„Marsch für das Leben“: Abtreibungsgegner wittern Aufwind
Am Wochenende wird in Berlin und Köln wieder zum „Marsch für das Leben“ aufgerufen. Auftreten sollen auch internationale, teils vorbestrafte Sprecher*innen.

Im Aufruf des BVL zum Marsch ist von „bis zu 10.000 Menschen“ die Rede, die auf die Straße gehen werden. Realistisch ist das eher nicht. In den vergangenen Jahren lag die Zahl meist bei rund 4.000, Busladungen aus dem deutschsprachigen Raum inklusive. Doch 2025 steht die Demo unter besonderen Vorzeichen: Nach der gelungenen und stark von der Szene befeuerten Kampagne gegen die Wahl der Staatsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf ins Bundesverfassungsgericht wittert die Bewegung politischen Rückenwind.
Brosius-Gersdorf, die unter anderem Mitglied der Expert*innenkommission zur Frage war, ob Schwangerschaftsabbrüche legalisiert werden sollten, war der Szene zu liberal. Ihre Verhinderung wird nun als Erfolg und Beleg gelesen: Die Bewegung sei auf dem Vormarsch.
Neuer Schwung für alte Allianzen
Zwar ist die „Lebensschutz“-Bewegung personell seit Jahren eher stagnierend als wachsend. Organisatorisch allerdings tut sich etwas: Man vernetzt sich zunehmend mit internationalen Akteur*innen, nutzt gezielt Plattformen abseits etablierter Medien und freut sich in ihrem diesjährigen Aufruf zum „Marsch“ über „neue Medien“ der eigenen Couleur, mit denen die vermeintlich eng gewordenen Debattenräume erweitert werden. Man inszeniert sich als Opfer der „Mainstream-Presse“ und spricht von „Zensur“ und „Cancel Culture“, wenn Kritik an den teils antidemokratischen Positionen laut wird.
Derweil rückt die Szene politisch näher an die AfD, ohne sich offen an sie zu binden. Das zeigt einerseits die Teilnahme von AfD-Funktionär*innen wie Beatrix von Storch oder Franz Schmid an ihren Demonstrationen. Darüber hinaus beruft die AfD prominente Anti-Choice-Akteure wie Kristijan Aufiero von „profemina-1000plus“ oder Tomislav Čunović von „40 days for life“ als Sachverständige in den Rechtsausschuss des Bundestags.
Brisant wird es 2025 allerdings nicht nur auf der Straße: In Köln und Berlin finden neben dem „Marsch“ flankierende Jugendveranstaltungen statt, organisiert von der „Jugend für das Leben“ (JfdL) – eine Nachwuchsorganisation des Vereins „Aktion Lebensrecht für Alle“, faktisch ein Radikalisierungsinstrument. In Berlin spricht in diesem Jahr die Organisatorin des „Marche pour la vie“, dem französischen Pendant des „Marsch für das Leben“, die französische Aktivistin Marie-Lys Pellissier.
Vorbestrafte US-Aktivistinnen als Vorbilder?
In Köln sprechen zwei noch deutlich problematischere Gäste: Caroline Smith und Lauren Handy von der US-amerikanischen Gruppe „Progressive Anti-Abortion Uprising“ (PAAU). PAAU inszeniert sich als „links-progressiv“, ist aber vor allem eine militante Anti-Abtreibungstruppe mit einem Faible für rechtliche Grauzonen. Die Gruppe stürmt Kliniken, verbreitet Desinformation über medizinische Abläufe und sucht gezielt die Eskalation.
Lauren Handy ist wegen teils schwerwiegender Delikte verurteilt – und soll nun vor Kindern und Jugendlichen auftreten. 2023 wurde sie zu 57 Monaten Haft verurteilt, nachdem sie 2020 gewaltsam in eine Klinik in Washington D.C. eingedrungen war. Einsicht? Fehlanzeige. Handy sieht sich als „Lebensretterin“ – und wurde Anfang 2025 von Donald Trump begnadigt.
Einer der bizarrsten Fälle, den PAAU zu verantworten hat, ereignete sich 2022: Lauren Handy und ihre Mitstreiterin Terrisa Bukovinac behaupteten, eine Kiste mit abgetriebenen Föten von einem Entsorgungsunternehmen erhalten zu haben. Fünf davon verwahrten sie in einer Gefriertruhe – mutmaßlich, um ein Mordverfahren gegen das behandelnde Klinikpersonal einzuleiten. Die Geschichte ist in sich widersprüchlich, der Logistikdienstleister bestreitet die Übergabe. Fest steht: Das FBI fand bei einer Durchsuchung tatsächlich fünf Föten in Handys Wohnung. Die forensische Untersuchung ergab später, dass alle Abtreibungen rechtmäßig erfolgt waren. Angeklagt wurden Handy und Bukovinac in dem Fall bisher nicht.
Export radikaler Aktionsformen nach Deutschland?
Ausgerechnet Lauren Handy soll nun in Köln vor Kindern und Jugendlichen sprechen: Eine Bewegung, die sich als moralisch überlegen stilisiert, schult ihren Nachwuchs an Vorbildern, die auf Regelbruch, Einschüchterung und emotionalisierte Desinformation setzen. Wer Jugendlichen beibringt, dass medizinische Fakten verhandelbar sind und Recht nur dann gilt, wenn es ins eigene Weltbild passt, betreibt keine Aufklärung, sondern gezielte Manipulation.
Der Aktionsstil von PAAU ist in Deutschland bislang eher die Ausnahme. Doch mit der Einladung solcher Rednerinnen wird eine Tür geöffnet. Schon in den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu Auftritten internationaler Gäste, die durch antisemitische Relativierungen, rassistische Rhetorik oder verschwörungsideologische Anklänge auffielen.
In München erklärte etwa Matt Britton auf der Bühne des „Marsch fürs Leben“ 2023, dass Deutschland Geflüchtete importiere, während es „deutsche Babys töte“ – ein rassistisches Narrativ. 2025 relativierte der Franziskanerpater Paulus Tautz in seiner Rede den Holocaust als er Protest gegen Verbrechen des NS-Regimes im Konzentrationslager Dachau mit dem gegen Schwangerschaftsabbrüche verglich.
Möglicher Weg zur Sichtbarkeit
Was, wenn der importierte Stil Schule macht und Klinikblockaden nach US-Vorbild plötzlich als „ziviler Ungehorsam“ verkauft werden? Einer Szene, die medial kaum Beachtung findet und zahlenmäßig stagniert, könnten konfrontative Aktionen bald als probater Weg zur Sichtbarkeit erscheinen.
Der „Marsch für das Leben“ in Berlin startet in diesem Jahr erstmals vom Hauptbahnhof, in Köln vom Neumarkt. In beiden Städten formiert sich breiter Gegenprotest: feministische Bündnisse, medizinisches Fachpersonal, queere Gruppen und linke Initiativen wollen die Straße nicht dem selbsternannten „Lebensschutz“ überlassen.
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