6. Jahrestag des Halle-Anschlags: „Deutschland hat uns im Stich gelassen“
Unsere Autorin überlebte vor sechs Jahren den rechten Terroranschlag in Halle. Die deutschen Behörden nähmen sie und andere Betroffene nicht ernst.

Wer Heilung sucht, braucht Stabilität. Wer erfolgreich Therapie machen will, braucht finanzielle Sicherheit. Die staatlichen Stellen und Behörden gaben mir nichts davon. Ich bin eine der Überlebenden des antisemitischen und rassistischen Anschlags in Halle und Wiedersdorf am 9. Oktober 2019. Die Jahre danach waren für mich (re)traumatisierend, erniedrigend und entwürdigend. Und damit bin ich nicht allein.
Einige Wochen nach dem Attentat, als das öffentliche Interesse für die Überlebenden bereits abgeebbt war, erhielt ich einen Standardbrief der Polizei Halle (Saale). Beigelegt war eine Broschüre der Opferhilfestelle Weißer Ring. Frisch traumatisiert fehlte mir jedoch die Kraft, mich selbst an die Opferhilfe zu wenden und Anträge auszufüllen.
Kurz nach Jom Kippur 5780 (nach dem jüdischen Kalender, d. Red.) kehrte ich zudem nach Paris zurück, wo ich an meiner Doktorarbeit arbeitete. Dort suchte ich mir eine Therapeutin, um nicht an den Symptomen der akuten posttraumatischen Belastungsstörung zu zerbrechen. Ich wollte ins Leben zurückfinden, nicht im Trauma versinken. Erst einmal auf eigene Kosten.
Für die Rückerstattung der sogenannten Heil- und Behandlungskosten nach einem Anschlag ist das jeweilige Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) zuständig, bei mir das LaGeSo Berlin. Meinen Antrag stellte ich ein Jahr nach dem Attentat, kurz vor dem 9. Oktober 2020, mitten im Prozess gegen den Täter. Die Mobile Opferberatung Halle (Saale) (MOB) half mir dabei. Allein hätte ich die Flut an Formularen und Dokumenten nicht bewältigt.
Antisemitischer Anschlag Vor sechs Jahren, am 9. Oktober 2019, versuchte ein Rechtsextremist, die Synagoge in Halle (Saale) in Sachsen-Anhalt zu stürmen, wo die Gemeinde gerade den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur beging. Der Attentäter scheiterte an der Eingangstür und erschoss daraufhin die Passantin Jana L. und im nahe gelegenen „Kiezdöner“ den Gast Kevin S. Auf seiner Flucht verletzte er weitere Menschen teils schwer.
Offizielles und alternatives Gedenken Am Montag um 12 Uhr gedenken in Halle Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU), Bürgermeister Egbert Geier (SPD) und der Bundesopferbeauftragte Roland Weber der Opfer des Anschlags. Um 16 Uhr findet vor dem Tekiez, dem Begegnungsort im ehemaliegen „Kiez-Döner“, ein selbstbestimmtes, solidarisches Gedenken statt. In Berlin ruft die „Initiative Antisemitismus und Rassismus zusammen bekämpfen“ um 17.30 Uhr auf dem Oranienplatz zu einer Kundgebung auf, bei der Betroffenenbündnisse verschiedener rechter Anschläge gemeinsam erinnern wollen. Auch Christina Feist wird dort sprechen. (taz)
Nach der Antragstellung hörte ich ein Jahr lang nichts vom LaGeSo Berlin. In dieser Zeit musste ich die Kosten meiner Traumatherapie selbst tragen – eine erhebliche finanzielle Belastung. Doch ohne Therapie ging es nicht weiter. Ich war – und bin – auf die Unterstützung meiner Therapeutin angewiesen.
Der Arzt sagte: Ich solle einfach mal nach draußen gehen
Ende 2021 kam ein Brief vom LaGeSo: eine Vorladung zur Begutachtung beim Amtsarzt in Berlin. Trotz Pandemie, trotz der Unbestreitbarkeit meines Traumas und trotz eines Gutachtens meiner Therapeutin. Die Reisekosten für den Termin im Mai 2022 musste ich selbst tragen.
