
Data-Worker und Drecksarbeit: Raus aus der Unsichtbarkeit
Damit KI und Social Media nutzbar werden, blicken Data-Worker im Verborgenen in Abgründe. In Kenia regt sich nun aber Widerstand.
N ach ihrem früheren Ich sucht Veronica Oduor an manchen Tagen vergebens. Die Person, die immer jeden gegrüßt hat, ist verschwunden. Stattdessen schiebt sich das Bedürfnis nach Rückzug in den Vordergrund. Nach Zeit für sich selbst. Wenn andere sich im Alltag mit ihr unterhalten wollten, spürt sie die Wut in sich aufsteigen. „Ich bin genervt ohne Grund, werde wütend ohne Grund, manchmal wache ich schon wütend auf“, sagt Oduor.
Es liegt an ihrer Arbeit, meint sie. Dass sie immer seltener ihre Freund*innen sieht. Dass sie deren Anrufe ignoriert, weil sie sich nicht bereit fühlt ranzugehen und denkt: „Ich vermassle alles.“ Dass sie einfach nur schlafen will und die Bilder vergessen, die sich in den Windungen ihres Gehirns eingenistet haben.
Die Bilder, die sie an ihren Arbeitstagen sieht, sind so verstörend, dass sie auf keinen Fall im Internet auf Facebook, Instagram oder Tiktok erscheinen dürfen. Oduor aber muss sie sehen, damit sie sie im Auftrag der Onlineplattformen aus dem Verkehr ziehen kann. Das ist ihr Job. Den macht die junge Frau in ihren Zwanzigern seit mehreren Jahren. Und das hat psychischen Folgen.
Social-Media-Netzwerke schreiben in ihren Richtlinien fest, welche Inhalte nicht auf ihrer Plattform veröffentlicht werden dürfen. Gewaltdarstellungen etwa oder Pornografie. Wenn eine Nutzerin einen Post online sieht, der doch in diese Kategorien fällt, kann sie ihn melden. Die Inhalte, die so markiert wurden, landen dann zur Überprüfung auf dem Bildschirm von Contentmoderator*innen.
Die Menschen im digitalen Maschinenraum
In Kenia überprüfen Hunderte solcher Moderator*innen für große Tech-Konzerne gemeldete Beiträge aus verschiedenen afrikanischen Sprachräumen etwa auf Swahili, Amharisch, Tigrinisch, Hausa oder Zulu. Dafür rekrutieren sie Arbeiter*innen vom ganzen Kontinent in die kenianische Hauptstadt Nairobi.
Diese Art von Jobs sind Teil der sogenannten Data-Work, Datenarbeit – einem globalen, prekären Sektor. Denn auch hinter künstlicher Intelligenz (KI) steckt im Verborgenen noch viel menschliches Tun. Geisterarbeit haben die Anthropologin Mary L. Gray und der Informatiker Siddarth Suri das genannt. Die Arbeiter markieren und generieren Daten, mit denen KI dann später arbeiten kann. Es sind ihre unsichtbaren Eingriffe, die Inhalte in gut und böse, sicher und gefährlich, einordnen und manche von ihnen imitieren auch KIs in Bereichen, in denen sie noch gar nicht zum Einsatz kommen.
Nach Schätzungen der Weltbank arbeiten zwischen 154 und 435 Millionen Menschen, manche hauptberuflich, andere nur ab und zu als Data-Worker. Insbesondere Kenia ist ein Hub auf dem afrikanischen Kontinent. Aber es ist auch einer der Orte, an dem in den letzten Jahren die Stimmen der Arbeiter*innen lauter werden, die versuchen, die Arbeitsbedingungen und Branche zu verändern. Dafür legten sie sich auch schon mit Meta vor Gericht an.
