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Sie sind zum Gespräch in die taz gekommen: der ehemalige Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby, der Schüler Leopold Rosenow, die Schriftstellerin Manja Präkels und eine Sozialarbeiterin, die anonym bleiben möchte Foto: Doro Zinn

Rechtsruck bei Jugendlichen„Demokratie ist ein Schimpfwort geworden“

Geht in Ostdeutschland gerade eine ganze Generation Jugendlicher an die Rechten verloren? Ein Gespräch mit vier Menschen, die das verhindern wollen.

S echs Personen, ein runder Tisch in einem Konferenzraum der taz. Gekommen sind der ehemalige SPD-Politiker Karamba Diaby aus Halle (Saale), er war der erste in Afrika geborene Schwarze Bundestagsabgeordnete, wurde mehrfach attackiert und hat sich 2024 nicht wieder zur Wahl gestellt; daneben die Schriftstellerin Manja Präkels, die in den Neunzigern in Brandenburg die Baseballschlägerjahre erlebt und darüber geschrieben hat. Heute gibt sie politische Workshops an Schulen im Osten. Der Schüler Leopold Rosenow ist aus Dresden angereist, er ist dort aktiv bei der Initiative „Schülis gegen Rechts“. Juliane Leuschner, die unter diesem Pseudonym spricht, ist in der Jugendbildungsarbeit in Rostock tätig. Fast zwei Stunden werden die vier Gäs­t:in­nen mit den taz-Moderator:innen diskutieren.

taz: Die Zahl der rechtsextremen Straftaten ist im vergangenen Jahr massiv angestiegen, die Neonazi-Szene wächst, regelmäßig werden rechtsextreme Terrorgruppen festgenommen oder verboten. Was spüren sie davon in Ihrem Alltag?

Manja Präkels: Ich bin viel an Schulen unterwegs, gebe Workshops und lese aus meinen Büchern. Da beobachte ich seit etwa drei Jahren, dass die Kinder und Jugendlichen wieder genauso aussehen wie die, vor denen ich in den neunziger Jahren weggelaufen bin. Zum Teil sind es wohl deren Kinder. Die tragen Glatze und Bomberjacke wie ihre Väter. Anfangs erschien mir das vor allem absurd, weil ja die Rechtsextremen in den letzten Jahren zunehmend auf bürgerliche Camouflage setzen, und das äußerst erfolgreich. Andererseits braucht es wohl auch Drohpotenzial, wenn man Dominanz ausstrahlen will.

Leopold Rosenow: Was ich sehe, ist, dass junge Leute Nationalsozialismus und Rassismus teilweise extrem witzig finden. Bei uns an der Schule gab es den Fall, dass ein Achtklässler in einer Sport­umkleide stand und eine Wahlkampfrede von Hitler rezitiert hat. Und keiner hat etwas gesagt. Dazu kommen die Symbole: Hakenkreuze werden in Schultische geritzt, bei unseren Kitteln für den Chemieunterricht ist es normal, dass irgendwo jemand eine kleine 88 reingeschrieben hat.

wochentaz

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taz: Herr Diaby, Sie haben sich aus dem Bundestag zurückgezogen, arbeiten aber weiter ehrenamtlich. In Sachsen-Anhalt, wo Sie leben, steht die AfD laut Umfragen gerade bei 39 Prozent. Was merken Sie tagtäglich davon?

Karamba Diaby: Auf den Straßen in Halle erlebe ich keinen Rassismus, zumindest keine physische Gewalt. Etwas ganz anderes ist es in den sozialen Medien. Als ich noch Bundestagsabgeordneter war, haben Hass und Hetze gegen mich massiv zugenommen. Ich habe täglich E-Mails mit Beleidigungen und Drohungen bekommen. Wir kamen nicht hinterher, die zu löschen und zur Anzeige zu bringen.

taz: Physische Gewalt wird nicht gegen Sie ausgeübt? Auf Ihr Büro ist 2020 geschossen worden, bei einem Brandanschlag 2023 ist es vollständig ausgebrannt.

Diaby: Das stimmt, aber direkte physische Gewalt gegen meine Person erlebe ich nicht. Es ist paradox: Ich wurde dreimal hintereinander direkt gewählt in meinem Wahlkreis in Halle, die Journalisten haben mich „Stimmenkönig von Sachsen-Anhalt“ genannt. Ich hatte extremen Rückhalt. Und gleichzeitig haben Morddrohungen für mich zuletzt zum Alltag gehört. Seit ich aus dem Bundestag ausgeschieden bin, poste ich nichts mehr in den sozialen Medien. Seitdem habe ich keine einzige Hassnachricht mehr bekommen.

