierungschef lange genug im Amt bleiben, damit es sich lohnt, sich seinen Namen zu merken? Als Antrittsgeschenk hat ihm die linke Oppositionspartei La France insoumise (Das unbeugsame Frankreich, FLI) einen Misstrauensantrag bei der erstbesten Gelegenheit versprochen, die womöglich zu seinem Rücktritt führen könnte.
Zudem will LFI den Prozess zur Absetzung von Staatspräsident Emmanuel Macron einleiten, was zumindest laut Verfassung möglich wäre. Über den Antrag muss in beiden Parlamentskammern abgestimmt werden. Da aber eine Dreiviertelmehrheit der Senatoren und Abgeordneten erforderlich wäre, hat dieser Prozess kaum Aussicht auf Erfolg.
Die Kluft zwischen dem politischen und dem reellen Leben
„Ob Lecornu oder ein anderer, das ist mir völlig egal. Das ist eh dieselbe neoliberale Politik, die nach rechts abdriftet“, meint Félix, ein Geografiestudent, der sich mit anderen Studierenden sowie Schülerinnen und Schülern eingefunden hat, um ein Lycée im Zentrum von Paris zu blockieren. Andere Demonstrierende haben bereits Schilder mit spöttischen Kommentaren zur Ernennung des neuen Regierungschefs angefertigt. Sie erwarten nichts, auch wenn sie hören, dass Lecornu sagt, er wolle für seine Amtsführung nicht nur einen „Bruch mit der Form und Methode“, sondern auch „tiefgreifende“ Änderungen.
In den Kundgebungen waren neben „Macron démission!“ („Macron: abtreten!“) Sprechchöre wie „Lecornu, on en veut plus! “ („Lecornu, von dem haben wir bereits genug“). Eine Chance räumen die Demonstrierenden Lecornu also nicht mehr ein. Zu lange haben sie schon den Eindruck, das „die da oben“ in Paris völlig taub für ihre Not- und Protestrufe seien. Lecornu scheint indes doch hingehört zu haben, da er in seiner kurzen Rede gesteht, es bestehe „eine Kluft zwischen dem politischen Leben und dem reellen Leben“, eine vielleicht unüberwindbar gewordene Distanz zwischen der Politik und dem Alltag vieler Mitbürger.
„Ich spüre einen großen Ras-le-bol (Koller) zu dem, was in Frankreich läuft. Man redet uns ständig von den Milliarden Schulden… aber dafür kann ich doch nichts, ich habe nicht die Politik bestimmt, sondern diejenigen, die uns regieren“, sagt dem Online-Magazin Mediapartder 50-jährige Lastwagenfahrer Michel, der im lothringischen Metz zum ersten Mal in seinem Leben an einer Demo teilnahm.
Der neue Premierminister will den Volkszorn ignorieren
Anruf in der Picardie, einer Region nördlich von Paris, einer ehemaligen Industriegegend. Der 69-jährige Rentner Michel Audidier hat in der hier bei allen Aktionen der Gelbwesten mitgemacht. Dass er jetzt wieder symbolisch auf die Barrikaden steigt, sei selbstverständlich, bestätigt er am Telefon. „Die Wut brodelt seit Langem. Was zum Auslöser wird, weiß man nie im Voraus“, kommentiert er die neue „Bürgerbewegung“, wie er die Mobilisierung nennen möchte. Dass Bayrou in seiner unsozialen Sparpolitik zwei Feiertage streichen wollte, an denen dann unbezahlt gearbeitet werden sollte, habe nicht nur bei ihm das Fass des Unmuts zum Überlaufen gebracht.
„Macron sagt, die Verschuldung gehe auf unser Konto. Sowas wollen wir nicht mehr hören. Die Leute, die mit ihrer Arbeit Frankreich am Leben halten, haben das Recht respektiert zu werden!“ Ganz so spontan sei der 10. September nicht, denn in der Picardie, und vermutlich auch anderswo, seien Ex-Gelbwesten eng in Kontakt geblieben, sie hätten über Grundsätzliches diskutiert: über weitergehende Forderungen und eine „wirkliche Demokratie“.
Elie Michel, Politikwissenschaftler an der Hochschule Science Po in Paris und der Universität Lausanne, glaubt „eher nicht, dass Frankreich an der Schwelle einer Revolution steht“. Tiefgreifende Reformen der Institutionen seien dennoch nötig: „Frankreich steckt in einer politischen Krise, die mehr ist als bloß eine Fin de règne (Endzeitkrise). Ich denke nicht, dass diese überwunden werden kann, ohne dass sich an den Institutionen der Republik etwas Wesentliches geändert wird“. Diese Institutionen seien konzipiert worden, um der Staatsführung jeweils starke Mehrheiten zu verschaffen. Das funktioniere heute nicht mehr, da es jetzt drei Blöcke gebe, die gegenseitig eine Mehrheitsbildung verhinderten.
Der neue Premierminister will den Volkszorn ignorieren. Er ist zu seinem Amtsbeginn nicht etwa in die Regionen gefahren, um sich die Klagen der unzufriedenen Bürger anzuhören oder ihnen wenigstens ein offenes Ohr für ihre Anliegen zu versprechen. Nein, er trifft sich zuerst mit den Spitzen der politischen Parteien. Man bleibt da unter sich. Das ist bequemer und weniger riskant.
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