Die Begutachtung dauerte fünf Stunden – ohne Pause, ohne Wasser, ohne Essen. Der Amtsarzt begann damit, mir ungefragt seine Einschätzung der Psyche des Täters mitzuteilen, den er nie getroffen hatte. Danach stellte er mir einige Fragen zu meinen Symptomen, kritisierte die Behandlungsmethoden meiner Therapeutin, empfahl mir Psychopharmaka – inklusive Namen des Präparats und Dosierung – und belehrte mich, Sport sei die beste Medizin gegen Depressionen. Ich solle einfach mal nach draußen gehen.
Dann schilderte er mir die traumatischen Erlebnisse anderer Menschen, die er begutachtet hatte, und ließ dabei keine Details aus. Blutige Mordversuche, Vergewaltigungen – seine Erzählungen lösten in mir neue Schreckensbilder aus, die sich mit den Erinnerungen an den Anschlag vermischten. In mir schrie alles. Aber es gab keinen Ausweg. Finanziell konnte ich es mir einfach nicht leisten, diesen Arzt in die Schranken zu weisen und damit die Rückerstattung meiner Therapiekosten zu riskieren. Also schwieg ich und blieb sitzen.
Die Begutachtung am LaGeSo hinterließ deutliche Spuren. Zurück in meiner Pariser Wohnung wachte ich am nächsten Tag mit starken Rückenschmerzen auf. Mein Ischiasnerv war eingeklemmt, der Schmerz strahlte über meine gesamte linke Körperhälfte von der Zehe bis in den Nacken. Es dauerte Monate, bis ich mich dank Akupunktur und Physiotherapie wieder halbwegs schmerzfrei bewegen konnte. Die Mehrkosten für diese Behandlung musste ich selbst tragen.
Rückerstattung nach 26 Monaten Bearbeitungszeit
Als das Gutachten des Amtsarztes einige Monate später da war, wies es deutliche inhaltliche Fehler auf. Doch ich konnte mir keine weiteren Verzögerungen leisten. Nach zwei Jahren, in denen ich die Therapiekosten selbst getragen hatte, war ich auf eine schnelle Rückerstattung angewiesen. Also ließ ich das Gutachten unangefochten. Die tatsächliche Rückerstattung der beantragten Behandlungskosten erfolgte im Dezember 2022, nach einer Bearbeitungszeit von insgesamt 26 Monaten.
Im Februar 2023 musste ich einen neuen Antrag auf Rückerstattung der weiteren Behandlungskosten stellen, obwohl sich weder am Behandlungsgrund (Attentat) noch am Therapiebedarf (fortlaufend) etwas geändert hatte. Diesmal lag die Bearbeitungszeit bei insgesamt 9 Monaten und erforderte erneut monatelanges Hinterhertelefonieren seitens der Mobilen Beratung.
Nach sieben Monaten hatte der ärztliche Dienst meinen Antrag noch nicht einmal gesichtet. Der Referatsleiter argumentierte, ich hätte meine Therapie ohne die neue Bewilligung nicht fortsetzen dürfen. Tatsächlich hätte ich, ginge es nach dem LaGeSo, meine Therapie überhaupt erst nach der ersten Bewilligung beginnen dürfen – also drei Jahre nach dem Attentat.
Das LaGeSo teilte mir dann schließlich mit, dass meine Therapiekosten nur noch bis Ende 2023 erstattet würden – und auch nur ein Bruchteil der tatsächlichen Kosten. Der ärztliche Dienst hatte eine Therapie über dieses Maß hinaus „hinsichtlich der Behandlung der Schädigungsfolgen“ für „nicht sinnvoll“ befunden.
Nach dieser finalen Ablehnung stellte ich Anfang November 2024 einen Antrag auf Entschädigung beim Opferhilfefonds Sachsen-Anhalt, der einen Monat zuvor endlich eingerichtet worden war und eine rückwirkende Antragstellung bis zum 1. Oktober 2019 ermöglichen sollte.
