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Rolle der Computerspiele im Fall KirkAlles ein zynischer Spaß

Charlie Kirk und sein Attentäter wurden in einem Onlineparalleluniversum sozialisiert. Dort fließen Gewalt und rechtsextreme Ideologien ineinander.

Mahnwache für Charlie Kirk in Utah Foto: Lindsey Wasson/ap

Möglicherweise wird man sich in einigen Jahren an das Attentat auf Charlie Kirk als eine amerikanische Version des Reichstagsbrands erinnern. Die Nationalsozialisten nutzten damals das Feuer als Rechtfertigung, um mit der Verfolgung ihrer politischen Gegner zu beginnen, obwohl diese nichts mit der Brandstiftung zu tun hatten.

Jetzt dient der Anschlag auf den rechten Influencer Charlie Kirk der amerikanischen Regierung als Vorwand, um die Existenz politisch missliebiger Menschen zu zerstören und sie einzuschüchtern. Justizministerin Pam Bondi machte „linke Radikale“ für das Attentat verantwortlich und drohte: „Sie werden zur Rechenschaft gezogen.“

Stephen Miller, stellvertretender Stabschef im Weißen Haus, kündigte an, man werde „diese terroristischen Netzwerke ausrotten und zerschlagen“; einige Tage zuvor hatte er schon die Demokratische Partei als „inländische, extremistische Organisation“ bezeichnet. Auch Vizepräsident J D Vance wurde deutlich: „Wir werden gegen das Netzwerk von NGOs vorgehen, das Gewalt schürt, fördert und ausübt.“

Die Alt-Right-Bewegung

Wenn es die US-Regierung mit der Verfolgung der Hintermänner des Anschlags wirklich ernst meinte, dann müsste sie wohl eher das amorphe Netzwerk von Trollen und extremistischen Politaktivisten ins Visier nehmen, das sich einst auf der Internetplattform 4Chan zusammenfand und in den 10er Jahren als Alt-Right bekannt war.

Während seines ersten Wahlkampfs 2016 half die Alt-Right-Bewegung Donald Trump mit Memes und aggressiver Onlinekulturkampfrhetorik dabei, im Netz eine junge, internetaffine Basis zu gewinnen – auch wenn Trump sich später von der Bewegung distanzierte. Sein Berater Steve Bannon nannte das Blog Breitbart News, dessen Chefredakteur er von 2012 bis 2016 war, „die Plattform der Alt-Right“ und gab rechten Provokateuren wie Milo Yiannopoulos ein Forum, das zentrale Narrative der Bewegung (Migration, Islam, Political Correctness) salonfähig machte.

Die Motive von Kirk-Attentäter Tyler James Robinson sind unklar; bisher weigert er sich, mit den Strafverfolgungsbehörden zu kooperieren und eine Aussage zu machen. Und vielleicht ist er einfach nur wahnsinnig.

Für das FBI ist der gewalttätige Online­nihilismus eine neue Terrorkategorie

Aber diese Art des Wahnsinns hat vielfältige Berührungspunkte mit dem gewalttätigen, rechtsextremen Onlinenihilismus, der sich in den letzten Jahren aus dem Bodensatz der Alt-Right entwickelt hat und für den das FBI 2022 sogar eine neue Kategorie für inländischen Extremismus geschaffen hat: Nihilistic Violent Extremism (NVE).

Anspielungen auf obskure Computerspiele

Diese Art von politischen Terrorismus verbindet rechtsextreme Ideen und Gewaltobsessionen mit Internetironie, mit netzkulturellen Referenzen, Memes und Anspielungen auf obskure Computerspiele, bei denen die Grenzen zwischen Ernst und „Sarkasmus“ verwischt werden und die man nur versteht, wenn man extremely online ist.

Viele der schrecklichsten Attentate der letzte Jahre waren von dieser wirren Internet­ideologie motiviert: 2019 erschoss in Christchurch (Neuseeland) ein Rechtsradikaler 51 Menschen in zwei Moscheen, übertrug das Massaker im Ego-Shooter-Stil per Livestream und spickte sein Manifest mit Memes wie „Subscribe to PewDiePie“. Im selben Jahr ermordete ein rechtsterroristischer Attentäter in El Paso (USA) 23 Menschen in einem Supermarkt und veröffentlichte ein Schreiben, das die Meme-Ästhetik und die „Große Umvolkungs“-Ideologie dieses Attentats aufgriff.

wochentaz

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Kurz darauf erschoss ein rechter Spinner in einer Synagoge im kalifornischen Poway eine Frau und bezog sich ebenfalls ausdrücklich auf Christchurch. Im selben Jahr versuchte ein deutscher Rechtsextremer in Halle in eine Synagoge einzudringen und kommentierte seine Mordpläne mit Insiderwitzen aus rechtsextremen Onlineforen und Referenzen auf Christchurch; als dies scheiterte, erschoss er zwei Menschen und streamte das im Videospielstil.

2022 ermordete ein weiterer Rechtsextremer in Buffalo (USA) zehn Leute in einem Supermarkt, übertrug die Tat live auf Twitch und orientierte sich dabei offen an diesen Gewalttaten, inklusive der Verwendung von Alt-Right-Memes und Onlinecodes.

