
Saisonarbeit: Subventionen für Ausbeuter
Saisonkräfte schuften auf Europas Feldern unter menschenunwürdigen Bedingungen. Aus Brüssel fließen dennoch Millionen – sogar an verurteilte Betriebe.
E ine Obstplantage im Süden Frankreichs. Mustafa Alaoui aus Marokko (Name geändert) pflückt seit 14 Stunden Aprikosen und Kirschen. Er lädt schwere Eimer mit Obst auf einen Traktor, Hunderte Mal am Tag. Seine Vorgesetzten schreien ihn an, wollen, dass er noch schneller arbeitet: „Hurensohn!“ „Schaf!“
Nachts schläft er in einer dreckigen, überfüllten Unterkunft. Für all das hat er eine schier unglaubliche Summe bezahlt. Mehr als 13.000 Euro Vermittlungsgebühr – dafür nimmt er Schulden auf. Das Versprechen dahinter: Ein Visum und eine Festanstellung. Stattdessen nimmt ihm ein Mittelsmann bei seiner Ankunft unter einem Vorwand seinen Pass ab. Er arbeitet ohne Pause, 15 Tage am Stück. Samstags. Sonntags. Feiertags. Bis zu 77 Stunden die Woche.
Für die vielen Überstunden bekommt er kein Geld. Als sich Alaoui über die unbezahlte Arbeit beschwert, droht einer der Vorarbeiter, ihn umzubringen. All das beschreibt Alaoui in einem polizeilichen Dokument, das der taz vorliegt: „Wir wurden wie Sklaven behandelt“, sagt er der taz.
Das Obst, das Mustafa Alaoui erntete, wurde möglicherweise auch nach Deutschland verkauft. Die Produzentengemeinschaft seines ehemaligen Arbeitgebers hat ein gültiges Zertifikat, um ihr Steinobst weltweit zu vertreiben – auch in der EU.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Alaouis ehemaliger Arbeitgeber wurde mittlerweile verhaftet und wegen Ausbeutung angeklagt. Ein Prozess soll laut Informationen der taz im Frühjahr 2026 beginnen.
Doch EU-Subventionen erhielt er weiterhin, allein mehr als 15.000 Euro im Jahr 2024, nachdem Alaoui ihn angezeigt hatte und Ermittlungen eingeleitet wurden. Zwischen 2017 und 2024 waren es insgesamt etwas mehr als eine Viertelmillion Euro.
Subventionen in Millionenhöhe trotz Strafverfahren
Jedes Jahr fließen mehr als 50 Milliarden Euro an EU-Subventionen in die europäische Landwirtschaft – ein Viertel des gesamten EU-Budgets. Diese Gelder sollen Bauern unterstützen. Doch in der Praxis profitieren auch Betriebe, die nachweislich gegen Arbeitsrechte verstoßen haben, gegen die Strafverfahren laufen oder die bereits wegen Verstößen verurteilt wurden. Das hat eine internationale Recherche von taz, FragDenStaat, DeSmog, El Salto Diario, L’Humanité, L’Espresso und profil herausgefunden.

Die Recherche zeigt, wie die Gemeinsame Agrarpolitik der EU Millionen prekär beschäftigte Saisonkräfte in der Landwirtschaft im Stich lässt. Über 30 landwirtschaftliche Betriebe haben in mehreren Ländern trotz Verurteilungen oder offiziellen Ermittlungen wegen Missachtung von Arbeitsrechten weiterhin Subventionen in Millionenhöhe erhalten.
Die tatsächliche Zahl liegt vermutlich wesentlich höher. Europäische Behörden verhängen jährlich Tausende Sanktionen gegen landwirtschaftliche Betriebe, ohne jedoch die Namen der Betriebe öffentlich zu nennen. Medienberichte und Gerichtsdokumente, die die taz eingesehen hat, waren in vielen Fällen anonymisiert. Zudem können Subventionen häufig nicht eindeutig landwirtschaftlichen Betrieben zugeordnet werden, weil sich die Spur auf dem Weg durch Kooperativen und Konsortien verliert.
„Erntehelfer*innen werden auf europäischen Feldern ausgebeutet, finanziert durch EU-Subventionen“, sagt Steffen Vogel von Oxfam Deutschland der taz in Reaktion auf die Recherche. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssten Schlupflöcher bei Agrarsubventionen schließen.