Manja Präkels, 50, lebt als Schriftstellerin und Musikerin in Berlin und Brandenburg, wo sie aufgewachsen ist und die sogenannten Baseballschlägerjahre erlebte. 2017 schrieb sie einen der bekanntesten Romane über diese Zeit („Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“) Foto: Doro Zinn

taz: Wie ist die Situation in Rostock?

Juliane Leuschner: Ich bin wie Manja Präkels in den neunziger Jahren in Ostdeutschland groß geworden und damals als kleine Punkerin durch die Straßen gejagt worden. Ich kenne das Gefühl, dass der öffentliche Raum kein sicherer Ort ist. Und mein Eindruck ist, dass das gerade wiederkommt. Sei es durch Nazi-Aufkleber, die überall kleben, selbst am Strand, in den Touristenorten. Und auch dieser Stolz, den viele junge Neonazis vor sich hertragen. Ich mache seit 15 Jahren politische Bildung. Vor zehn Jahren haben die Leute noch gesagt: „Ich bin kein Rassist, aber“. Heute sagen sie: „Ja, ich bin Nazi, und das ist gut so!“

taz: Frau Leuschner, Sie wollen, dass wir nicht Ihren echten Namen nennen, sondern für das Interview ein Pseudonym verwenden. Warum?

Leuschner: Jugendarbeit, vor allem im Osten, ist extrem unter Druck. Bildungsarbeit wird in der Regel nicht langfristig finanziert. Wir springen von Projekt zu Projekt und sind abhängig von öffentlichen Geldern und von Kooperationspartnern. Gleichzeitig kommt gerade von rechts in letzter Zeit immer häufiger die Forderung, wir müssten politisch neutral sein.

Leopold: Dieses Spiel mit der politischen Neutralität kenne ich auch aus Sachsen. Da wird dann gesagt, Schule habe neutral zu sein, Leh­re­r:in­nen dürften sich politisch nicht positionieren. So unterdrückt man jede Form von demokratischer Bildung. Denn Schule ist natürlich ein hochpolitischer Ort.

Leuschner: Politische Bildung ist nie neutral. Wir haben den Beutelsbacher Konsens, der besagt, Kinder und Jugendliche sollen in die Lage versetzt werden, die politische Lage in ihrem Interesse zu analysieren und beeinflussen. Wir Sozialarbeiter können also durchaus Stellung beziehen. Mittlerweile müssen wir aber um unsere Finanzierung fürchten, wenn wir uns zu weit aus dem Fenster lehnen. Auch das ist für mich Teil des Rechtsrucks.

Präkels: Ich finde es skandalös, dass Sie hier nicht mit Ihrem Namen sprechen können, aus Angst, dass Ihnen dann das Geld gekürzt wird. Leute wie Sie machen so eine fundamentale Arbeit. Die müsste eigentlich längst fest im Bildungssystem verankert sein. Und Sie müssten ganz klar reden können, mit einer starken Institution hinter Ihnen. Stattdessen haben wir eine Bundesregierung, die dem rechten Rand oft nach dem Mund redet und Bündnisse für Demokratie des Linksextremismus verdächtigt.

Ich sehe diese jungen Radikalen, und mir krampft das Herz

Manja Präkels, Schriftstellerin

taz: Es gibt vermehrt auch Angriffe auf zivilgesellschaftliche Institutionen, eine Welle der Gewalt. Erleben wir gerade neue Baseballschlägerjahre?

Diaby: Die neunziger Jahre waren eine Zeit des Horrors. Es gab Pogrome und die vielen rassistischen Morde. Ich selbst bin angegriffen worden von Jugendlichen in Halle, am 28. Mai 1990 um 21.30 Uhr. Diese Welle an Gewalt dauerte bis Ende der neunziger Jahre. Seit etwa zehn Jahren beobachte ich, wie Rassismus und Rechtsextremismus kontinuierlich wieder ansteigen. Und trotzdem: Bei der Brutalität der neunziger Jahre sind wir heute nicht.

Präkels: Mich erinnert vieles an damals, auch jenseits der Gewalt. Als junge Reporterin Anfang der neunziger Jahre in Brandenburg habe ich erlebt, wie reihenweise Jugendeinrichtungen geschlossen wurden. Diese Angebote sind nicht wiedergekommen, und wenn, dann sind die jetzt von Kürzungen bedroht. An vielen Schulen, die ich besuche, gab es zuletzt keinen musischen Unterricht, weil die Lehrer fehlen. Gerade der musische Unterricht, in dem die Menschwerdung im Vordergrund steht, in dem man sich austauschen kann, ohne Worte, genau der fehlt. Es fehlen Fach­leh­re­r:in­nen auch in Politischer Bildung. Also ich sehe diese jungen, radikalen Leute heute und mir krampft das Herz. Ich nehme diesen unbändigen Hass in ihnen wahr, und ich denke, bis zu diesem Punkt in ihrem Leben muss ja schon unglaublich viel passiert sein, was läuft hier alles schief?