Was meinte Robinson mit Bella Ciao?

Und nun also der Mörder von Charlie Kirk, der in seine Kugeln obskure Botschaften voller Anspielungen auf Computerspiele und 4Chan-Terminologie eingeritzt hat. Und wieder geht das große Rätselraten los – was genau war mit „Bella Ciao“ gemeint? Ist das nicht ein linker Partisanensong aus Italien?

Nein, es ist eine Botschaft aus einem Onlineparalleluniversum, in dem jede Art von Selbstäußerung immer auch das schiere Gegenteil bedeuten kann und in dem letztlich alles for the lulz ist, also ein großer zynischer Spaß, den nur Eingeweihte verstehen. „Weißt du noch, wie ich die Kugeln graviert habe?“, hat Robinson seinem Mitbewohner laut New York Times in einem Chat nach dem Attentat geschrieben. „Das war ein großes Meme. Wenn ich ‚notices bulge uwu‘ auf Fox News sehe, drehe ich durch.“

Man könnte an dieser Stelle das „notices bulge uwu“-Meme erklären („notices bulge, uwu“ stammt aus der Furry- und Anime-Rollenspielszene und bezeichnet eine Ausbeulung im Schritt …). Und würde damit einen Weg in den ganzen Alt-Right-Kaninchenbau mit seinen ganzen Referenzen und popkulturellen Bezügen aufmachen.

Aber vielleicht kann man den Mord an Charlie Kirk auch viel einfacher erklären. Auf einem Bild, das seit dem Attentat aufgetaucht ist, imitiert Robinson im gelb-schwarzen Adidas-Jogginganzug in der Russenhocke (slav squat) sitzend den Stil der Groypers-Szene.

Rechtsradikales Offline­trollen

Die Groypers sind Anhänger des amerikanischen Alt-Right-Rechtsradikalen Nick Fuentes, die seit 2020 aufgehetzt wurden, um bei den öffentlichen Auftritten von Charlie Kirk zu provozieren. In der ungeschriebenen Geschichte des rechtsradikalen Offline­trollens ist diese Episode als die „Groyper Wars“ verzeichnet.

Nick Fuentes hat diese Auseinandersetzung damals verloren. Dem Sicherheitsapparat von Kirk – der ja angeblich mit jedermann diskutieren wollte – gelang es nach und nach, diese Troll-Störer von seinen Veranstaltungen fernzuhalten. Beim Wahlkampf im vergangenen Jahr spielte Kirk dann eine wichtige Rolle bei der Wiederwahl von Donald Trump.

Die kurzen Videoclips, die seine Organisation Turning Point USA in die sozialen Medien einspeiste, in denen er seine reaktionären Einstellungen bewarb, waren so gut gemacht, dass sie oft viral gingen und ihn als souveränen Diskursmeister in Debatten unter 30 Sekunden zeigten.

Diese Clips kursieren jetzt wieder im Netz, um zu beweisen, dass Kirk ja eigentlich nur reden wollte. Tatsächlich waren diese Campusdebatten Teil des Geschäftsmodells von Charlie Kirk, für die er zwischen 50.000 und 100.000 Dollar pro Veranstaltung verlangte. Diese Diskussionen haben ihn zum Multimillionär gemacht – und gleichzeitig anschlussfähig für breitere Kreise.

Der Unterschied zwischen Charlie Kirk und Nick Fuentes besteht weniger in einem Konflikt von Ideologien – beide sind misogyne Ethnonationalisten ohne Zukunftsprogramm. Beide sind keine ernstzunehmenden politischen Theoretiker – oder, bei Licht betrachtet, überhaupt Personen mit irgendeiner Ausbildung oder irgendeinem Hintergrund, der sie qualifiziert, etwas Relevantes zu irgendwas zu sagen.

Es geht nur um Aufmerksamkeit auf Social Media

Sie sind einfach nur Influencer, deren Erfolg in Klicks, Reichweiten und Spenden messbar ist. Dass es solche Gestalten überhaupt gibt, sagt mehr über eine Medienlandschaft aus, in der es vor allem darum geht, Aufmerksamkeit zu generieren und weniger um Inhalte.

Dass Kirk am Ende erfolgreicher war, lag nicht an seiner inhaltlichen Überlegenheit, sondern an seiner Fähigkeit, sein Produkt – politische Provokation – in eine institutionell abgesicherte Form zu überführen – Trumps MAGA-Bewegung.

Und diesmal ist MAGA gut vorbereitet. Die Zeit der Memes-Spiele, der witzigen, selbstreferentiellen Pseudodebatten und ironischen Internetcodes, die nur Leute verstehen, die auch auf Tumblr sind, ist in den USA vorbei.

Jetzt werden random Leute von vermummten Gestalten in nummernlose weiße Lieferwagen gezerrt und finden sich in El Salvador wieder und niemand traut sich mehr, etwas zu sagen, weil man sonst als Nächstes dran sein könnte. Ist wohl auch just for the lulz, was offenbar neuerdings ein Regierungsprogramm ist.

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