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„Aufschlussreicher Blick auf den Kolonialismus“

Ein Göttinger Team erforscht die Londoner „Prisenpapiere“ aus 35.000 Schiffskaperungen der frühen Neuzeit. Es sind hoch spannende Dokumente des Alltags breiter Schichten

Kunstvolle Faltung: Geöffnetes Briefpaket mit einliegenden Briefen Foto: The National Archives, ref. HCA 30/642

Interview Petra Schellen

taz: Frau Freist, was sind Prisenpapiere?

Dagmar Freist: Prisenpapiere sind ein riesiger, in London lagernder Archivbestand aus Kapergut: Briefe, Handelsware, persönliche Gegenstände und Prozessakten. Das Besondere: Es ist eine nicht vorsortierte, also ungefilterte Zufallsüberlieferung historischer Dokumente aus Handels- und Kriegsschiffen, die von 1652 bis 1815 während der europäischen Seekriege auf den Weltmeeren gekapert wurden. „Prise“ bedeutet beschlagnahmtes Gut. Es wurde alles auf dem Schiff beschlagnahmt, um vor Gericht als Beleg zu dienen.

taz: Beleg wofür?

Freist: Ob ein Schiff wirklich feindlich war – und nach damaligem Seekriegsrecht legal gekapert werden durfte –, wurde in Prozessen geklärt. Denn viele fuhren unter falscher neutraler Flagge, um der Kaperung zu entgehen. Als Indizien für die wahre Herkunft des Schiffs dienten daher nicht nur Schiffspapiere und Bauart, sondern auch private Aufzeichnungen. Wurde ein Schiff zu Unrecht gekapert, konnte der Eigner auf Erstattung klagen.

taz: Wie selten sind Prisenpapiere?

Freist: Die Londoner Prisenpapiere, die wir seit 2018 in einem auf 20 Jahre geförderten Projekts digitalisieren und erforschen, sind der einzig bekannte Bestand dieser Art. Es gibt zwar Einzelfunde, etwa in Frankreich und Spanien. Aber in diesem Ausmaß – es sind 4.000 Boxen mit Material von 35.000 gekaperten Schiffen – gibt es das sonst nirgends. In den meisten europäischen Ländern sind die Gerichtsakten überliefert, aber nicht das Kapergut. In England wurde es nach Abschluss der Prozesse im Londoner Tower gelagert, im 20. Jahrhundert an das Nationalarchiv übergeben und dann vergessen.

taz: Was für Dokumente enthalten die Prisenpapiere?

Freist: Bislang haben wir 120 Dokumenttypen identifiziert, darunter Briefe, Gerichtsakten, Warenlisten, Gesundheitspässe, Kaperbriefe. Dazu kommen Noten, Sprachlehrbücher, private Notizbücher mit Schreib- und Rechenübungen etwa von Matrosen. Außerdem 160.000 Briefe in über 20 Sprachen, von Frauen, Männern, Kindern geschrieben oder diktiert.

taz: Weiteres Kapergut?

Freist: Neben Handelsware finden wir Spielkarten, Kaffeebohnen, Schlüssel, Stoffproben und Glasperlen – Zahlungsmittel für den Handel mit versklavten Menschen. Ein wichtiger Dokumenttypus sind Verwaltungsakten, die auflisteten, welche versklavten Menschen wo eingesetzt wurden. Was für uns heute erschütternd ist: die von Hand verfassten Warenlisten, wo die versklavten Menschen samt Verkaufspreis aufgeführt sind.

taz: Wie präsentieren Sie solche Listen im Datenportal?

Freist: Das ist eine echte Herausforderung. Denn wir wollen die Asymmetrie, die Gewaltverhältnisse des Kolonialismus weder reproduzieren noch verschleiern. Wir arbeiten noch an einer Lösung.

taz: Finden sich Privatbriefe über versklavte Menschen?

Freist: Ja. Eine Herrnhuter Missionarin, die in die niederländische Kolonie Surinam migriert war, beschreibt versklavte Menschen, die in einer Show das Kaffeestampfen vorführen müssen, zu dem sie tagsüber auf den Plantagen gezwungen werden. Die Schreiberin vergleicht das mit dem Exerzieren einer Armee – ohne kritische Reflexion.

taz: Wertet sie die versklavten Menschen ab?