Juliane Leuschner nahm unter Pseudonym an diesem Gespräch teil. Sie leistet Jugendbil- dungsarbeit in Rostock Foto: Doro Zinn

taz: Sie haben in einem Text geschrieben, die Situation heute sei schlimmer als in den neunziger Jahren. Wie meinen Sie das?

Präkels: Was ich heute in Ostdeutschland wahrnehme, ist etwas Atmosphärisches: Da ist eine Sprachlosigkeit, es wird nicht mehr geredet, nicht gestritten. Auch die Leh­re­r:in­nen in den Schulen sagen mir, die Schüler würden nicht streiten, sie seien so unpolitisch. Das ist natürlich Quatsch. Was wir daran sehen, ist eher eine bizarre Idee von Neutralität. Als könne man gegenüber Faschismus und Gewalt neutral sein. Das kommt zwar aus den neunziger Jahren, ist heute aber zu einer Art Grundhaltung geworden – leider auch bei vielen Eltern und Lehrer:innen.

taz: Warum sind Nazis wieder cool?

Diaby: Weil die Rechtsextremen und besonders die AfD die sozialen Medien viel besser beherrschen als wir. Das Internet ist der zentrale Ort, an dem sich junge Menschen radikalisieren. Und da ist die AfD tonangebend.

taz: Ist das nicht ein bisschen einfach?

Leuschner: Es spielt auf jeden Fall eine große Rolle. Ich war in dieser Woche in einer Schulklasse und wir haben über das Attentat auf Charlie Kirk gesprochen.

taz: … den rechtsextremen US-amerikanischen Influencer.

Leuschner: Genau. Ich kannte die Person vor dem Attentat gar nicht. Aber die Jugendlichen kannten ihn seit Monaten oder Jahren. Das hat mich erstaunt. Ich mache politische Bildung, ich verfolge die Nachrichten, und trotzdem lebe ich offenbar in einer ganz anderen Welt als diese Jugendlichen.

Präkels: Ich habe mir schon in den Neunzigern viele Gedanken gemacht, warum Freun­d:in­nen über Nacht zu mordgeilen Zombies geworden sind. Wie konnte so plötzlich aus Freundschaft Feindschaft werden? Ein Punkt, auf den ich gekommen bin, ist, dass meine Mit­schü­le­r:in­nen das Unausgesprochene ihrer Eltern, deren Ängste, deren geistige Unbehaustheit, unreflektiert übernommen haben. Heute stehen wir wieder vor radikalen Umbrüchen, die vielen Menschen Angst machen. Eine Angst, die von der AfD permanent bestätigt und geschürt wird. Die radikalisierten Kinder führen also letztlich das aus, was sich Erwachsene nicht trauen.

Karamba Diaby, 63, war SPD-Bundestagsabgeordneter und kommt aus Halle (Saale). Sein Wahlkreisbüro wurde mehrfach von Rechtsextremen attackiert. 2024 zog er sich aus der Politik zurück Foto: Doro Zinn

Leuschner: Was mich auch an die Neunziger erinnert, ist diese Ohnmacht der Erwachsenen. Ich bekomme oft Anrufe von Leh­re­r:in­nen oder Sozialarbeiter:innen, die mir sagen: „Wir hatten einen Vorfall, wissen aber nicht, was wir machen sollen. Bitte kommen Sie und helfen Sie uns.“

Leopold: Das kann ich bestätigen. Zu unserem „Schülis gegen Rechts“-Plenum kam ein 12-Jähriger und hat uns sehr verzweifelt erzählt, dass Mitschüler ihn mobben und Gewalt androhen. Und das, weil er „Fuck AfD“ auf seinen Block geschrieben hat. Er ist wohl wirklich der einzige Mensch in der Klasse, der sich offen gegen Rassismus stellt. Er ist damit zu seinen Lehrkräften gegangen, das hat es offenbar noch schlimmer gemacht. Am Ende hat ihm der Schulleiter einen Verweis angedroht, mit der Begründung, Schule sei kein politischer Ort, „Fuck AfD“ gehöre hier nicht hin. Er sollte also bestraft werden und nicht etwa die Schüler, die ihm Schläge angedroht haben.

taz: Frau Leuschner, was machen Sie, wenn Sie in eine Klasse gerufen werden, in der es stramm rechte Jugendliche gibt?