Veronica Oduor heißt eigentlich anders, aber ihr echter Name sowie ihr Arbeitgeber sollen nicht in der Zeitung stehen, aus Angst vor rechtlichen Folgen und Konsequenzen am Arbeitsplatz. Wenn sich Veronica Oduor zur Morgenschicht in Nairobi an ihren Arbeitsplatz setzt, die Kopfhörer auf den Ohren, ist sie allein mit den Inhalten, die von Nutzern gemeldet werden. Nächstes Video, die ersten Sekunden laufen. Klick. In die Mitte der Zeitleiste, das Video geht weiter. Klick. Die Entscheidung: Gefährlich oder unbedenklich? Oft bleiben ihr nicht mehr als 50 Sekunden für den gesamten Prozess, sie muss die Quote halten.
Nicht alle Inhalte sind bedenklich, aber immer wieder sieht Oduor „graphic content“, wie sie ihn nennt. Damit meint sie explizite und verstörende Inhalte: Pornografie, schwere Unfälle, Mord, brutalste Gewalt, Hetze und Vergewaltigungen. All das, was gegen die Gemeinschaftsrichtlinien der Social-Media-Plattformen verstößt.

Die Quote halten
Zeit für Pausen oder zum Nachdenken gebe es nicht. „Stattdessen sagst du dir: ‚Ich muss das schnell vergessen. Weitermachen. Die Arbeit beenden.‘ Du siehst abgetrennte Gliedmaßen und vor dir die 180 Aufgaben, die abzuarbeiten sind“, sagt Oduor. Als sie Anfang September davon erzählt, sitzt sie in der Filiale einer großen Kaffeekette in Nairobi. Ihre Stimme ist ruhig, fast monoton. Abgeklärt. Aber sie will sprechen, in der Hoffnung, dass sich dadurch etwas ändert. „Vielleicht nicht für mich, aber für die, die nachkommen.“
Veronica Oduor Arbeitgeber ist nicht direkt eine Social-Media-Plattform. Die Konzerne sourcen Arbeitsprozesse wie die Moderation an andere Unternehmen aus. Gleiches gilt für Arbeitsprozesse im KI-Bereich. Kenias Regierung will das Land weltweit zur ersten Adresse für solche Firmen machen.
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In den vergangenen zehn Jahren ist der IT-Sektor des Landes um durchschnittlich 10,8 Prozent pro Jahr gewachsen. Die Datenarbeit soll als Lösung für die hohe Arbeitslosigkeit – besonders der Jugend – dienen. Entsprechend setzt deshalb Präsident William Ruto darauf, die Rahmenbedingungen anzupassen, um die Plattformen und ihre Subunternehmen ins Land zu locken.
Das Internet hat Arbeit überall auf der Welt flexibilisiert. Die entstandene Gig-Ökonomie ist bisher aber ein Sektor, der weitgehend unreguliert ist, insbesondere in Ländern des Globalen Südens. Das und die generell niedrigeren Lohnkosten nutzen die Tech-Riesen aus. Die Soziologin und Informatikerin Milagros Miceli, die seit Jahren zu den Data-Workern recherchiert, beschreibt immer wieder, wie vor allem die digitalen, selbstständig Arbeitenden den Launen der Plattformen ausgeliefert sind. Sie müssen sich überwachen lassen. Sie werden nur pro Aufgabe honoriert, egal wie lange diese dauert. Sie bekommen ihren Lohn teilweise nicht ausbezahlt oder verlieren Projekte von einem Tag auf den anderen verlieren.
Die Bilder, die bleiben
Der hohe Leistungsdruck verschärft die Arbeitsbedingungen. Für Oduors Arbeit kommen nach Steuern etwa 42.000 kenianische Schilling bei ihr im Monat an, etwa 275 Euro. Bei einer Arbeitswoche von etwa 45 Stunden entspricht das nicht mehr als 1,52 Euro pro Stunde. Mehr als Mindestlohn in Kenia, aber immer noch sehr wenig für solch eine belastende Arbeit, beklagen die Arbeiter*innen.
