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Kein Russisch mehr an estnischen SchulenBilingual wäre besser

Eva Fischer

Kommentar von

Eva Fischer

Nur noch Estnisch in den Schulen? Das nützt der Integration der russischen Minderheit und der europäischen Sicherheit. Aber es gibt einen Haken.

9. Mai 2023: Im estnischen Narva blicken drei Frauen über den gleichnamigen Grenzfluss auf eine Konzertbühne in Russland Foto: Jannis Laizans/reuters

D ie estnische Grenzstadt Narva ist die russischste Stadt der EU. Rund 95 Prozent der Ein­woh­ne­r:in­nen der drittgrößten Stadt Estlands sind russischsprachig; Estnisch beherrschen die meisten von ihnen nicht. Und viele von ihnen haben auch keinen estnischen Pass: Zwei Drittel haben den russischen – oder einen grauen: den Pass für Staatenlose.

Für die russische Minderheit in Estland, die ein Viertel der estnischen Bevölkerung ausmacht, im Osten des Landes sogar 90 Prozent, ist es schwierig, die estnische Staatsangehörigkeit zu erhalten. Dafür müssen sie Estnisch sprechen, eine Sprache, die mit Finnisch verwandt ist, eine der am schwierigsten zu erlernenden Sprachen der Welt. Da die Russischstämmigen im Osten im Alltag Estnisch nicht verwenden, ist es unmöglich für sie, die Sprache gut zu beherrschen.

Die Folge sind geringere Bildungschancen und alle sozioökonomischen Nachteile, die damit einhergehen. Das treibt sie in die Isolation und zu den russischsprachigen Staatsmedien – nicht umsonst gilt Narva als möglicher Ausgangspunkt für einen russischen Angriff auf die Nato. Die Sprachreform in Estland, wonach bis 2030 in den Schulen nur noch auf Estnisch unterrichtet werden soll, scheint dementsprechend nicht nur eine sinnvolle Integrations-, sondern auch eine sehr notwendige Sicherheitsmaßnahme zu sein.

Allerdings: Niemandem sollte es verboten werden, in seiner Muttersprache sprechen und lernen zu dürfen. Denn Muttersprache ist Denken, Muttersprache ist Sicherheit und ein Zuhause, Muttersprache ist das tiefste eigene Sein. Es widerspricht zudem dem Wert der EU, Minderheitenrechte explizit zu schützen. Die Sprachreform schießt somit über das Ziel hinaus, ist in ihrem Kern dennoch sicherheitspolitisch nötig, damit es innerhalb der EU keine komplett von Putin gesteuerte russische Parallelgesellschaft gibt.

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Nur wären bilinguale Schulen, in denen in beiden Sprachen unterrichtet wird, die bessere Wahl. Das würde die Ausgrenzung beenden, Putins Einfluss begrenzen, aber den ethnischen Rus­s:in­nen nicht ihre Sprache nehmen.

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Eva Fischer
Chefin vom Dienst
Jahrgang 1989; seit Anfang 2025 bei der taz, derzeit als Nachrichtenchefin und Chefin vom Dienst bei taz.de. Vorherige Stationen: u.a. EU-Korrespondentin in Brüssel beim Handelsblatt, Redakteurin für Internationale Politik beim Tagesspiegel, Redakteurin bei der ZDF-Talkshow "Markus Lanz". Wirtschaftspsychologie-Studium mit Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie und dem Nebenfach Politikwissenschaft, Besuch der Holtzbrinck-Journalistenschule, gelernte Medienkauffrau Digital und Print beim Spiegel-Verlag.
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5 Kommentare

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  • "Niemandem sollte es verboten werden, in seiner Muttersprache sprechen und lernen zu dürfen."

    Aber wem in Estland wird das denn jetzt in welcher Art und Weise verboten?

  • Ich bin anderer Meinung, es geht um die offizielle (Amts-)sprache, hier mit einer Übergangsfrist eine für alle verbindliche Sprache (Estnisch) einzuführen ist sinnvoll und notwendig.



    Die russischstämmigen Einwohner müssen sich integrieren und die Sprache lernen, offensichtlich gab es hierzu bis dato keine Notwendigkeit.



    Gleichzeitig sollte Estland den integrationswilligen Russen die Möglichkeit eröffnen, die Staatsangehörigkeit zu erwerben. Vor allem wenn die Minderheit an manchen Orten zur Mehrheit wird gibt es Probleme, kann man an manchen erdogantreuen, sturzkonservativen Deutschtürken sehen. Spätestens die nächsten Generationen sollten Estnisch aufwachsen. Russisch sprechen darf man Privat natürlich noch, so wie keinem Türken verwehrt ist, zu Hause Türkisch zu sprechen.



    Bilingualität würde hier die Integration erschweren und wäre immer ein Hebel für Putin oder seine Nachfolger, Zwietracht und Kriegsanlässe zu konstruieren.

  • Vielleicht könnten wir Deutschen mal aufhören, ständig anderen Ländern zu sagen, wie sie sch anders verhalten sollen.

  • "...ist es schwierig, die estnische Staatsangehörigkeit zu erhalten. "

    So schwierig dann auch wieder nicht, denn weit über die Hälfte der "Russen" hat die Staatsbürgerschaft schon längst.

    Dass man 35 Jahre, nachdem man vom Herrenvolk zur Minderheit geworden ist, Estnisch gelernt hat, ist nun wirklich nicht zu viel erwartet. Umgekehrt mussten die Esten ja auch Russisch lernen und sprechen - und das in ihrem eigenen Land. Die Russen dagegen sind illegal von der Besatzungsmacht angesiedelte Zivilisten, die man nach der Befreiung rein rechtlich auch hätte abschieben können. Ist es zu viel verlangt, sich dem Land, dass einem dennoch Aufnahme (und damit den Zugang zum Westen!) gewährt hat, durch Erwerb von Grundkenntnissen des Estnischen erkenntlich zu zeigen?

    • @Suryo:

      Danke, das ist mir auch echt sauer aufgestoßen.



      Es ist mitnichten so, das die russische Minderheit keine Chance auf integration hätte, sie wollen es in vielen Fällen einfach nicht. Jetzt wird das etwas unbequemer und sofort wird dort eine Art Unterdrückung unterstellt.



      Sie weisen auch zurecht auf die Ursache hin, warum es überhaupt so eine große russischsprachige Minderheit im Land gibt, nämlich der "Landnahme durch vollendete Tatasachen", wie sie die Sovjetunion gerne und viel betrieb.



      Wer nach dem Zusammenbruch der SU nicht Este werden wollte, hätte auch nach Russland ziehen können.



      Wollte man aus vermutlich ökonomischen Gründen nicht, besteht aber trotzdem weiter auf dem eigenen Sonderstatus.