Leuschner: Wir haben gemerkt, dass wir dafür neue Ansätze brauchen. Präventionsarbeit, so wie wir sie bisher gemacht haben, hilft in solchen Fällen nicht mehr weiter. Wenn ich eine Gruppe habe mit Jugendlichen, die stramm rechts sind, dann muss ich denen nicht sagen, was Rassismus ist. Das finden die lächerlich.

taz: Sondern?

Leuschner: Es sind ja nie alle rechts in einer Klasse. Also trennen wir die rechtsextremen Jugendlichen von denen, die gestärkt werden müssen. Denn die, die Schutz brauchen, müssen auch einen Raum haben. Mit den rechtsextremen Jugendlichen machen wir vor allem Biografiearbeit. Es geht also darum, dass sie ihre Lebensgeschichte reflektieren, um zu verstehen, wie sie zu ihren Positionen kommen. Wir hören zu, statt zu erklären. Wir fragen die Jugendlichen: Welche Folgen hat dein Handeln? Wichtig ist, überhaupt ins Gespräch zu kommen.

Es entstehen Räume, in denen Jugendliche ihre eigenen Widersprüche reflektieren

Juliane Leuschner, Sozialarbeiterin

taz: Und dabei machen die Jugendlichen mit?

Leuschner: Am Anfang kommt oft Abwehr oder Provokation. Aber wenn wir konsequent beim Zuhören bleiben, entstehen Räume, in denen die Jugendlichen anfangen, über ihre eigenen Widersprüche nachzudenken. Genau das ist der Kern der Distanzierungsarbeit: nicht belehren, sondern ins Gespräch kommen und dadurch Bewegung ermöglichen.

Präkels: Ich erlebe das ähnlich. Wenn mir ein Schüler den Hitlergruß zeigt, dann frage ich ihn, warum er das macht. Da merke ich dann oft viel Unsicherheit und Not. Die haben das übernommen von Mitschülern oder von dem großen Bruder, können es aber gar nicht richtig erklären. Also eigentlich sehe ich jemanden, der mich etwas fragen möchte, aber nicht die richtigen Worte findet. Da kann man noch was tun. Also bevor sich Unsicherheit und Not verpanzern.

Leopold Rosenow, 16, ist Schüler in Dresden. Er ist aktiv in der Gruppe „Schülis gegen Rechts“ und hat an einem Bundeskongress mitgewirkt, den diese Schüler:innen-Initiative im September in Dresden abgehalten hat Foto: Doro Zinn

taz: Das klingt sehr verständnisvoll. Aber muss man nicht auch ei­ne:n 13-Jährige:n in die Verantwortung nehmen?

Leuschner: Natürlich. Grenzen setzen ist wichtig. Was in letzter Zeit extrem zugenommen hat, ist Holocaustleugnung. Da sitzen Schüler, 13-jährige zum Teil, und sagen mir ins Gesicht: „Das mit Auschwitz, das war doch gar nicht so schlimm. Die haben doch alle freiwillig da gearbeitet. Und wenn sie umgebracht wurden, dann haben sie wohl nicht gut gearbeitet.“ Die sagen das ganz locker und cool, das ist antrainiert. Die ersten Male hat mich das richtig geschockt.

taz: Wie reagieren Sie darauf?

Leuschner: Ich sage, dass Holocaustleugnung eine Straftat ist, und beende erst mal das Gespräch. Später versuche ich schon, mit dem Jugendlichen noch mal allein ins Gespräch zu kommen. Aber wir sind auch dazu übergegangen, nach solchen Fällen die Erwachsenen stärker in die Pflicht zu nehmen. Leh­re­r:in­nen müssen Antworten finden auf menschenverachtende Einstellungen. Sie müssen fit sein, solche Situationen zu erkennen. Und mutig, um ihnen zu widersprechen.

Diaby: Die Arbeit, die Sie da in den Schulen leisten, ist so wichtig. Dass sie nicht dauerhaft finanziert wird, ist schlimm. Das zeigt mir wieder: Wenn es uns nicht gelingt, die Demokratieförderung auf ein hohes Niveau zu bringen, dann haben wir versagt. Demokratie ist Daueraufgabe, und Daueraufgabe braucht Dauerförderung. Es ist ein Armutszeugnis, dass wir heute immer noch auf ein Demokratiefördergesetz warten.

