Fatih Akins neuer Spielfilm „Amrum“: Eine deutsche Kindheit
Basierend auf Erinnerungen von Hark Bohm hat Fatih Akin einen berührenden Film gedreht. „Amrum“ spielt in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs.

Die Nordseeinsel Amrum kann ein Kindheitsparadies sein. Und das sieht man auch in diesem Film, der ohne aufgeputzte Kostümfilmästhetik auskommt. Die Insel porträtiert dieser Film mit viel Respekt. Da ist der Himmel, da ist das Meer, der unendlich weite Strand, der Kniepsand. Da sind die Wellen, die Vögel, die Gräser in den Dünen, die sich im Wind biegen. Und da ist das Öömrang, diese besondere Version des Friesischen, die nur auf Amrum gesprochen wird. Die Schauspieler haben sorgfältigen Sprachunterricht genommen.
Doch Amrum, und darum wird es gehen, ist in dieser Zeit keineswegs ein Kindheitsparadies. Das liegt am Krieg, der seine Auswirkungen längst nach Nordfriesland schickt, was dieser Film in handfesten Bildern zeigt. Alliierte Bomberverbände überfliegen die Insel. Ein ertrunkener Pilot wird am Strand angespült. Und Flüchtlinge kommen an. Die Rote Armee steht fünfzig Kilometer vor Berlin.
Dass diese Insel kein Kindheitsparadies ist, liegt aber auch am Sozialen, an den Menschen, die auf ihr leben. Auch wer gegen die Nazis ist, hat sich in emotionalen Kältelehren eingerichtet, das Leben wird der Insel abgetrotzt. Auch das zeigt dieser Film. Eine wetter- und lebensgegerbte Härte liegt in diesen Figuren. Man sieht es im Gesicht der Schauspielerin Diane Krüger, die Tessa, eine mit dem Pferd pflügende Bäuerin, spielt. Und man hört es in der Art, wie Detlev Buck als Fischer auf die Frage „Aber du hast doch keine Angst vor dem Meer“ schlicht mit „Doch“ antwortet.
Der Wind, die Gezeiten, der Zweite Weltkrieg, die letzten Tage des Nationalsozialismus, das bildet den Rahmen. Den emotionalen Glutkern des Films bildet aber etwas anderes. Im Kern geht es um die Liebe eines zwölfjährigen Jungen, Nanning heißt er, zu seiner Mutter – die eine überzeugte Nationalsozialistin ist.
„Amrum“. Regie: Fatih Akin. Mit Jasper Billerbeck, Laura Tonke u.a. Deutschland 2025, 100 Min. Ab 9.10. im Kino
Wie schwer es der bundesdeutschen Gesellschaft gefallen ist, auf den wunden Punkt zu schauen, dass die eigenen Vorfahren bei den Nazis mitgemacht haben, sieht man an den Umfragen, nach denen der eigene Opa kein Nazi gewesen sein soll. War er aber oft doch. Und diese Mutter im Film ist es unbedingt. Als sie erfährt, dass die Bäuerin Hille von einem „Scheißkrieg“ gesprochen hat, denunziert sie das als „Wehrkraftzersetzung“ bei dem NS-Ortsgruppenleiter. Als der Zweite Weltkrieg verloren ist, ist sie ganz verzweifelt: In welcher Welt sollen ihre Kinder jetzt leben?!
Trauern über den Tod von Hitler
Die Wendung, die filmisch am leichtesten hätte verunglücken können, liegt aber darin, dass diese Mutter den Tod Adolf Hitlers tatsächlich betrauert. An das nationalsozialistische Weltbild – das in den Friesen, den nordischen Menschen, das Urbild der Arier sah – glaubt sie. Ihre Schwester, die das nicht getan hat, bezeichnet sie als „Nihilistin“. Und nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ verfällt diese Mutter, hochschwanger, in eine tiefe Depression – während Nanning mit aller kindlichen Hilflosigkeit die Versorgerrolle auszufüllen versucht. Der Ehemann und Vater, auch Nazi, ist abwesend.
Der Film „Amrum“ basiert auf Erinnerungen des Regisseurs Hark Bohm. Er wollte selbst seinen letzten Film daraus machen und hat auch ein umfangreiches Drehbuch verfasst, sah sich allerdings altersbedingt nicht mehr in der Lage, es umzusetzen. Aus diesem Drehbuch entstand in der Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Philipp Winkler ein lesenswerter Roman, der 2024 erschien.
Und nun gibt es auch diesen Film. Der Regisseur Fatih Akin hat ihn inszeniert. Er hat eine Episode des ursprünglichen Drehbuchs herausgeschnitten. Ein „Hark Bohm Film von Fatih Akin“ lautet nun die Bezeichnung. Die beiden Regisseure sollen miteinander befreundet sein.
