Konsequenzen aus dem Fall Gelbhaar: Grüne führen Rechtsstaat ein
Keine Unschuldsvermutung, keine Vertraulichkeit: Beim Umgang mit Belästigungsvorwürfen hatten die Grünen Probleme. Jetzt wollen sie ihre Satzung ändern.
Der Fall Stefan Gelbhaar war für die Grünen im Bundestagswahlkampf ein Desaster. Dem Abgeordneten wurden aus der Partei teils gravierende Fälle sexueller Belästigung vorgeworfen. Einige davon stellten sich später als erfunden heraus. Aber eine Ombudsstelle der Grünen, die die Vorwürfe vertraulich aufarbeiten sollte, hatte da längst in der Partei vor Gelbhaar gewarnt. Dazu kamen falsche Medienberichte. Im Ergebnis verlor der 49-Jährige sein Mandat.
Eine interne Kommission untersuchte den Vorgang später und kritisierte den Umgang der Partei mit Belästigungsvorwürfen: Die bisherigen Strukturen für solche Fälle, über Jahre wild gewachsen, hätten „erhebliche rechtsstaatliche Defizite“. Das soll sich jetzt ändern: Für den Parteitag im November schlägt der Bundesvorstand eine Satzungsänderung vor, die die Verfahren neu aufstellt. Nötig dafür ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit.
Der Vorschlag fußt auf den Ergebnissen einer weiteren internen Arbeitsgruppe, die in den letzten Monaten über eine Reform beriet. Er liegt der taz vor. Angelehnt ist er in zentralen Punkten an das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das seit knapp 20 Jahren für Unternehmen und ähnliche Einrichtungen gilt.
So ist aus dem Gesetz weitestgehend die recht sperrige Definition von „sexueller Belästigung“ übernommen. „Dies garantiert Rechtssicherheit und ermöglicht vergleichsweises Heranziehen geltender Rechtssprechung“, heißt es zur Begründung. Außerdem sei die Definition sinnvoll, weil sie auch „strafrechtlich nicht relevante Verhaltensweisen“ umfasse. Strafbare Fälle wollen die Grünen nicht selbst bearbeiten, sondern den Behörden überlassen.
Angelehnt an Empfehlungen der Antidiskriminierungsstelle wollen die Grünen außerdem ein Säulen-Modell einführen. Es sieht drei zuständige Stellen vor.
Erst zuhören, dann schlichten
Die ersten beiden, Anlauf- und Beschwerdestellen, sollen auf Bundes- und Landesebenen neu eingesetzt werden. Sie sind relativ niedrigschwellig ausgerichtet. Wie sie genau arbeiten, soll später in einem eigenen Statut ausformuliert werden. Ein Kleiner Parteitag soll dieses 2026 mit einfacher Mehrheit verabschieden.
Grundsätzliche Pläne gibt es aber schon jetzt: Die Anlaufstellen sollen Betroffenen sexueller Belästigung als Beistand dienen: zuhören, externe Hilfe vermitteln, zu möglichen innerparteilichen Schritten beraten. Auch Hinweisgeber*innen, die nicht selbst betroffen sind, können sich dort melden. Anders als bei den bisherigen Ombudsstellen sollen anonyme Beschwerden nicht mehr möglich sein. Vertraulich soll es aber bleiben – beziehungsweise werden: Anders als im Fall Gelbhaar geschehen sollen aus den Anlaufstellen keine Infos an Parteivorstände gehen.
Vertraulichkeit gilt grundsätzlich auch für die separaten Beschwerdestellen. Wer sich dort hin wendet, kann gewissermaßen ein Schlichtungsverfahren einleiten. Dabei werden auch die Beschuldigten konfrontiert. Neu ist: Sie sollen das Recht bekommen, die konkrete Vorwürfe zu erfahren und dazu Stellung zu nehmen. Die Verfahren sollen „unvoreingenommen und auf Grundlache sachlicher Kriterien“ ablaufen.
Steht Aussage gegen Aussage, sollen die Beschwerdestellen nicht ermitteln. Ziel auf dieser Ebene ist es, einen Konsens zwischen den Beteiligten zu finden. Beschuldigte könnten also freiwillig Konsequenzen tragen.
Im Zweifel vor das Schiedsgericht
Für Streitfälle sind dagegen als dritte Säule die bestehenden Schiedsgerichte der Partei vorgehen. Zu Sanktionen, etwa der Enthebung von Parteiämtern, sind nur sie befugt – das soll in der Satzung explizit klargestellt werden. Schiedsgerichte arbeiten schon jetzt nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, die das Parteiengesetz vorgibt. Es können nur bewiesene Vorwürfe bestraft werden. Vertraulich sind diese Gerichte aber nicht: Was hier passiert (und auch, wer als mutmaßlicher Betroffener so ein Verfahren anstrengt), wird in der Partei zwangsläufig bekannt.
„Wir dulden keine sexuelle Belästigung – Punkt. Wir wollen eine Partei, in der Menschen sich sicher fühlen können, in der Respekt und Wertschätzung selbstverständlich sind“, sagte Pegah Edalatian, Politische Geschäftsführerin der Grünen, der taz. Darum schaffe man „klare Verfahren und unabhängige Strukturen“.
Ausschlaggebend sei für die Grünen die Präventionsarbeit. „Deshalb führen wir eine*n Beauftragte*n gegen sexuelle Belästigung ein, die in der Partei aufklären und Qualitätssicherung leisten soll und die jetzt gebildeten Strukturen evaluieren und verbessern wird“, so Edalatian weiter.
Diese Position soll ebenfalls in der Satzung verankert werden. Anders als die bisherigen Ombudsleute soll die Person auf zwei Jahre befristet ernannt und von einem Parteitag bestätigt werden.
Prinzipien „in Einklang“
Parteichefin Franziska Brantner sagte der taz: „Wir klären strukturelle Fragen, stärken die Legitimität künftiger Verfahren und bringen Ordnung in Prozesse, die lange aufgeschoben wurden.“ Ein besonderes Anliegen sei es gewesen, „den Schutz von meldenden Personen und rechtsstaatliche Verfahren in Einklang zu bringen“. Der jetzige Entwurf stehe sowohl für Rechtsstaatlichkeit als auch für Frauenrechte.
Unabhängig davon gab es schon am Mittwoch Neuigkeiten von Stefan Gelbhaar, dessen Fall die Debatte um die reformbedürftigen Strukturen überhaupt erst ausgelöst hatte. Der Berliner, wegen einiger noch nicht ausgeräumter Vorwürfe in der Partei weiterhin umstritten, arbeitet an einem Comeback. In seinem Kreisverband Pankow, der ihn im Januar fallen ließ, bewirbt er sich um eine Kandidatur für das Abgeordnetenhaus im nächsten Jahr.
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