7. Oktober-Überlebender im Gespräch: „Wir müssen diesen Albtraum beenden“
Amir Tibon überlebte den Angriff der Hamas auf seinen Kibbuz nur knapp. Welche Fehler Israel damals machte und warum er hofft, dass der Krieg endet.

taz: Herr Tibon, 2014 zogen sie mit ihrer jetzigen Frau nach Nahal Oz, einem israelischen Kibbuz nahe dem Gazastreifen. In Ihrem Buch „Die Tore von Gaza“ schreiben Sie, dass sie am Morgen des 7. Oktobers 2023 Mörserfeuer hörten und sofort zu ihren Kindern eilten, die im Sicherheitsraum schliefen – eine „hektische, aber vertraute Routine“, wie Sie es nennen. Wann spürten Sie, dass dieser Tag anders war als die Angriffe, die man in den Kibbuzim nahe Gaza gewohnt ist?
Amir Tibon: Als wir Maschinengewehrfeuer hörten, wussten wir, dass etwas anders ist. In der Geschichte von Nahal Oz – seit mehr als 70 Jahren an der Grenze – gab es immer wieder Mörserangriffe, Hinterhalte auf den Feldern und Ähnliches. Doch bewaffnete Terroristen, die in die Gemeinde eindringen – das war für uns unvorstellbar.
taz: Und für solche Angriffe waren die Kibbuzim nicht gerüstet?
Tibon: Diese Routine war für Raketen- und Mörserangriffe gedacht. Die Sicherheitsräume sind aus dickem Beton und sollen Einschlägen aus der Luft standhalten. Aber an diesem Tag wurden sie für viele Menschen in den Kibbuzim zur Falle. Die Räume sind nicht gut verschlossen, das sollen sie auch gar nicht sein. Also fanden sich viele Leute eingeschlossen darin wieder, als sie bemerkten, dass sie vor dem, was gerade passiert, nicht geschützt sein werden.
geboren 1989, ist Journalist bei der israelischen Tageszeitung „Ha’aretz“. 2024 erschien sein Buch „The Gates of Gaza“ (dt. Übersetzung: „Die Tore von Gaza“).
taz: Sie verbrachten Stunden mit ihrer Familie im Dunkeln, während draußen die Terroristen von Tür zu Tür gingen und versuchten, die Sicherheitsräume aufzubrechen. Dann, so schreiben Sie, kam ihr Vater, ein pensionierter General, zur Hilfe. Er fuhr von Tel Aviv nach Nahal Oz, das sind etwa 80 Minuten Autofahrt.
Tibon: Er fuhr allein, traf auf dem Weg einen anderen Soldaten, der ihn dann begleitete. Am Eingang des Kibbuz traf er auf weitere Soldaten. Dann kamen sie, um uns zu befreien.
taz: Wieso musste erst ein Pensionär kommen, um Ihnen zu helfen? Sind die Kibbuzim nicht durch das israelische Militär ausreichend geschützt gewesen?
Tibon: Das berührt drei verschiedene Probleme. Erstens: Die israelischen Streitkräfte hatten einfach nicht genug Soldaten für alle Missionen, die sie sich vorgenommen hatten. Das bleibt bis heute ein Problem, weil wir in diesem Krieg Tausende Soldaten verloren haben. Zweitens: Ein großer Teil der militärischen Kräften war im Westjordanland stationiert. Im Buch zitiere ich einen hochrangigen Hamas-Funktionär, der in einem Fernsehinterview vom August 2023 sagt, dass Israel 30 Bataillone in der West Bank stationiert hat. Sie wussten, dass wir zu wenig Soldaten nahe Gaza hatten. Drittens: Der 7. Oktober 2023 war in Israel ein Feiertag (Simchat Torah, Amn. d. I.), und die Geheimdienste versagten, weil sie nicht erkannten, dass an diesem Tag etwas passieren könnte. Alle drei Punkte zusammen erzeugten dieses Desaster.
taz: In Ron Leshems Buch „Feuer“ über den Angriff vom 7. Oktober lese ich, dass es durchaus Indizien für einen unmittelbar bevorstehenden Großangriff aus Gaza gab. So sollen wenige Tage zuvor Übungen von Hamas-Kämpfern nahe dem Grenzzaun stattgefunden haben.