Freist: Ich würde sagen, sie wertet nicht explizit, sondern beschreibt. Aber weil sie das so ungefiltert tut, würde man aus heutiger Sicht sagen: Sie ist naiv, denn ihr ist die Dimension des Unrechts nicht klar. In anderen Briefen zeigt sie Empathie: „Es wird hier laut, ich höre, es wird jemand beerdigt.“ Dann beschreibt sie die Beerdigungsrituale der schwarzen Bevölkerung und vergleicht sie mit den geordneten christlichen Bestattungen. Und weiter: „Die Menschen leiden unter dem Tod eines geliebten Menschen, und ihre Klagen erzählen dessen Biografie.“ Diese Ambivalenz zwischen vermeintlich nicht-zivilisierter „Unordnung“ und Empathie zieht sich bei ihr durch. Die Prisenpapiere erlauben also auch auf sozialer Ebene einen aufschlussreichen Blick auf den Kolonialismus.

taz: Auch bezeugen die Briefe die Alphabetisierung breiter Schichten.

Freist: Ja. Dass die Alphabetisierung verbreiteter war als lange angenommen, war schon bekannt. Mit den Prisenpapieren haben wir aber erstmals eine Überlieferung, die Einblick in die Sprach- und Schreibfähigkeit sozialer Schichten erlaubt, deren Schriften sonst nie in ein Archiv gegeben worden wären. Die Schreiber reichen vom Kapitän über Händler bis zu einfachen Seeleuten sowie Frauen, Männern, Kindern, oft aus ärmeren dörflichen Kontexten.

taz: Sind die Briefe gut verständlich?

Foto: privat

Dagmar Freist 63, ist Professorin für Geschichte der frühen Neuzeit an der Uni Oldenburg. Seit 2018 ist sie wissenschaftliche Leiterin des Langzeitprojekts „Prize Papers, Erschließung, Digitalisierung, Präsentation (1652–1815)“ der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

Freist: Nicht immer. Manchmal verstehen wir selbst bei deutschsprachigen Briefen nicht, worum es geht. Es gibt keinen Punkt am Satzende, die Rechtschreibung ist heterogen. Manches versteht man besser, wenn man es laut liest, denn oft haben die Schreiber die gesprochene Sprache irgendwie in Buchstaben übersetzt. Auch den Brief einer armenischen Händlerin des 18. Jahrhunderts verstand unser armenischer Kollege kaum. Ein jüdisches Briefbuch des 17. Jahrhunderts wiederum war in einer Mischung aus Portugiesisch, Ladino – das „Judäo-Spanisch“– und Dialekten verfasst. Hier hatte unsere portugiesischsprachige Kollegin erhebliche Mühe.

taz: Wovon handeln die Privatbriefe sonst noch?

Freist: Das reicht von Handelsfragen über Intrigen bis zu Heiratsanträgen und Familienangelegenheiten. Und die Briefe, die wir sichten, kamen ja tragischerweise nie an, weil die Gerichte sie nicht weiterschickten.

taz: Haben Sie Briefe versklavter Menschen gefunden?

Freist: Bislang nicht. Es gibt Überlieferungen zu Meutereien versklavter Menschen, aber nur indirekt, aus Kolonialherrn-Sicht. Um damit angemessen umzugehen, wollen wir gemeinsam mit Forschern aus den Herkunftsländern Lösungen erarbeiten.

taz: Wer hat die Prisenpapiere überhaupt wieder entdeckt?

Das Besondere: Es ist eine nicht vorsortierte, also ungefilterte Zufallsüberlieferung

Freist: Wir haben Aufzeichnungen aus dem 20. Jahrhundert, die einzelne Stücke beschreiben. Und niederländische Kollegen riefen 2016 das Projekt „Dutch Prize Papers“ ins Leben. Über dieses Projekt haben wir weitere große Bestände entdeckt, die weit über die niederländischen Quellen hinausgehen. Als ich dann mit Studierenden in London einige Boxen anschaute, waren wir sofort fasziniert vom Potenzial des Archivs. Mir war klar, dass es kein nationalhistorisches Projekt würde, sondern ein globalhistorisches, da Geschichte durch Migration und Handelskontakte immer eine Verflechtungsdimension hat.

taz: Was sagen die Briefe über Migration aus?

Freist: Migration, auch Armutsmigration in die Kolonien ist ein großes Thema. Wir lesen von Problemen der Eingewöhnung und von Kindern, die allein nach Europa zurückgeschickt wurden, um dort eine vermeintlich bessere Schulausbildung zu erhalten. Ein Elternpaar etwa schreibt immer wieder an Verwandte, um zu fragen, ob die Kinder gut in Europa angekommen sind.

taz: Da es kein Telefon gab, erfuhren sie es vielleicht nie.

Freist: Ja, und diese starke emotionale Belastung spricht aus vielen Briefen. Es wird oft thematisiert, wie es sich anfühlt, nichts voneinander zu hören.

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