Probleme in Zahlen

Erschreckender Rekord: Das Bundeskriminalamt hat für 2024 einen Höchststand an rechtsextremistischen Straftaten gemessen: 42.788 Delikte wurden in Deutschland gezählt, 48 Prozent mehr als im Vorjahr. Auch bei Gewaltstraftaten gab es eine Steigerung auf 1.488 Delikte (plus 17 Prozent). Opferberatungsstellen gehen davon aus, dass nicht alle Taten erfasst werden.

Mehr Rechtsextreme, mehr Gewaltbereite: Beim Potenzial rechtsextremistischer Personen hat der Verfassungsschutz für 2024 einen deutlichen Anstieg von 40.600 auf 50.250 Personen registriert, davon sind 25.000 in Parteien organisiert. 15.300 Personen ordnet der Verfassungsschutz als „gewaltorientiert“ ein, im Vorjahr waren es 14.500.

AfD-Jungwähler: Bei den 18- bis 24-Jährigen war die AfD mit 21 Prozent bei den Bundestagswahlen im Februar zweitstärkste Kraft (Frauen 14, Männer 27 Prozent), nur die Linken kamen mit 25 Prozent auf mehr Stimmen in dieser Altersgruppe. Die AfD hat hier fast 15 Prozentpunkte hinzugewonnen, bei der Bundestagswahl 2021 lag sie bei nur 6,4 Prozent.

Gender: Bei der Shell-Jugendstudie 2024 hat sich ein Viertel der Jungen und Männer zwischen 12 und 25 Jahren als eher rechts oder rechts eingeordnet (2019 weniger als ein Fünftel). Bei den Mädchen/Frauen waren es 11 Prozent. 55 Prozent der Jugendlichen insgesamt bezeichneten sich als „politisch interessiert“, viel mehr als noch in den neunziger und nuller Jahren.

Demokratiemüdigkeit: Laut der Leipziger Autoritarismus-Studie 2024 sind nur 45,5 Prozent der Menschen aller Altersgruppen im Westen und 29,7 Prozent im Osten damit zufrieden, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert. Fast je­de:r zweite Ost­deut­sche:r stimmte der Aussage zu, die „Ausländer“ kämen „nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“ (West: 33,2 Prozent).

Demokratie und junge Menschen: Laut der Shell-Jugendstudie 2024 sind 75 Prozent der Menschen zwischen 12 und 25 Jahren mit der Demokratie eher oder sehr zufrieden, dabei gibt es allerdings einen großen Unterschied zwischen Ost (60 Prozent) und West (77 Prozent). Im Osten ist der Wert seit der letzten Erhebung im Jahr 2019 gefallen.

Ausländerfeindlichkeit Ost/West: Bei der Leipziger Autoritarismus-Studie 2024 stimmten 31,1 Prozent der Menschen im Westen und 44,3 Prozent im Osten der Aussage voll („manifest“) zu, dass „die Bundesrepublik durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ sei. Das entspricht einem Wert von 33,8 Prozent für Gesamtdeutschland.

Informationen: Die Quellen, über die sich 14- bis 24-Jährige politisch bilden, unterscheiden sich deutlich von denen anderer Altersgruppen. Die sozialen Medien kommen hier auf einen Wert von knapp 60 Prozent, mehr als doppelt so viel wie in allen anderen Altersgruppen. Häufiger genannt werden als Informationsquellen nur „das Internet“ generell und der Wahl-O-Mat.

taz: Die SPD ist seit zwölf Jahren an der Regierung beteiligt. Wieso hat Ihre Partei das nicht längst umgesetzt?

Diaby: Sie können sich doch sicher vorstellen, an wem das in der aktuellen Koalition scheitert. Nicht an uns.

taz: Aber Sie waren auch vorher in der Regierung. Die Ampel wäre die Chance gewesen, das durchzusetzen.

Diaby: Wir hatten im Koalitionsvertrag vereinbart, die Demokratieförderung langfristig abzusichern. Das ist in der letzten Minute an der FDP gescheitert, weil sie fand, es sei nicht Aufgabe des Staates, sich überall einzumischen. So ein Schwachsinn. Aber ja, Sie haben recht: Wir haben da versagt.

Präkels: Und nun sind wir in einer Situation, in der es Gegenden gibt, nicht nur in Ostdeutschland, aber da vor allem, wo die Leute sagen: „Wie soll das heißen? Demokratieförderung? Um Gottes willen, so dürfen wir das nicht nennen!“ Demokratie ist zu einem Schimpfwort geworden, genau wie schwul, Jude oder queer, und das nicht erst seit der Ampel.

taz: Und trotzdem ist es noch ein weiter Schritt vom verlorenen Vertrauen in die Demokratie hin zu rechtem Terror. Leopold, in jüngerer Zeit wurden immer wieder mutmaßliche rechtsextreme Terrorgruppen aufgedeckt, deren Mitglieder zum Teil so alt wie du waren. Wie erklärst du dir das?