Wie wichtig Contenmoderation ist, machen die aktuellen Kriege und Konflikte der Welt, durch die oft nur mehr brutale Bilder im Netz landen, deutlich. Denn wenn weniger Menschen Gewalt- und Hasspostings sehen, nimmt das den Inhalten etwas von ihrer Zerstörungskraft.
Oduor erinnert sich an eine Zeit vor wenigen Monaten, in der sie oft weinte, ohne zu verstehen, warum. Sie hörte auf, sich um ihr Äußeres zu kümmern, lag nachts wach. Dann sah sie das Bild wieder vor sich: Ein Kind, das von dem älteren Mann vergewaltigt wird. Oder ein anderes, das einen Mann zeigte: Im ersten Moment war er am Leben und blickte sie durch die Kamera an, im nächsten liegt er mit abgetrennten Gliedmaßen da. Oduor, die gläubige Christin ist, weinte und betete: „Gott, ich bin am Ende. Wenn du mich nicht wieder in Ordnung bringst, bin ich weg.“
Damals wollte sie kündigen, will es eigentlich immer noch, sagt sie. Aber sie habe auch Angst davor. Mit psychischen Problemen sei es noch schwerer einen neuen Job zu finden.
Als Oduor all das in dem Café in Nairobi erzählt, sitzt ihre kranke Mutter neben ihr. Seit einigen Monat sind die Mutter und Oduors Bruder bei ihr eingezogen, eigentlich kommt die Familie aus einem anderen ostafrikanischen Land. Zusammen kümmern die Geschwister sich um ihre Mutter. Weil es ihr heute nicht gut geht, hat Veronica Oduor sie mitgebracht zum Gespräch. Englisch versteht ihre Mutter nicht, sie denkt, ihre Tochter treffe eine Bekannte. Dass es um die Arbeit geht und was diese genau ist, weiß sie nicht. Genau wie Oduors Freund*innen, die nicht selbst in der Branche arbeiten. Sie darf es ihnen auch gar nicht erzählen.
Wie alle der digitalen Arbeiter hat auch Veronica Oduor eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben. „Aber auch wenn meine Verwandten es wüssten, sie könnten es nicht verstehen“, sagt Oduor.
Psychische Hilfe muss auch ankommen
Die Isolation hindert viele Data-Worker daran, sich psychische Hilfe zu holen. Aber das will Kauna Malgwi jetzt ändern. Die Nigerianerin ist klinische Psychologin und selbst ehemalige Contentmoderatorin bei Sama, einer Outsourcingfirma, die eigentlich einen Fokus auf KI hat, aber bis 2023 auch Aufträge für Facebook übernahm.
Seit Kurzem arbeitet Malgwi nun in einem Forschungsprojekt, das sich der Gesundheit der digitalen Arbeitnehmer*innen widmet. Sie will insbesondere erforschen, wie die Einbeziehung der Familie in der Behandlung helfen kann. Zum einen sei die Familie ein Faktor, der viele zurückhalte zu kündigen. Malgwi erklärt das so: „Für sie hatte man einen guten Job, schließlich war er in einem Büro. Und du kannst ihnen wegen der Verschwiegenheitserklärung nicht sagen, dass der Job schrecklich ist.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Durch das Forschungsprojekt erhält sie auch selbst mehr Ressourcen, um Therapien anzubieten. Bisher hat sie unentgeltlich Betroffenen in Krisensituationen geholfen, oft eher eine Erste-Hilfe-Maßnahme als eine richtige Therapie. „Manchmal ist das einzige, was ich tun kann, der Person Geld zu geben, damit sie beim Arzt Medikamente bekommt.“
Malgwi kennt die Belastung aus eigener Erfahrung. Eine Zeit lang litt sie selbst unter Panikattacken, war depressiv, nur helfen konnte ihr niemand so richtig. Auch ihre Ärzt*innen nicht – aus Angst, ihre Verschwiegenheitserklärung zu verletzen, erzählte sie nicht von ihrer Arbeit.