Tibon: Lassen Sie uns einen Blick auf Russland und die Ukraine werfen: Wie oft hat es vor dem Februar 2022, als Putin die Ukraine überfiel, Zeichen dafür gegeben, dass er einen Krieg beginnen könnte? Es gab unterschiedliche Prognosen darüber, wann er einen Krieg beginnen könnte oder wie lange die russischen Streitkräfte bis nach Kyjiw brauchen. Geheimdienstarbeit ist keine exakte Wissenschaft. Die Ergebnisse können unterschiedlich bewertet werden. Auch in Israel gab es über zwei Jahre vor dem 7. Oktober hinweg immer wieder Befürchtungen, Hamas plane einen grenzübergreifenden Angriff – aber das nahm nie konkrete Form an. Demzufolge glaubten einige der Leute, die Geheimdienstinformationen analysieren, dass der 7. Oktober wieder so ein Fehlalarm sein wird. All das muss untersucht werden.
taz: Was fordern Sie?
Tibon: Wir brauchen eine Untersuchungskommission nach israelischem Recht, die all diese Fälle aufnimmt und klärt, wo Fehler gemacht wurden und warum. Ein Problem dabei ist, dass alles schon zwei Jahre her ist, und Netanjahu sich weigert, eine solche Kommission aufzusetzen.
taz: Warum?
Tibon: Weil er weiß, dass er für schuldig befunden werden wird. Und in der Zwischenzeit verlieren wir Dokumente und Zeugenberichte. Und es gibt Sabotage am Originalmaterial. Das ist sehr übel.
taz: Welche Sabotage?
Tibon: Man kann Dokumente vernichten, man kann Zeugenaussagen koordinieren. Wenn zwei Leute gemeinsam Schuld tragen, können sie beschließen, füreinander Sorge zu tragen. Wenn man nicht schnell untersucht, bleibt man ohne glaubwürdige Antworten – und das passiert gerade.
taz: Dieser vernichtende Krieg in Gaza dauert nun schon zwei Jahre an, mit geschätzten Zehntausenden – manche sprechen von Hunderttausenden – Todesopfern auf der palästinensischen Seite und etwa 2.000 Todesopfern auf der israelischen Seite. Noch immer sind 48 Geiseln im Gazastreifen, eine Person sogar aus Nahal Oz …
Tibon: Ja, mein Freund Omri.
taz: … und noch immer behauptet der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu, die primären Kriegsziele seien die Entmachtung der Hamas und die Befreiung der Geiseln. Wie bewerten Sie seinen Erfolg darin?
Tibon: Dass der Krieg seit zwei Jahren andauert, ist ein Versagen für sich. Die ursprüngliche nationale Sicherheitsstrategie Israels von David Ben-Gurion, dem Staatsgründer, war: kurze und entscheidende Kriege. Er glaubte daran, weil er verstand, dass die Welt Israel nicht bei zwei Jahre langen Kriegen auf dem Niveau unterstützen wird, das Israel braucht. Netanjahu zieht den Krieg aus politischen Gründen in die Länge. Zurzeit sehen wir aber nach vorne und nicht zurück: Es gibt einen guten Plan von US-Präsident Trump. Es könnte noch einige Änderungen geben, Hamas wird Teile davon verhandeln wollen. Aber insgesamt ist es ein guter Plan. Er sieht vor, den Krieg zu beenden, die Geiseln zurückzubringen, Nahrung sowie medizinische Versorgung zu den Menschen in Gaza zu bringen und den Wiederaufbau zu beginnen. Ich hoffe, dass alle die Gunst der Stunde nutzen und mitziehen. Wir müssen diesen Albtraum beenden, es kann so nicht weitergehen.
taz: Wie wird der Trump-Plan von Israelis bewertet, falls man das so verallgemeinern kann?