Leopold: Es ist natürlich traurig, aber für mich macht das Sinn. Ich beobachte, dass sich viele Jugendliche politisch machtlos fühlen. Nicht, dass ich rechten Terror gutheiße, aber ich verstehe, wie man dahin kommt, zu sagen: Uns hört eh keiner zu, wenn wir wollen, dass sich etwas grundlegend ändert, dann geht das nur mit Gewalt.

taz: Sind es eher die männlichen Jugendlichen, die sich rechtsextremen Gruppen zuwenden?

Leopold: Ja, ich glaube schon. Diese Jungs haben oft wenig Selbstbewusstsein, in dem Alter zwischen zehn und vierzehn Jahren suchen sie nach Vorbildern und finden sie bei den Rechtsextremen, die ein einfaches Identifikationsangebot machen. Da geht es zunächst darum, aufgenommen und wahrgenommen zu werden, nicht so sehr, diese politische Ideologie zu verbreiten. Als Opfer dürfen sie natürlich trotzdem nicht betrachtet werden, auch sozialer Druck entschuldigt kein rechtsextremes Verhalten.

Leuschner: In den jugendlichen Subkulturen wird wieder ein heroisches Männlichkeitsideal propagiert, das auf manche Jungs sehr anziehend wirkt. In der Musikkultur, der Popkultur, der Fankultur. Auf diesen Feldern hat sich das Phänomen der Manosphere ausgebreitet, frauenverachtendes Verhalten erleben wir dort in einer Weise, wie wir es zuvor nicht erlebt haben.

taz: Man kann den Eindruck bekommen, da geht gerade eine ganze Generation an den Rechtsextremismus verloren. Sehen Sie das auch so?

Präkels: Wir können von Glück sagen, wenn es am Ende nur eine Generation ist. Die Zeitläufte sind gegen uns. Nicht nur in den USA, sondern auch bei unseren europäischen Nachbarn wird Antifaschismus zunehmend kriminalisiert. Nicht etwa Faschismus, nein, Antifaschismus. Das ist irre.

Leuschner: Die Gefahr ist real, und wir dürfen sie nicht kleinreden. Aber ob eine ganze Generation verloren geht, hängt stark davon ab, wie wir als Gesellschaft reagieren, also ob wir Gegenangebote machen, ob wir Jugendlichen Anerkennung und Teilhabe ermöglichen. Rechtsextremismus wird nicht naturwüchsig stark, er wächst da, wo andere Angebote fehlen. Nein, verloren ist diese Generation nicht. Aber wenn wir Jugendlichen keine attraktiven Gegen­angebote machen, überlassen wir ihnen das Feld. Rechtsextreme füllen genau die Lücken, die wir offen lassen.

Diaby: Ich glaube auch nicht, dass die Generation verloren ist. Die Situation ist besorgniserregend, aber „verloren“ würde bedeuten, es ließe sich nichts mehr dagegen tun. Das glaube ich nicht, wir Demokraten sind noch immer in der Mehrheit. Aber umso wichtiger ist es, dass viel mehr Leute für die Demokratie einstehen. Rassismus und Rechtsextremismus muss widersprochen werden, am Arbeitsplatz, beim Sport und bei Omas achtzigstem Geburtstag.

taz: Leopold, wie fühlt es sich für dich an zu wissen, dass Jugendliche in deinem Alter zu so viel brutaler Gewalt fähig sind? Du engagierst dich gegen Rechtsextremismus und bist eindeutig als Linker erkennbar.

Leopold: Ich habe keine Angst, selbst angegriffen zu werden. Ich bin nachts nicht alleine unterwegs und bewege mich eh vor allem in der Innenstadt und Neustadt von Dresden. Ich habe aber natürlich Angst davor, dass sich das, was diese jungen Neonazis wollen, in echte Politik umsetzt. Wenn Rassismus und Queerfeindlichkeit irgendwann von oben aus dem Bundestag kommt, das wäre furchtbar.

taz: Bei der Bundestagswahl 2021 haben die Erst­wäh­le­r:in­nen vor allem Grüne und FDP gewählt. Bei der Bundestagswahl 2025 haben sie AfD und Linke gewählt. Wie kam es zu der Verschiebung?