Eigentlich hatte die EU erst vor wenigen Jahren ein Instrument geschaffen, um genau solche Zahlungen zu unterbinden und Betriebe zu sanktionieren, die sich nicht an Sozialstandards halten: die sogenannte soziale Konditionalität. In Deutschland wurde diese Regelung zu Beginn des Jahres umgesetzt. Die Recherche zeigt jedoch, dass sie vielerorts nicht verhindern kann, dass weiterhin Geld an fragwürdige Arbeitgeber fließt.
Ein Skandal in Italien – keine Konsequenzen aus Brüssel
Ein Gerichtssaal im italienischen Piemont, Mai 2021. Der Erntehelfer Koanda Mounouni ist als Zeuge geladen, er erscheint mit Gesichtsmaske im Gerichtssaal, die Coronapandemie ist in vollem Gange. Die Angeklagten: Ein Arbeitsvermittler, der Mounouni ausgebeutet haben soll, sowie die Besitzer zweier landwirtschaftlicher Betriebe, an die der Vermittler seine Arbeiter weitergereicht haben soll. Alle fünf sollen Saisonkräfte ausgebeutet haben. Er habe neun bis zehn Stunden am Tag gearbeitet, erzählt Mounouni dem Vorsitzenden Richter. Manchmal auch samstags, sonntags und bei Regen. Für alles habe er bezahlen müssen: Sein Zimmer in einer überfüllten Unterkunft, Strom, Heizung, angebliche Steuern und vieles mehr. So berichtet es damals ein italienisches Medium, das den Prozess begleitet.

Diese Recherche wurde gefördert vom Journalismfund Europe.
Der Fall geht in Italien durch die Presse, auch weil dahinter weitreichende Ermittlungen stecken: Nachdem erste Hinweise auf mutmaßliche Ausbeutung 2018 von einem Arbeiter kommen, hört eine Spezialeinheit der italienischen Polizei mehrere Betriebe ab. Im Jahr 2022 fällt das Urteil: Alle Beschuldigten werden wegen Ausbeutung von Wanderarbeitern zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Später werden die Strafen in der Berufung auf knapp zwei Jahre beziehungsweise drei Jahre herabgesetzt. Das Urteil gilt als wegweisend im Kampf gegen illegale Arbeitsvermittlung.
Doch obwohl einer der Landwirte ins Gefängnis muss, erhielt er im Jahr der Verurteilung mehr als 90.000 Euro an Subventionen. Im Jahr darauf, während er seine Strafe verbüßte, mehr als 110.000 Euro.
„Die Menschen wollen Lebensmittel, die fair sind – sowohl in Bezug auf ihre Herstellung als auch auf die Behandlung der Menschen. Die Gemeinsame Agrarpolitik sollte ein Instrument sein, um dies zu erreichen“, sagt Völkerrechtler Olivier De Schutter der taz. „Stattdessen werden mit öffentlichen Mitteln weiterhin landwirtschaftliche Betriebe subventioniert, die an ausbeuterischer Lebensmittelproduktion beteiligt sind, einschließlich moderner Sklaverei.“ De Schutter ist UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte und Co-Vorsitzender des Thinktanks IPES-Food.
Maria Noichl, Sozialdemokratin und EU-Abgeordnete
Jahrelang haben Gewerkschaften und einzelne progressive Politiker*innen dafür gekämpft, EU-Subventionen auch an Arbeitsstandards zu knüpfen. Denn bislang hatte das bei der Vergabe der Gelder niemand überprüft. Eine der lautesten Stimmen war die der EU-Abgeordnete Maria Noichl, eine Sozialdemokratin aus Bayern.
„Wenn jemand seine Arbeiter wie Schweine behandelt, möchte ich nicht, dass er Geld aus Brüssel bekommt“, erklärt sie gegenüber der taz. „Dieses Geld gehört nicht den Landwirten, sondern den Steuerzahlern.“
Sie erinnert sich jedoch auch an den harten Kampf, um eine Einigung zu erzielen. „Es gab Widerstand von den großen Bauernverbänden und auch anfänglich von der EU-Kommission und den Mitgliedstaaten“, sagt sie. „Die wollten das überhaupt nicht.“ Sie hätte wochenlang Briefe geschrieben, um Abgeordnete und Regierungen von der Reform zu überzeugen. Am Ende hatte sie Erfolg, auch weil Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen Druck gemacht haben.
Die Reaktionen waren enthusiastisch. Der Europäische Rat bezeichnet die Vereinbarung als „historischen Fortschritt “, der Europäische Gewerkschaftsbund für Ernährung, Landwirtschaft und Tourismus (EFFAT) nannte sie einen „großen Sieg der Gewerkschaften“. Doch es war auch ein Kompromiss, stark abgeschwächt im Vergleich zu Noichls Vorschlägen.