Traumata können vermieden werden
Dabei ist es nicht so, als wäre für die großen Outsourcingunternehmen mentale Gesundheit ein ganz neues Thema. Es gibt sogenanntes Wellnesspersonal, mit denen die Contentmoderator*innen wöchentlich sprechen könnten, nur sind diese nicht unbedingt geschult etwa im Umgang mit Traumata. Kauna Malgwi konnte ihnen nicht vertrauen, nachdem sie ihr manchmal sagten, was Kolleg*innen vor ihr erzählt hätten. Auch Veronica Oduor geht nicht mehr zu den Stunden, sie würden ihr nicht helfen.
Besserungen zur mentalen Gesundheit sind eine zentrale Forderungen der globalen Gruppe aus Gewerkschaften für Contentmoderator*innen, die sich unter dem Dach der UNI Global Gewerkschaft vereinigt haben. Neben existenzsichernden Löhnen und langfristigen Arbeitsverträgen fordern sie Zugang zu geschulten und im Bezug auf Traumata ausgebildeten Psycholog*innen, sowie Traumaschulungen für die Moderator*innen und ihre Vorgesetzten. Es dürfe keine unrealistischen Quoten und Produktivitätsziele beim Umgang mit den Materialien geben. Außerdem dürften Arbeitgeber*innen die gewerkschaftliche Organisierung nicht behindern.
Christy Hoffman, Generalsekretärin der Gewerkschaft UNI Global sagt: „Die Konfrontation mit belastenden Inhalten mag zum Moderieren dazugehören, aber Traumata müssen nicht sein.“ Andere Branchen, wie Rettungssanitäter, Polizeibeamte und Kriegsreporter hätten „seit Langem bewährte Maßnahmen zum Schutz der psychischen Gesundheit eingeführt. Es gibt keinen Grund, warum Technologieunternehmen ihre Mitarbeiter in ihren Lieferketten nicht in ähnlicher Weise schützen sollten.“
Kann das nicht die KI?
Wenn das alles so schlimm ist, könnte die Arbeit dann nicht bald eine KI übernehmen? Teilweise wird sie schon eingesetzt, aber bisher ist sie schlicht nicht gut genug. Expert*innen gehen außerdem davon aus, dass sie den menschlichen Blick nie ganz ersetzen kann. Weil Inhalte zu subtil sind, sich gesellschaftliche Standards ändern und vielleicht auch weil Kreativität, auch die der menschlichen Grausamkeit, unermesslich ist. Algorithmen werden nicht immer sicher Folter oder Missbrauch erkennen. Ein weiteres Problem ist bisher, dass es zu wenig KI-Systeme gibt, die kulturell und linguistisch differenzieren können.
Und auch das Training der KI hat eigene Tücken. Veronica Oduor hat in einem solchen Projekt gearbeitet und Tickets mit Inhalten bekommen, vor allem viele Fakeprofile. Doch auch dort gab es ab und zu verstörende Inhalte. Aber statt nur schnell die Aufnahmen zu markieren, musste sie der KI genau erklären, was auf welche Weise gegen die Richtlinien verstößt.
Diese tiefe Auseinandersetzung mit Daten und Bildern sei einer der grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Data-Labelern, also Menschen, die Daten für KI markieren oder beschreiben, und den Contentmoderator*innen der sozialen Netzwerke, erklärt Joan Kinyua. Sie ist Präsidentin der seit diesem Jahr eingetragenen Data-Labeler-Vereinigung.
Zwar hätten die Moderator*innen meist in dichterer Zahl mit verstörenden Inhalten zu tun, aber auch Data-Labeler, die sonst zum Beispiel Luftaufnahmen für Drohnentransporte analysieren und kennzeichnen, könnten damit in einem Projekt zu tun haben. „Manche von uns haben bei pathologischen Projekten zum Beispiel tödliche Wunden nachzeichnen müssen, andere haben sich monatelang Pornos angeschaut und analysiert, um Kategorien für einen verbesserten Suchalgorithmus zu vergeben“, erzählt sie.
