Frankreich wird von Fitch „abgewertet“: 50 Jahre Defizit – und kein Ende?
Wie erwartet hat die US-Ratingagentur Fitch Frankreichs Kreditwürdigkeit von AA- auf A+ herabgestuft. Die Finanzmärkte setzen so Frankreichs Regierung und ihre Haushaltspolitik unter Druck.

Die Botschaft der Kritik ist unmissverständlich: Frankreich könne sich seinen sozialen Wohlfahrtsstaat nicht leisten.
Vor allem aber stört es die Finanzmärkte, dass mit dem Rücktritt von Premierminister François Bayrou auch der Versuch, mit Einsparungen von 44 Milliarden Euro eine Tendenzwende in Richtung Schuldenabbau einzuleiten, vom Tisch ist.
Vielleicht hat Bayrou mit seiner Schwarzmalerei übertrieben, doch die Zahlen sind nicht anzufechten. Frankreichs Schuldenberg wird bis Ende des Jahres auf mehr als 3400 Milliarden Euro angewachsen sein. Das entspricht 115 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Kosten für den Schuldendienst steigen. Schon jetzt muss Frankreich ebenso viel oder mehr an Zinsen für neue 10-jährige Anleihen berappen wie Spanien, Portugal, Italien und Griechenland. Im laufenden Jahr geht dafür eine Summe von 65 Milliarden Euro über den Tisch. Das ist mehr als der jährliche Etat für die Erziehung oder die Verteidigung.
Die Frage ist legitim, wie es zu dieser Schuldenkrise kommen konnte und wer eventuell daran schuld sein könnte. Laut Bayrou lebt die Generation der „Boomer“ auf Kosten der Nachgeborenen, statt für die Zukunft vorzusorgen. Das ist kein sehr nettes Urteil über die heutigen Rentner. Sie werden für die großzügige Finanzpolitik der vergangenen Jahrzehnte verantwortlich gemacht. Die offizielle Statistik bestätigt, dass seit 1974 kein Staatshaushalt mehr ausgeglichen war. Das heißt, jedes Jahr hat Frankreich mehr ausgegeben als eingenommen.
Es ist in Frankreich – wohl nicht zuletzt wegen einer an Revolten und Revolutionen reichen Geschichte – eine lange Tradition, Ruhe und Ordnung mit sozialen Zulagen und einem ausgebauten Dienstleistungssektor zu erkaufen. Auf der Anklagebank sitzen darum alle Regierungen, linke wie rechte, die es auch in guten Jahren vorgezogen haben, sich die Gunst des Volkes zu erhalten. Bayrou sprach darum kurzerhand auch von einer kollektiven Verantwortung der Nation: „Die Verschuldung – das ist jeder von uns.“ Alle schuld und letztlich keiner?
Es wäre aber eine Vereinfachung, einseitig die Sozialausgaben oder die Zahl der Beamten anzuprangern, wie dies die neoliberalen Kritiker gern machen. Das französische Wirtschaftsmodell basiert auch nach der Privatisierung der meisten Staatsunternehmen auf öffentlichen Investitionen und Interventionen. Diese sind mal mehr, mal weniger sinnvoll. Und vor allem werden die Ergebnisse der staatlichen Hilfe für die Wettbewerbsfähigkeit ebenso wenig kontrolliert wie aufwändige Programme zum Abbau der Arbeitslosigkeit.
Der jetzige Staatschef Emmanuel Macron rangiert klar an erster Stelle der präsidialen Schuldenmacher: Von Juni 2017, als er an die Macht kam, bis März 2025 sind Frankreichs Schulden von 2281 Mrd. auf 3345 Mrd. Euro angestiegen. Für die Opposition ist er damit „Monsieur 1000 milliards“, also der Hauptverantwortliche dafür, dass das Minus immer dicker geworden ist. Umgerechnet auf den BIP-Anteil der Schulden sieht das allerdings etwas weniger dramatisch aus: Der sprang von 101 auf 114 Prozent. Macron hat auch eine Ausrede: Er musste 2020-2021 in der Corona-Epidemie dafür sorgen, dass die Unternehmen und Haushalte nicht zu sehr litten.
Die finanzielle Unterstützung zum Ausgleich der Verluste wegen der Epidemiebekämpfung kam dem Staat allerdings durch Macrons Griff zur Gießkanne getreu dem Motto „Koste es, was es kosten muss“ (Quoi qu’il en coûte) teuer zu stehen. Das Budgetdefizit betrug 2020 8,9 und im Jahr darauf 6,6 Prozent. Und gleich danach folgte die Inflation im Zuge der Energiekrise und der russische Krieg gegen die Ukraine. Zudem wurde (teils unter dem Druck der „Gelbwesten“-Bürgerproteste) auf eine Erhöhung der CO2-Treibstoff-Abgaben verzichtet, die öffentliche TV- und Rundfunkgebühr und die Wohnsteuer Taxe d’Habitation abgeschafft. Addiert macht dies bis 2025 rund 200 Milliarden Euro weniger Einnahmen aus.
Der neue Premierminister Sébastien Lecornu soll sich nun mit den Oppositionsparteien arrangieren, die Bayrou gestürzt haben, damit Frankreich noch fristgemäß überhaupt einen Staatshaushalt für 2026 erhält. Das hat zwangsläufig Konzessionen, weniger unpopuläre Einsparungen oder gar zusätzliche Ausgaben zur Folge. Und das gefällt den neoliberalen Kritikern und den Finanzmärkten offenbar gar nicht.
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