Präkels: Wie ist denn reagiert worden auf die engagierten grünen Jugendlichen? Auf Fridays for Future und später die Letzte Generation? Die Jugendlichen haben versucht, aus ihrer Hilflosigkeit einen Move zu machen, und sind kriminalisiert und schlechtgeredet worden, voller Häme und Gemeinheit. Bei der AfD erfahren junge Leute dagegen Unterstützung und werden ernst genommen. Hier haben sie das Gefühl, die Gesellschaft tatsächlich verändern zu können. Leider zum Schlechteren.

Diaby: Gegen Klimaengagement zu sein, ist doch heute Mainstream. Da haben die Rechts­po­pu­lis­t:in­nen ganze Arbeit geleistet, die Themen Klimaschutz und globale Gerechtigkeit ins Lächerliche zu ziehen. Schauen Sie sich an, wie erfolgreich Markus Söder mit seinen Wurst-Videos ist. Das Problem ist, dass diesen Leuten niemand widerspricht. Das macht natürlich Eindruck auf die jungen Leute.

Präkels: Wir haben ein allumfassendes, strukturelles Problem, was die Position von Kindern und Jugendlichen und deren Wert in dieser Gesellschaft betrifft. Wenn ein neuer Kanzler antritt, dann erwartet schon niemand mehr, dass er irgendein Wort über Kinder und Jugendliche sagt. Warum eigentlich nicht? Über die müsste er doch als Erstes sprechen. Es wird immer viel geredet von der Zukunft. Aber was wird denn getan für die Menschen, die die Zukunft gestalten sollen? Was ist das für ein Gefühl, als junger Mensch in diesem Land aufzuwachsen? Offenbar kein sehr wertschätzendes.

taz: Gibt es heute denn auch grundlegende Unterschiede zu den neunziger Jahren?

Diaby: Der große Unterschied ist, dass mit der AfD eine Partei im Bundestag, in den Landtagen und den Kommunen sitzt, die das Sprachrohr für die gewaltbereiten Neonazis ist. Die AfD bereitet den Nährboden für die Gewalt auf der Straße. Wir hatten auch in den Neunzigern starke rechtsextreme Parteien. Bei den Landtagswahlen 1998 ist die DVU mit 13 Prozent eingezogen. Das war aber eine temporäre Sache, die haben sich in kurzer Zeit so zerfleischt, dass sie nach einer Wahlperiode wieder rausgeflogen sind. Das sehe ich bei der AfD leider nicht kommen.

Präkels: Es gibt allem Gegenwind zum Trotz zum Glück heute überall und flächendeckend engagierte Menschen. Es gibt Institutionen, wenn auch prekär, geschulte Leute, psychologische Betreuung, Opferberatung. Sogar die Entdeckung der Psyche hat auch in Ostdeutschland endlich stattgefunden! In den Neunzigern sind unglaublich viele Leute in Krisen gestürzt, ohne dass man nach psychologischen Erklärungen gesucht hat. Die zarten institutionellen Pflänzchen sind zwar schon wieder massiv bedroht, aber es gibt diese Menschen. Ich erlebe schon auch, dass Jüngere ihre Sorgen und Nöte heute viel besser artikulieren können. Mag es auch die Minderheit sein, es gibt Momente, da denke ich: Wow, so selbstbewusst war ich damals nicht. Da merkt man, dass 35 Jahre vergangen sind. Also im positiven Sinne.

Diaby: Ja, es gibt die Engagierten. Aber mir fehlt ein großer Konsens der Mehrheitsgesellschaft für die Demokratie. Die vielen Demos Anfang vergangenen Jahres waren toll. Aber in den Neunzigern gab es große Konzerte für die offene Gesellschaft, in Frankfurt und Köln. Da haben Mainstream-Künstler:innen gespielt, vor 150.000 Besucher:innen. Wo sind die heute? Warum bekennen sich nicht Musiker:innen, Schriftsteller:innen, In­flu­en­ce­r:in­nen in den sozialen Medien zur Demokratie? Könnte nicht die taz so was anstoßen?

taz: Das ist nicht gerade unser Kerngeschäft …

Diaby: Ja, ja, jetzt reden Sie sich raus. Aber ich glaube, es ist wichtig, dass die prodemokratischen Leute sehen, dass sie nicht in der Minderheit sind. Was es auch gab in den neunziger Jahren, waren Lichterketten für die Demokratie im ganzen Land. Das war ein gutes Format, bei dem man auch den Nachbarn und die Nachbarin informieren kann. Das ist spektakulär, vor allem im Social-Media-Zeitalter.