Die soziale Konditionalität gilt seit 2025 in der gesamten EU. Nur einige Länder führten sie schon 2023 ein: Frankreich, Österreich und Italien.
Die soziale Konditionalität soll sicherstellen, dass sich Landwirt*innen an grundlegende Arbeitsstandards für ihre Mitarbeiter*innen halten. Das Grundprinzip ist: Wer gegen bestimmte Regeln verstößt, dessen Subventionen werden gekürzt. Allerdings fehlen wichtige Standards, wie etwa das Einhalten des Mindestlohns oder der vorgeschriebenen Arbeitszeit.
Eine Auswertung in diesen Ländern zeigt: Die Umsetzung verläuft offenbar schleppend. In Spanien gab es im Jahr 2024 insgesamt 227 Fälle, im Schnitt wurden 3 Prozent der Subventionen gekürzt. Im Jahr zuvor stellte die Arbeitsbehörde jedoch über 7.000 Arbeitsrechtsverstöße in der Landwirtschaft fest. In Österreich wurde bisher lediglich ein Landwirt sanktioniert. Er musste in zwei aufeinanderfolgenden Jahren insgesamt rund 3.000 Euro an Subventionen zurückzahlen – etwa 4 Prozent des Geldes, das er in derselben Zeit bekommen hat. Behörden in Frankreich haben bislang offenbar gar keine Subventionen gekürzt, das bestätigen ein Gewerkschafter und zwei Mitarbeiter der Arbeitsinspektion der taz.
In Deutschland gilt die soziale Konditionalität seit 2025. Laut den zuständigen Kontroll- und Zahlstellen wird es frühestens Ende Oktober erste Zahlen geben.
Als 2023 in Italien die soziale Konditionalität eingeführt wurde, wurde ein Farmbesitzer in Kampanien wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung zur Arbeitsausbeutung verurteilt. Er hatte Saisonkräfte elf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche für nur 4,50 Euro pro Stunde arbeiten lassen. Seit 2015 hat der Mann über 1 Million Euro EU-Fördermittel erhalten. Fast 200.000 Euro flossen ihm sogar ein Jahr nach seiner Verurteilung zu.
Ähnlich in Galicien, Spanien: Dort wurde die soziale Konditionalität 2024 eingeführt. Im selben Jahr wurde ein Lokalpolitiker der Volkspartei zu neun Monaten Haft verurteilt, weil er zwei Saisonkräfte ausgebeutet hatte. Dazu sollte er 44.000 Euro Entschädigung zahlen. Dennoch erhielt er im selben Jahr 41.000 Euro Subventionen – insgesamt 283.000 Euro seit seiner ersten Festnahme.
Enrico Somaglia, Generalsekretär von EFFAT, ist von den Rechercheergebnissen beunruhigt – aber nicht überrascht. „Bislang hat die Gemeinsame Agrarpolitik arbeitenden Menschen nicht geholfen“, sagt er. Somaglia und der EFFAT haben jahrelang für die Einführung der sozialen Konditionalität gekämpft. „Damit sie jedoch richtig funktioniert, muss sie vollständig umgesetzt und gestärkt werden.“ Der EFFAT fordert höhere Strafen und eine Ausweitung auf weitere Verstöße, etwa gegen den Mindestlohn.
Anhand von Zeitungsberichten, Gerichtsdokumenten, Presseanfragen an Arbeitsbehörden sowie von Arbeitsorganisationen intern notierten Zeugenaussagen haben wir rund 110 nachgewiesene und mutmaßliche Fälle von Arbeitsausbeutung in Deutschland, Österreich, Italien, Spanien und Frankreich aus den vergangenen zehn Jahren recherchiert. Die verbliebenen Fälle haben wir mit der Datenbank farmsubsidy.org abgeglichen, die von FragDenStaat betrieben wird. Die Plattform enthält alle EU-Agrarsubventionen von 2014 bis 2022.
Für die Jahre 2023 und 2024 haben wir die Daten zusätzlich anhand der nationalen Register überprüft.
In Brüssel verhandeln Politiker*innen derzeit die Gemeinsame Agrarpolitik für die kommenden sieben Jahre. Statt jedoch den ohnehin schwachen Schutz von Arbeitsrechten zu stärken, möchte die EU-Kommission die Regel aufweichen. Sie hat vorgeschlagen, Betriebe unter einer Größe von 10 Hektar von der Regel auszunehmen. Das wären etwa 70 Prozent der Betriebe in der EU.