Die Vereinigung habe Kinyua mit zehn anderen Data-Labelern gegründet, sie kannten sich aus Projekten, an denen sie gemeinsam gearbeitet hatten. Die meisten Data-Labeler arbeiten selbstständig und meist isoliert von zu Hause. Am Anfang der Initiative stand ein Aha-Moment bei einem Forschungsprojekt einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Universität Stanford. Immer wieder, wenn die Data-Labeler von ihren alltäglichen Aufgaben erzählten, sagte die Forscherin: „Aber das ist illegal.“ Erst in diesem systematischen Abfragen wurde Kinyua klar, dass die Probleme und Herausforderungen, die sie und die anderen Labeler erleben, systemisch sind.
Gemeinschaft und neue Wege sich zu organisieren
Das Projekt Kinyuas versucht vor allem, direkt die Leben der Arbeiter*innen zu verbessern. Viele kämen aus den Slums, sagt sie. Unternehmen wie Sama betonen, sie wollten Menschen aus der informellen Arbeit holen und eine Chance auf einen festen Job geben. Aber durch die fehlenden Schutzmaßnahmen bleibt die Arbeit prekär.
Daher ist es gar nicht so einfach die Mitglieder zu organisieren, denn viele hätten Angst, öffentlich sichtbar zu sein – auch aufgrund der Verschwiegenheitserklärungen. „Das ist einer der wichtigsten Gründe, warum wir uns noch nicht wohlfühlen, einer Gewerkschaft beizutreten, dann würden wir die Leute exponieren“, sagt Joan Kinyua. Also versuchen sie vorsichtig, eine Gemeinschaft aufzubauen und die Leute aus der Isolation zu holen. Noch in diesem Jahr wollten sie ein gemeinsames Treffen vor Ort abhalten.
Zugleich wollen sie aufklären über all die Dinge, die sie selbst Stück für Stück gelernt haben. Sie arbeiten an einem Code of Conduct. Eine Verpflichtung für Unternehmen, die sie freiwillig unterschreiben können. Es ist ein erster Schritt, solange die Gesetze noch nicht so weit sind. „Ich habe nicht das Gefühl, dass unsere Regierung für uns Menschen da ist, sondern sich mehr um die großen Firmen kümmert. Also müssen wir selbst für uns einstehen“, sagt Kinyua.
Joan Kinyua, Präsidentin der Data-Labeler-Vereinigung in Kenia
Manchmal fühle es sich so an, als würde die Regierung glauben, dass wir gegen sie kämpfen würden oder die Arbeitsplätze hier nicht haben wollten. „Aber das ist nicht der Fall. Die Frage ist vielmehr, welche Schutzmaßnahmen diesen Menschen zustehen. Warum schaffen wir nicht zuerst Richtlinien und Vorschriften und holen dann die Jobs ins Land?“
Damit zielt sie auch auf ein neues Gesetz ab, dass die Grundlage für Geschäfte in Kenia modernisieren soll und gezielt Regelungen für Subunternehmen der Tech-Firmen umfasst. Bei einer Pressekonferenz im August warfen sie und andere Gig-Arbeits-Organisationen im Land der Regierung vor, sie hätte sich nicht an den Gesetzgebungsprozess gehalten und das Gesetz ohne Aussprache mit der Öffentlichkeit im Senat durchgebracht.
Sie sorgen sich, dass durch das Gesetz die Tech-Giganten in Kenia nicht mehr zu Verantwortung gezogen werden könnten, sondern nur noch die Outsourcingunternehmen. Deshalb hat Joan Kinyua zusammen mit 35 weiteren Petentinnen nun Verfassungsbeschwerde eingereicht.