Fünf Jahre nach dem Anschlag schien das Land bereit, zumindest ein Mindestmaß an Verantwortung zu übernehmen. Im März 2025 wurde mir ein Drittel der bei „schweren Körper- und Gesundheitsschäden mit langfristigen oder dauerhaften Folgen“ vorgesehenen Pauschalzahlung zugesprochen. Das sind 1.000 Euro.
Koschere Verpflegung war erst nicht erlaubt
Um uns, die Überlebenden, müsse man sich nicht kümmern – dieses Gefühl wurde mir immer wieder vermittelt, auch während des Prozesses gegen den Täter. Dass wir Nebenkläger*innen beim Gerichtsprozess unsere eigene, koschere Verpflegung mitbringen durften, mussten wir erst durchsetzen.
Das zuständige Ministerium hielt İsmet Tekin und seinen Bruder, die Besitzer des ehemaligen Kiez-Döners, monatelang mit Versprechen auf finanzielle Unterstützung hin. Die beiden hatten nicht nur mit dem Trauma des Attentats zu kämpfen, sondern auch ihren Arbeitsplatz verloren. Am Ende initiierte ich zusammen mit der Jüdischen Studierendenunion einen Fundraiser, es kamen über 20.000 Euro zusammen.
All das ist symptomatisch. Immer wieder wurden wir unterstützt, aber nicht vom System, sondern von unseren Anwält*innen, der Mobilen Opferberatung Halle (Saale) und Freiwilligen – und zwar bis weit über den Prozess hinaus. Dass es kurz nach Prozessbeginn eine eigens berufene Opferbeauftragte des Landes Sachsen-Anhalt gab, die laut Website für „Betroffene und deren Angehörige in Fällen von Terrorismus“ zuständig ist, habe ich erst nach Prozessende erfahren.
Im vergangenen Winter, nach über fünf Jahren Anstrengung, Erniedrigung, Entwürdigung und finanzieller Existenznot infolge des Attentats und des Umgangs deutscher Behörden mit mir als Überlebender, wurde es um mich herum schließlich so dunkel, dass ich über Monate hinweg mit Suizidgedanken kämpfte. Ich war nicht sicher, ob ich überhaupt noch weiter machen kann.
Ich bin nicht allein mit der Erfahrung, von den Behörden allein gelassen zu werden. In Gesprächen mit Überlebenden anderer rechtsterroristischer Attentate, wie dem Oktoberfestattentat 1980, dem Attentat auf das Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München 2016 oder des Anschlags in Hanau 2020, erfuhr ich, dass Betroffene rechter Gewalt bereits seit Jahrzehnten Ähnliches durchmachen. Und das nicht nur in Berlin, sondern in ganz Deutschland.
Immer wieder werden Betroffene (re)traumatisiert, zu Bittsteller*innen degradiert und hingehalten. Damit stellen sich die Behörden einer effizienten, effektiven und erfolgreichen Behandlung nicht nur aktiv entgegen, sondern machen den Behandlungs- und Therapiebedarf von Überlebenden rechten Terrors durch diese Zusatzbelastungen sogar noch größer – ohne die dabei anfallenden Mehrkosten zu übernehmen.
Auch der Amtsarzt des LaGeSo fügt sich in dieses Muster. Er arbeitet dort wohl nicht mehr, Beschwerden gab es offenbar mehrere. Eine formelle Entschuldigung oder gar Entschädigung für den Schaden, den er verursacht hat, fehlt allerdings bis heute.
Dieser Unwille staatlicher Stellen, Verantwortung für das eigene Versagen zu übernehmen, sich auf Betroffene einzulassen, uns die Deutungshoheit über unser Trauma zu überlassen und uns das Recht auf Heilung zuzugestehen, sind Kontinuitäten, die Jahrzehnte zurück reichen. Wir sind Betroffene, Überlebende und Hinterbliebene rechten Terrors. Und Deutschland hat uns im Stich gelassen.
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