Die ersten Wahlen in Syrien: Syrien wählt – allerdings nur indirekt
Die ersten Wahlen seit dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad stehen an. Doch manche Provinzen sind ausgeschlossen.
Gewählt wird die Volksversammlung Syriens, also das Parlament. Ursprünglich wurde ein Umfang von 210 Mitgliedern angekündigt. Von diesen werden zwei Drittel indirekt von der Bevölkerung gewählt, ein Drittel bestimmt Präsident Ahmed al-Scharaa direkt. Die Verteilung der 140 indirekt gewählten Sitze ergibt sich aus der Bevölkerungsgröße in den verschiedenen Provinzen Syriens. So soll etwa die bevölkerungsreiche und recht große Provinz Aleppo mit insgesamt 32 Sitzen vertreten sein, die Hauptstadt Damaskus und ihre Umgebung mit zusammengerechnet 22.
Die Anzahl der Sitze wurde bereits von 210 zu mittlerweile 201 Plätzen reduziert: Denn das vor allem von der Minderheit der Drusen bewohnte Suweida darf nicht mitwählen. Dort hatte es im Juli heftige Zusammenstöße zwischen Regierungskräften und lokalen Kämpfern gegeben, bei denen auch Hunderte Zivilistinnen und Zivilisten getötet wurden. Auch die Menschen in zwei Provinzen im kurdisch geprägte Nordosten des Landes sind größtenteils von der Wahl ausgeschlossen.
Die Zentralregierung in Damaskus begründet das mit der Sicherheitslage vor Ort. Eine kurdisch-syrische Journalistin meint der taz gegenüber aber: Die Entscheidung sei politisch motiviert. Denn zwischen den kurdischen Streitkräften SDF im Nordosten und Damaskus bestehen – trotz eines im Frühling geschlossenen Abkommens – weiter Diskrepanzen. Und Suweida wird seit den Massakern im Juli wieder von drusischen Milizionären kontrolliert, eine Integration unter der Zentralregierung scheint ferner denn je.
Frauenquote für Wahlkollegien
Der Wahlprozess selbst soll so ablaufen: Der sogenannte Oberste Ausschuss hat auf Bezirksebene Wahlausschüsse eingerichtet. Diese Ausschüsse bilden dann in ihren jeweiligen Bezirken Wahlkollegien. Sie sollen aus 30 bis 50 Mitgliedern bestehen; für die Besetzung gibt es eine Frauenquote von 20 Prozent. Diese Wahlkollegien werden dann dem Obersten Ausschuss vorgelegt, der das letzte Wort über deren Zusammensetzung hat. Wer auf dieser Liste der Wahlkollegien steht, kann schließlich selbst gewählt werden. Und nur wer darauf steht, darf selbst wählen. Zu den so Gewählten kommen noch die von Präsident al-Scharaa bestimmten Personen.
Bei aller Kritik: Dass freie Wahlen durch jede Bürgerin und jeden Bürger zum derzeitigen Zeitpunkt auch organisatorisch kaum möglich sind, erklären auch Analysten. So basiert etwa die Verteilung der Sitze in der Volksversammlung auf der Volkszählung von 2010. Seitdem hat der Bürgerkrieg das Land völlig verändert: Noch immer sind etwa sieben Millionen Menschen innerhalb Syriens vertrieben, vier Millionen außerhalb. Noch 2024 hatte al-Scharaa verkündet: Wahlen müsse eine neue Volkszählung vorangehen, der Prozess werde Jahre dauern.
Die Legitimität der syrischen Regierung, argumentiert der Analyst Haid Haid, komme nicht nur aus seiner „technokratischen Performance“ – sondern daraus, wie die Macht im Land künftig tatsächlich verteilt ist. „Eine gesetzgebende Versammlung, die Pluralismus lediglich nachahmt, ohne echte Veränderungen in der Entscheidungsfindung herbeizuführen, läuft Gefahr, die Entfremdung der Öffentlichkeit zu vertiefen.“
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