Präkels: Ich finde das eine schöne Idee mit den Konzerten. Aber die Wahrheit ist doch, dass wir in vielen Regionen tatsächlich in der Minderheit sind. Ich war auf der „Wir sind mehr“-Tour vor zwei Jahren dabei, und es war deprimierend, mit diesem Motto auf dem Marktplatz irgendeiner ostdeutschen Stadt vor weniger als hundert Menschen zu stehen. Weil es dort einfach ein Pflaster ist, in dem es viel Mut kostet, sich zur Demokratie zu bekennen.

taz: Was lässt sich denn aus den Neunzigern lernen: Auf was und wen kommt es an?

Präkels: Stärkung der Schwachen! Die Antwort auf die rechtsextreme Gewalt der neunziger Jahre hieß: akzeptierende Jugendarbeit. Man hat die Nazis einfach angenommen, ihre Jugendzentren und sogar Propagandapublikatio­nen finanziert, sie unterstützt – in dem Glauben, dann fänden sie schon allein den Weg zurück. Das ist grandios gescheitert. Heute müssten daher die gestärkt werden, die potenziell von rechtsextremer Gewalt betroffen sind. Aber offenbar fehlt der politische Wille.

Leuschner: Wenn ich die Lebenssituation vieler Kinder und Jugendlicher in Schwerin und Rostock sehe, dann verstehe ich deren Verzweiflung. Viele leben in absoluter Armut. Die resignieren. Deshalb glaube ich, es muss das komplette Gegenteil passieren von dem, was wir gerade erleben: kein Herbst der Reformen, kein Sozialabbau, sondern eine massive Sozialstärkung.

Wir wollen, dass sich noch mehr ‚Schülis gegen Rechts‘-Ortsgruppen bilden

Leopold Rosenow, Schüler

taz: Das klingt einleuchtend. Aber die Realität ist doch eine andere: Die AfD träumt von der Alleinregierung in Ostdeutschland, die aktuelle Koalition hat keine vernünftigen Pläne, Kinder aus der Armut zu holen, für gute Jugendarbeit fehlen Geld und Personal. Sehen Sie da irgendeinen Hoffnungsschimmer?

Leuschner: Ja, es ist düster. Aber ich erlebe auch, dass sich Leute zusammenschließen, neue Bündnisse und Initiativen entstehen, von einer kleinen Antifa-Gruppe bis zu Künst­le­r:in­nen auf dem Dorf. Bei denen wächst ein Verständnis dafür, dass es nicht reicht, die eigene Blase zu bespielen, sondern dass wir es schaffen müssen, die Mehrheit hinter uns zu versammeln.

Leopold: Der Vernetzungsgedanke treibt auch uns an. Wir bei den „Schülis gegen Rechts“ arbeiten gerade an einem Plan, wie wir auch bundesweit aktiv werden können. Wir laden gezielt auch Menschen ein, die noch nicht organisiert sind, damit bundesweit noch mehr Ortsgruppen entstehen.

Präkels: Ich merke auch, dass sich etwas bewegt. Neulich hat mich die Vorsitzende eines Elternbeirates angesprochen und um Hilfe gebeten. Sie wollte, dass die Eltern geschult werden, und sagte: „Wir sind doch die Antifa.“ Sie hat diesen Begriff als Utopie benutzt, also nicht mit einem linksradikalen Duktus, sondern ganz klar als demokratischen Grundkonsens. „Selbstverständlich müssen wir Antifaschisten sein. Wir als Eltern wollen, dass unsere Kinder Antifaschisten sind.“ Das zu hören, in dem Tonfall, das hat mich begeistert.

taz: Das klingt in der Tat hoffnungsvoll.

Leuschner: Ja, aber es kommt auch wirklich auf die Einzelnen an. Ich habe mich mit Freunden zusammengetan, wir haben solidarische Nachbarschaften für einige Stadtteile entwickelt. Wir klopfen an die Haustüren und laden die Leute zu Nachbarschaftstreffen ein. Das klingt erst mal banal, aber da sind dann so 40 bis 50 Leute gekommen. Deren großes Thema war Einsamkeit. Ja, da kommen dann auch mal Ressentiments hoch. Aber wichtig ist erst mal zu erkennen, dass das ganz unterschiedliche Leute sind. Wir machen jetzt mit ihnen verschiedene Aktionen wie Müllsammeln, Spieleabende, wir gestalten selber Flyer und so weiter. Das ist natürlich Arbeit im Kleinen. Aber ich finde, es ist ein guter Weg, um aus der eigenen Sprachlosigkeit rauszukommen. Das muss nicht antifaschistisch heißen, es kann auch erst mal nur um Solidarität gehen.

Präkels: Ihr riskiert eure eigenen Gewissheiten. Das ist doch großartig. Echte Solidarität über den eigenen Jägerzaun hinaus ist immer antifaschistisch.

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