Sozialpolitik der SPD: Retten, was zu retten ist
Die SPD will den Sozialstaat bewahren statt umgestalten. Auch die eigene Wählerschaft scheut große Reformen. Was heißt das für die Partei?

Das Umfrageinstitut fragte die Wähler der einzelnen Parteien, wie man zu grundlegenden Reformen bei Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung stehe. Auffällig ist, dass die SPD-Wählerschaft am skeptischsten gegenüber weitreichenden Reformen eingestellt ist. Zu moderaten Anpassungen hingegen ist man schon eher bereit. Gegenüber großen Reformen sind SPD-Wähler aber weit zurückhaltender als die Wählerschaften aller anderen Parteien, inklusive jener der Union. Zu den Wählern der Grünen und der Linken liegen die SPD-Wähler in dieser Frage in weitem Abstand.
„Die SPD hat neben der Union die ältesten Wähler und diese fürchten ohnehin grundlegende Reformen des Wohlfahrtsstaates“, sagt Philipp Staab, Politikwissenschaftler an der Humboldt-Uni Berlin. Man wolle zwar als SPD-Wähler noch immer Veränderungen in den Sozialsystemen, doch glaube man mittlerweile selbst nicht mehr daran, dass sich diese verwirklichen ließen – mit der Union schon gar nicht, so der Berliner Forscher.
Reformen als Einschränkungen?
Und das hat seine Gründe. Reformen seien eben in den letzten 20 Jahren für viele Menschen oft gleichbedeutend mit Einschränkungen gewesen, sagt Tarik Abou-Chadi, Politikwissenschaftler an der Uni Oxford. Darauf haben sich mittlerweile viele Menschen eingestellt, so scheint es. Und offenbar auch die SPD selbst. In der Bürgergeld-Diskussion habe die SPD angefangen, rechte Kritik mit aufzunehmen, so Abou-Chadi. Auch etwa das langjährige sozialdemokratische Versprechen, weniger arbeiten zu müssen, käme schon lange nicht mehr vor. Die Folge davon: Es gäbe bei vielen Menschen mittlerweile „keine Idee davon, was SPD pur wäre“. Davon, dass die Partei etwas anders machen würde, wenn sie allein regieren könnte, so der Politologe.
Derweil setzt die Parteiführung vor allem darauf, die Merz-CDU bei den Sozialreformen auszubremsen. Robert Vehrkamp, der bei der Bertelsmann-Stiftung zu Wählermilieus forscht, erkennt darin durchaus einen aus Sicht der SPD nachvollziehbaren strategischen Versuch. Denn bei der letzten Bundestagswahl habe die SPD gerade in den mittleren und ärmeren Gruppen stark verloren, sagt er. In Letzteren hatte dann die AfD besonders zugelegt, wie Wahlanalysen zeigten. „Die SPD will nun über die Sozialstaatsdebatte diese Milieus wieder zurückgewinnen“, so Vehrkamp, „indem sie sich vor allem als Bollwerk gegen den Sozialabbau profiliert.“
Aber gewinnt man mit einer Bremserrolle dauerhaft Vertrauen zurück und kommt so durch die großen gesellschaftlichen Umbrüche? „Die SPD weiß nicht, wie sie mit der Überalterung, dem ökologischen Modernisierungsprozess und dem Druck auf den Wohlfahrtsstaat, der ihr Markenkern ist, umgehen soll“, sagt Philipp Staab von der Humboldt-Uni. Zwar könnten in aktuellen Polykrisen kaum noch große Pläne abgearbeitet werden, weil immer mehr Ereignisse den politischen Prozess bestimmten. Doch umso mehr müssten die Parteien, wenn sich dann mal Gelegenheiten ergäben, „strategisch vorbereitet und taktikfähig sein“, so der Berliner Politikwissenschaftler. „Was die SPD aber nicht ist.“
Viele progressive Wähler haben die Partei verlassen
Unterdessen habe dieser Mangel an einer Erzählung, bei der „eine grundlegende Veränderung eine Verbesserung darstellen würde“, zu etwas anderem geführt, sagt Tarik Abou-Chadi von der Uni Oxford: Progressive Wähler, die umfassendere Reformen befürworten, hätten größtenteils die SPD in Richtung der Grünen und der Linken verlassen.
Das bringt die SPD in eine Zwickmühle: Linke und Grüne können nun in der Opposition leicht entweder als die besseren Bewahrer des Sozialstaates oder als die klügeren Reformer auftreten. Einfacher, als die SPD es in der Regierung kann. Und ob die SPD zur AfD abgewanderte Wähler zurückgewinnen und dauerhaft bei sich halten können wird, bleibt abzuwarten. Auf ihren aktuellen Wählern wird sich die SPD mit derzeit 14 Prozent jedenfalls kaum ausruhen können.
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