Tibon: Vor wenigen Tagen gab es eine Umfrage: 72 Prozent unterstützen ihn, 8 Prozent lehnen ihn ab. Doch diese 8 Prozent sind stark in der Regierung vertreten.
taz: Welche Leute sind das?
Tibon: Smotrich, Ben Gvir …
taz: Die Hardliner.
Tibon: Sie müssen auch bedenken: Umfragen zeigen gleichbleibend, dass 60 Prozent der Israelis Netanjahus Rücktritt wollen.
taz: Das erklärte Ziel von Hamas war vielleicht kein endlos langer Krieg, aber ein Krieg von solchem Ausmaß, dass Israel international isoliert wird.
Tibon: In dieser Hinsicht hatten sie Erfolg.
taz: Inwiefern?
Tibon: Aus Sicht der Bevölkerung von Gaza hat die Hamas ihnen eine totale Katastrophe beschert. Doch das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung kümmert die Hamas nicht. Sie sehen es so, dass sie den bislang größten und tödlichsten Akt des Terrorismus gegenüber Israel verübt haben. Und sie haben es geschafft, dass Israel im Laufe dieses Krieges international isoliert und geächtet wird. Aber sie haben überlebt. Sie haben viele ihrer Führungspersonen verloren und sind heute wesentlich geschwächt, aber sie werden überleben, um an einem anderen Tag weiterzukämpfen. Das interessiert sie am meisten.
taz: Also hat Hamas auf eine Art gewonnen?
Tibon: Es ist lächerlich, wenn sie das nun als Sieg bezeichnen. Sprechen Sie mit den einfachen Leuten in Gaza, die so viel in den vergangenen zwei Jahren verloren haben – das ist kein Sieg, das ist ein Desaster.
taz: Infolge der Zerstörung Gazas haben mehrere weitere Staaten – darunter Frankreich, Großbritannien, Kanada und Australien – sich bereit erklärt, einen palästinensischen Staat anzuerkennen. Hat der Angriff vom 7. Oktober Hamas diesem Ziel näher gebracht, wenn es überhaupt ein Ziel war?
Tibon: Nein, und Hamas will auch keinen palästinensischen Staat.
taz: Nein?
Tibon: Hamas will eine Ein-Staaten-Realität. Das Problem der palästinensischen Eigenstaatlichkeit ist kompliziert. Die internationale Anerkennung eines palästinensischen Staats ist sehr symbolisch. Sie bedeutet nicht viel für Palästinenser, die in Ramallah oder Hebron (zwei größere Städte unter Verwaltung der palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland, Anm. d. I.) leben.
taz: Inwiefern hat der Krieg in Gaza der israelischen Gesellschaft geschadet? Es gibt Berichte über hohe Suizidraten unter IDF-Soldaten …
Tibon: Es gibt einen riesigen Anstieg von posttraumatischen Belastungsstörungen, von Extremismus und allgemein einem sehr ungesunden Dialog im Land. Und das Problem der Geiseln bleibt. All das ist nicht gut, und noch mal: Dieses Land ist nicht dafür gemacht, lange Kriege zu führen. Das dauert jetzt zwei Jahre und ist schlecht für die israelische Wirtschaft, die israelische Gesellschaft und lenkt ab von einer Menge Problemen, die gelöst werden müssen. Deswegen hoffe ich, dass es endet.
taz: Wird Netanjahus Regierung mit dem Krieg enden?
Tibon: Ich hoffe es, denn er ist verantwortlich für das, was passiert ist, und er ist nicht der Richtige, um die Genesung anzuführen.
taz: Wenn ich heute nach Nahal Oz fahren würde, was würde ich da sehen?
Tibon: Sie würden sehen, dass 35 Prozent der Bevölkerung bereits zurückgekehrt sind und rund 70 Prozent der Gebäude wieder aufgebaut wurden.
taz: Werden Sie nach Nahal Oz zurückkehren?
Tibon: Um dort zu leben? Aktuell nicht. Wir warten, bis es vorbei ist.
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