Vor Gericht gegen die Geister, die sie riefen
Das neue Gesetz berührt zudem einen Fall, der aktuell noch gerichtlich verhandelt wird und zu einem Präzedenzfall im Umgang mit der Gig-Economy und der Frage zu werden droht: Können internationale Plattformen verantwortlich gemacht werden?
Die Klage hat Kauna Malgwis ehemaliger Kollege, der Südafrikaner Daniel Motaung, ins Rollen gebracht. Im Rahmen einer Recherche des US-Magazins Time hat er 2022 das Schweigen der Data-Worker gebrochen. In dem Artikel und später auch in einer Klage prangerte Motaung die Konzerne Sama und Meta wegen der niedrigen Löhne, undurchsichtiger Einstellungspraktiken und seiner posttraumatischen Belastungsstörung, die sich aus der Arbeit entwickelt habe, an. Außerdem wirft er dem Unternehmen vor, seine Kündigung sei durch seinen Versuch ausgelöst worden, eine Gewerkschaft zu bilden. Sama widerspricht diesen Vorwürfen.
Motaungs Fall brachte die Selbstorganisation und die Gründungen von Gewerkschaften ins Rollen. Schließlich hatte sich jemand getraut, offen über die Arbeit zu sprechen, trotz der Verschwiegenheitserklärung. Für Kauna Malgwi hieß das: Sie könnten es auch tun. Sie und über 150 Data-Worker gründeten 2023 auf ihren Bereich spezialisierte Gewerkschaften: die African Content Moderators und Tech Worker Union. Sama beendete 2023 den Vertrag mit dem Auftraggeber Meta, Malgwi und etwa 260 Kolleg*innen wurden entlassen. Das Unternehmen sagt, dass die Entscheidung nichts mit den Whistleblowern zu tun gehabt habe, sondern rein geschäftlich war.
Meta hat sich in Reaktion auf die Klage darauf berufen, gar nicht selbst in Kenia zu operieren und mit dem Argument die Klage gegen sich angefochten. Das Netzwerk beauftrage lediglich Sama, für die Arbeitsbedingungen seien sie nicht verantwortlich. Das kenianische Arbeits- wie auch Berufungsgericht erteilten dem Argument jedoch eine Absage. Auch Metas Versuch, die Arbeit in Kenia mit einem anderen Subunternehmen fortzusetzen, scheiterte. Zunächst müsse der eine Fall geklärt werden, bevor Meta bei jemand anderen das Geschäft weiterführen könne, argumentierte das Gericht.
In der Folge stellte Meta sich in Westafrika, in Ghana, mit einem neuen Subunternehmen neu auf. Auch dort, hieß es im April im Guardian, würden die Anwält*innen einer britischen juristischen NGO eine Klage vorbereiten, wieder geht es um Bezahlung und psychische Gesundheit.
Aus diesem Grund will sich die Data-Labeler-Vereinigung genauso wie die internationale Gewerkschaftsbewegung über Ländergrenzen hinweg organisieren. Vereins-Sekretär Michael Geoffrey Abuyabo Asia sagt: „Man kann als Unternehmen nicht hierherkommen, die Rechte der Menschen hier in Kenia verletzen und wenn man darüber spricht, nach Ghana flüchten. Das bedeutet, man weiß, dass man etwas Falsches tut.“ Wenn Meta sein Geschäft in andere afrikanische Länder verlagere, dann käme die Gewerkschaft dort eben auch hin. Bis 2028 will sie Zweigstellen in allen 54 Ländern Afrikas haben.
Die Ansätze zur Vernetzung haben schon jetzt reale Folgen. Veronica Oduors Unternehmen habe zum Beispiel den Beitrag, den die Krankenversicherung deckt, erhöht. „Gewerkschaften könnten, wenn sie stark würden, wirklich durchkommen“, sagt sie. „Unser Druck kann etwas bewirken.“ Zuletzt wurden auch die Pausenzeiten verlängert. Oduor hat nun täglich fast eine Stunde mehr, um woanders hinzuschauen als auf die Bilder, die sie so schwer vergessen kann.
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