Auch in Deutschland stehen Saisonkräfte politisch unter Druck. Erst in diesem Sommer wurde eine Aussetzung des Mindestlohns für Erntehelfer*innen diskutiert, im September dann beschloss das Kabinett einen Gesetzentwurf, nach dem Saisonkräfte statt wie bisher 70 Tage nun 90 Tage sozialversicherungsfrei beschäftigt werden dürfen. Die meisten von ihnen kommen Schätzungen zufolge aus Rumänien und Bulgarien, immer mehr aber auch aus Ländern außerhalb der EU, wie Usbekistan oder Georgien. In Deutschland haben sie oft mit Mindestlohnbetrug, schlechten Unterkünften, fehlenden Verträgen oder unzureichender Krankenversicherung zu kämpfen.
So auch Levani Idadze. Der Georgier stieg 2021 ins Flugzeug nach Deutschland, um Erdbeeren zu pflücken. Damals schien in seinem Vertrag alles klar geregelt zu sein: drei Monate Arbeit, maximal 48 Stunden die Woche, deutscher Mindestlohn. Doch der erste Betrieb in Süddeutschland, auf dem Idadze arbeitete, zahlte ihm nur rund die Hälfte von dem, was er selbst berechnet hatte. Der zweite Betrieb im Norden Deutschlands hat ihm bis heute gar kein Geld gezahlt. „Die zwei Monate in Deutschland waren für uns eine Beleidigung“, sagt Idadze heute. Die taz hat mehrfach über den Fall berichtet, zuletzt Anfang 2025.
Idadze hat gemeinsam mit 18 Kolleg*innen gegen beide Betriebe geklagt. Im Sommer 2023 haben sie mit dem ersten Betrieb einen Vergleich geschlossen, das zweite Verfahren dauert bis heute an. Unsere Recherche zeigt nun: In der Zeit, in der die Gerichtsverfahren liefen, haben beide Betriebe weiterhin Geld von der EU bekommen. Insgesamt 63.000 Euro an Agrarsubventionen, ähnlich viel wie in den Jahren zuvor.
Unklare Zuständigkeiten, fehlende Kontrollen
In Deutschland gibt es keine zentrale Arbeitsinspektion wie in anderen EU-Ländern. Die Kontrolle der sozialen Konditionalität liegt in vielen Händen: bei Umwelt-, Arbeits- und Sozialministerien der Länder, den Verbraucherschutzbehörden, dem Zoll, den Arbeitsschutzbehörden.
Viele der Behörden sind seit Jahren überlastet. Statistisch gesehen wird ein Unternehmen nur alle 72 Jahre von der Finanzkontrolle Schwarzarbeit überprüft. Die Behörde gab öffentlich bekannt, dass sie 2.500 offene Stellen zu besetzen habe. Doch Arbeitsausbeutung ist ein Kontrolldelikt, denn Betroffene wenden sich nur selten an Strafverfolgungsbehörden.
Genau das kritisieren auch Gewerkschafter wie Jörg Heinel, Abteilungsleiter für Forst und Agrar bei der Gewerkschaft IG BAU. „Auf deutscher Ebene brauchen wir jetzt eine Ausweitung der Kontrollen, damit die soziale Konditionalität kein zahnloser Tiger wird“, so Heinel zur taz. „Das gilt für den Arbeits- und Gesundheitsschutz genauso wie für Kontrollen, die etwa der Zoll durchführt.“
Auf Anfrage der taz teilte die Finanzkontrolle Schwarzarbeit mit, sie habe in den vergangenen fünf Jahren jährlich zwischen 30 und 60 Verfahren wegen mutmaßlicher Unterbezahlung in der Landwirtschaft eröffnet, was zu Geldstrafen zwischen 10.000 Euro und 140.000 Euro pro Jahr geführt habe. Weitere Geldstrafen wurden wegen Sozialversicherungsbetrugs („Schwarzarbeit“) und „illegaler Beschäftigung von Ausländern“ verhängt. Weil er sich weigert, die Namen der sanktionierten Betriebe zu nennen, hat die Recherche- und Transparenzplattform FragDenStaat den Zoll auf Auskunft verklagt.