Diese herausgeschnittene Episode dreht sich um ein Honigbrot. In ihrer Trauer möchte die Mutter nichts anderes mehr essen, und der Sohn bemüht sich verzweifelt, die Zutaten aufzutreiben, was eine Herausforderung ist. Butter, Weißmehl und auch Honig sind in der Kriegswirtschaft purer Luxus.
Gefühlsdrama mit banalem Gegenstand
Dieses Honigbrot ist etwas, was in der Filmsprache MacGuffin heißt, ein für sich eher nebensächlicher Gegenstand, der aber die Handlung vorantreibt. Das große Gefühlsdrama – eh ödipal besetzt, durch den Nazihintergrund mit unendlicher Brisanz aufgeladen – mit so einem banalen Gegenstand handhabbar zu machen, ist ein Wagnis. Wie konstruiert und unangemessen könnte das wirken! Doch es funktioniert.
Das Honigbrot zieht einen durch den Film. Das Weizenmehl bekommt Nanning von einem Arzt. Bei einer Imkerin erfährt er, dass Bienen, um Honig zu produzieren, in dieser Jahreszeit Zuckerwasser brauchen. Den Zucker und schließlich auch die Butter holt er sich bei einem Onkel, auch ein überzeugter Nazi, der auf der Nachbarinsel Föhr lebt; wobei Nanning, der dafür übers bei Ebbe freiliegende Watt geht, bei der Rückkehr, als die Flut kommt, fast ertrinkt. Und schließlich bringt Nanning einen Bäcker dazu, ein rührend kleines Weißbrot zu backen.
Empfohlener externer Inhalt
Trailer „Amrum“

Das alles funktioniert deshalb, weil der Film die Gefühle genauso ernst nimmt wie die Landschaft Amrums. Der Debütant Jasper Billerbeck spielt Nanning. Er ist kein strahlender Junge, zunächst würde man ihn leicht übersehen, aber er arbeitet sich in die Zuneigung der Zuschauer hinein.
Großer Moment, mit Abstand gefilmt
Laura Tonke spielt die Mutter. An der großartigen Art, wie sie es schafft, das Harte dieser Figur deutlich zu machen, ohne sie zu denunzieren, hängt der ganze Film. Als das Neugeborene weint und Nanning es trösten will, sagt die Mutter: „Lass sie weinen. Das kräftigt die Lungen.“ Sie sagt es nicht böse, sie glaubt das wirklich. Und als das Honigbrot fertig ist, will sie es in ihrer Trauer doch nicht essen. Nanning erleidet einen Zusammenbruch und will sich in ihrem Schoß vergraben. Doch sie rüttelt an ihm und ermahnt ihn: „Sei ein Mann.“
Fatih Akin filmt das mit Abstand von der anderen Zimmerecke aus, doch er lässt diese Szene – ein großer Kinomoment – auch deutlich ausspielen. Das Stockholm-Syndrom dieser Mutter-Kind-Beziehung leuchtet auf. Die Nazis nicht als schnarrende Preußen, sondern im emotionalen Nahbereich.
Ein zweiter Erzählstrang dreht sich um Nannings Onkel Theo. Er hat, wie viele Amrumer, die Insel verlassen und ist schließlich nach Amerika ausgewandert. Seine Frau, eine Jüdin, hat er allerdings nicht retten können, sie ist deportiert und umgebracht worden. Als Nanning von dieser Familientragödie erfährt, erscheint ihm Onkel Theo in einer Traumsequenz. Ich habe keine Schuld, sagt Nanning. Das stimmt, sagt der Onkel, aber ich werde, wenn ich dich sehe, immer daran denken.
Nicht nur in dieser Szene, sondern mit seiner ganzen Haltung macht dieser Film deutlich, dass es schmerzvoll sein kann, auf die deutsche Vergangenheit zu schauen, dass es aber auch keine lebbare Alternative dazu gibt.
Gegen Ende fällt eine Szene in ihrer forcierten Emotionalität ein Stück aus dem Film heraus. Nanning und eins der Flüchtlingskinder verabschieden sich pathetisch voneinander. Das ist dick aufgetragen, verweist aber über den Film hinaus. Hark Bohm hat in „Nordsee ist Mordsee“ von ungleichen Jugendlichen erzählt, die sich erst zusammenraufen müssen, Fatih Akin in „Tschick“. In „Amrum“ erzählen sie zusammen vom emotionalen Drama einer Kindheit.
Ganz am Schluss gibt es einen Zeitsprung, und man sieht Hark Bohm selbst, hoch in seinen Achtzigern, am Strand von Amrum stehen. Er macht nichts anderes als das, er schaut aufs Meer (und in die Vergangenheit), und das macht er großartig. Damit beglaubigt er den Film. Und man kann in diesen Blick auch die Mahnung hineinsehen, dass unsere Gesellschaft nie wieder in die Gefühlskälte seiner Kindheit zurückfallen möge.
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