Ankommen in Deutschland: /vɪlˈkɔmənskʊlˌtuːɐ̯/
Für manche ist sie ein leerer Begriff aus politischen Reden. Für andere viel mehr. Drei Journalistinnen mit Fluchtgeschichte über „Willkommenskultur“:
„Unsere Regierung“ und Kippen
Meine Geschichte von Willkommenskultur begann nicht mit großen Gesten, sondern mit einer weggeworfenen Zigarette. Es war im Sommer 2018, als ich sah, wie jemand eine brennende Kippe auf den Boden schnippte, obwohl der Mülleimer kaum einen Meter entfernt stand. Ich konnte nicht anders und sprach ihn an.
Seine Reaktion überraschte mich. Er drehte sich um und sagte: „Mensch, die Deutschen meckern viel.“ Ich musste schmunzeln. In diesem kleinen, absurden Moment wurde ich auf einmal zu einer von „den Deutschen“. Genau da, mit dieser simplen Einordnung, entstand in mir das erste Gefühl von Zugehörigkeit.
Ein ähnliches Erlebnis hatte ich, als jemand in einer Kneipe über die damalige Merkel-Regierung sprach und sagte: „unsere Regierung.“ Ich schaute mich suchend um, fragte mich, wer wohl mit „uns“ gemeint sein könnte. Die Leute hinter mir? Am anderen Ende des Raumes? Er aber deutete mit dem Finger auf mich.
Zehn Jahre Flüchtlingssommer 2015: Die großen Fragen von damals sind die großen Fragen von heute – ganz egal, ob es um Grenzkontrollen, Integration oder die AfD geht. Die taz sucht in einem Sonderprojekt Antworten.
Oft wird von Menschen, die nicht hier geboren sind, erwartet, dass sie als „leuchtende Beispiele für gelungene Integration“ dienen – sei es für Fördermittel, Statistiken oder einfach, um ein bestimmtes Bild zu erfüllen. Doch für mich war Willkommenskultur in diesen Momenten keine Frage von offiziellen Reden, Feiern oder großen Worten. Es ging auch nicht darum, mich als Vorbild darzustellen. Für mich war ein einziges Wort, eine kleine Geste genug, um mich als Teil der Gemeinschaft zu fühlen – nicht als Fremde.
Salma Kral
Eine Umarmung grenzenloser Menschlichkeit
Nach monatelanger, beschwerlicher Reise über Berge, Klippen und das unerbittliche Mittelmeer erreichten wir am 19. Oktober 2015 schließlich Deutschland. Der erste Tag war lang und anstrengend: Anmeldung und ärztliche Untersuchungen im Erstaufnahmelager, überfüllte Flure und endloses Warten. Mit meinem einjährigen Kind auf dem Arm suchte ich nur einen ruhigen Platz zum Ausruhen, doch jeder Schritt und jede Szene konfrontierte mich stärker mit der Realität des Neuanfangs.
Am frühen Abend betraten zwei Mitarbeiter mit Listen den Flur. Die müden Gesichter der Geflüchteten hellten sich sofort auf, viele wurden in eine andere Unterkunft verlegt. Unser Name war jedoch nicht dabei. Ich ging auf einen Mitarbeiter zu und sagte: „Ich habe ein Kleinkind und kann hier nicht länger warten.“
Unerwartet wurde mein Anliegen angehört, und wir erhielten drei Bescheinigungen – für mich, meinen Mann und unser Kind. Im Bus schlief ich vor Erschöpfung ein. Gegen 22.30 Uhr erreichten wir die neue Unterkunft. Sofort fiel mir die menschliche Aufnahme durch die Mitarbeiter auf. Sie standen auf beiden Seiten des Tores, als würden sie uns schon kennen. Nach warmer Begrüßung und mit weichen Decken auf unseren Schultern führten sie uns in den Speisesaal, der bereits für das Abendessen vorbereitet war.
Der große, warme und einladende Saal vermittelte mir erstmals ein echtes Sicherheitsgefühl und Geborgenheit. In diesem Moment wurde mir klar: Hier wird das Leben der Menschen wertgeschätzt; wir wurden mit Herzlichkeit und Respekt behandelt, obwohl wir Fremde waren. Durch diese grenzenlose Fürsorge verstand ich die wahre Bedeutung von Menschlichkeit und Willkommenskultur.
Nilab Langar
Empfohlener externer Inhalt
Eine Zukunft jenseits der Warteräume
Als ich als junge Migrantin in Deutschland ankam und trug ich beides in mir: Träume und Angst. Ohne Eltern oder Freunde an meiner Seite war mir jede Straße fremd, und die Einsamkeit machte die Tage unerträglich lang. Täglich stellte das Leben im Lager meine Geduld und Kraft auf die Probe.
Wir waren zu fünft bis acht in einem Raum untergebracht, jeder trug seine eigenen stillen Kämpfe aus. Privatsphäre gab es kaum, das Essen war eintönig, und schwer fühlte sich die Zeit an in den schier endlosen Schlangen für Mahlzeiten oder Termine. Ich hielt jedoch an der Hoffnung fest, dass jenseits dieser überfüllten Hallen und Warteräume eine Zukunft der Stabilität und Zugehörigkeit möglich ist.
Als ich in ein Heim verlegt wurde, hatte ich Angst, in der kleinen Stadt, in die ich geschickt wurde, abgelehnt zu werden. Zu meiner Überraschung nahm mich jedoch einer Freiwilligengruppe herzlich auf. Sie schufen sichere Räume, in denen ich lernte, mich kulturell austauschen und mich wieder als Mensch fühlen konnte. Später, während meines härtesten Kampfes gegen die drohende Abschiebung, fand ich Kraft in Gruppen etwa für die Rechte von Migranten. Welcome United (WCU) bot mir durch Kirchenasyl Schutz und hob mich aus meiner Angst heraus in Sicherheit.
Dort traf ich auf eine Gemeinschaft, die mich nicht nur beschützte, sondern mir auch bewusst machte, dass meine Geschichte wichtig ist. Ich erkannte, dass Deutschlands „Willkommenskultur“ mehr als nur ein Wort ist, dass sie täglich in Mitgefühl und in Solidarität gelebt wird und in dem Glauben, dass Neuankömmlinge Würde verdienen.
Ich, die aus einem Umfeld mit wenig bürgerschaftlichem Engagement stammt, war zutiefst inspiriert. Von dem Moment an, als ich vor der Abschiebung bewahrt wurde, versprach ich mir, etwas zurückzugeben. Solidarität hat mich gerettet. Nun widme ich dieser Solidarität als aktives Mitglied der WCU meine eigene Stimme und Energie. Ich bin stolz darauf, dieses Jahr Teil des Teams zu sein, das die „Caravan“ organisiert, einer Aktionswoche für Freizügigkeit überall in Deutschland im September.
Muna
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