Kateryna Danilova vom Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen und Branchenkoordinatorin für Landwirtschaft und Baugewerbe bei Faire Mobilität, findet es richtig, dass Landwirt*innen, die sich nicht an das Arbeitsrecht halten, die Subventionen gekürzt werden. Aber sie ist auch skeptisch, ob in Deutschland wirklich viele Fälle zusammenkommen werden. Für die Sanktion braucht es eine „vollstreckbare Entscheidung“ – also ein rechtskräftiges Gerichtsurteil oder eine behördliche Verfügung, die tatsächlich durchgesetzt werden kann. Das bedeutet, dass selbst schwerwiegende Ausbeutung unbemerkt bleiben kann, wenn ein Betrieb nicht zufällig kontrolliert wird oder die Arbeitnehmer*innen selbst rechtliche Schritte einleiten. Doch das ist schwer. Die Menschen sind nur kurze Zeit in Deutschland, sprechen oft kein Deutsch, und was ihnen auf den Feldern widerfährt, ist schwer zu beweisen. Oft steht Aussage gegen Aussage.
„Sie bekommen meistens keine Lohnabrechnungen während ihres Aufenthalts in Deutschland. Deshalb kann man auch nicht nachweisen, dass Geld vom Lohn abgezogen wurde“, sagt Danilova. „Es ist einfach etwas, was dann im Gespräch zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer stattfindet.“ Viele mutmaßliche Verstöße seien so nur durch Zeugenaussagen zu bestätigen. Betroffene Personen jedoch zögerten oft, sich zu äußern. „Sie wollen in Deutschland keine Probleme oder Stress haben.“
Ein anderes Problem ist die Art und Weise, wie landwirtschaftliche Betriebe strukturiert sind. „Das Unternehmen, das diese Personen beschäftigt, ist in der Regel nicht dasselbe wie das Unternehmen, das diese landwirtschaftlichen Erzeugnisse tatsächlich verkauft oder das Subventionen aus dem europäischen Budget bekommt. Auch wenn diese Unternehmen letztendlich denselben Personen gehören“, sagt Danilova. Um Sanktionen durchzusetzen, müsste zunächst ein Zusammenhang bewiesen werden. „Damit bleibt noch die Frage, wie solche Fälle behandelt werden, wenn wir sie melden.“
Vorbei an der Realität auf den Feldern
An einem Mittwoch im Juli um neun Uhr morgens stehen Stefanie Albrecht und ihre Kollegin auf einem Waldweg in Mecklenburg-Vorpommern. Es hat trotz der frühen Uhrzeit schon über 25 Grad, im Radio laufen Hitzewarnungen. Albrecht ist Beraterin von Correct!, einer Beratungsstelle für ausländische Beschäftigte, und zieht sich trotz der Hitze eine Weste über. Sie und ihre Kollegin möchten mit Saisonkräften auf einem nahegelegenen Hof sprechen. Von dort haben sich Menschen mit Beschwerden gemeldet. Es geht mutmaßlich um schlechte Unterkünfte, fehlenden Mindestlohn. Gestern waren sie schon einmal hier, haben Ausschau gehalten, wo die Saisonkräfte arbeiten. Aber heute ist niemand zu sehen.
Stefanie Albrecht zieht einen Fragebogen aus der Tasche, den ihnen die Behörde mitgegeben hat, die für die soziale Konditionalität zuständig ist.
Die Beraterinnen überlegen lange und entscheiden sich schließlich, an einer unauffälligen Stelle im Auto zu warten, bis die Saisonkräfte Pause machen. Dieses Versteckspiel ist notwendig, weil die Beraterinnen weder auf die Felder noch in die Unterkünfte gehen dürfen.
Gegen Mittag ist es unerträglich heiß. Als die Beraterinnen in Richtung Feld fahren, kommen ihnen die Menschen schon entgegen. Albrecht und ihre Kollegin springen aus dem Auto, verteilen kleine Taschen mit Infomaterial, Wasserflaschen, stellen Fragen. „Wo kommt ihr her?“ „Habt ihr Sonnencreme bekommen?“ „Habt ihr Geld bezahlt, um hier zu arbeiten?“
Die Haut der Saisonkräfte ist verbrannt. Viele hier sind Studierende aus Usbekistan, die angeben, über Work and Travel hier zu sein. Das Erste, was sie fragen: Habt ihr einen neuen Job für uns?
Dann ist alles ziemlich schnell vorbei. Den Fragebogen packt Albrecht gar nicht aus. Zu kurz die Zeit, die Sorgen der Menschen sind von den Anforderungen der Behörde zu verschieden. Später meldet Albrecht der Arbeitsschutzbehörde, dass die Personen keinen angemessenen Sonnenschutz hatten. Die Behörde schreibt auf Anfrage, dass sie dem nachgegangen sei und den Betrieb kontrolliert habe. Eine Meldung unter der sozialen Konditionalität habe dies aber nicht zur Folge gehabt.
Wenige Tage später endet die Beschäftigung der Menschen auf diesem Hof. Bei Stefanie Albrecht melden sie sich nicht mehr.
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